Folgende kleine Geschichte habe ich nach einer längeren Schreibblockade geschrieben, um mir selber darüber bewusst zu werden, warum ich eigentlich Schreibe. Warum ich nicht aufhören kann, mir Geschichten und Begebenheiten auszudenken und warum ich mich so "komisch" fühle, wenn ich einen Hirnknoten habe
Natürlich nehme ich für mich nicht in Anspruch, das Patentrezept für geschriebene Emotionen zu kennen. Mit geschriebenen Worten Emotionen beim Leser zu wecken, ist viel mehr das Ziel, das ich anstrebe ...
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In Gedanken versunken strich sie über den Einband des Buches, welches ihr der nette ältere Herr gerade gereicht hatte. Ein schönes Buch, stellte sie stumm fest, ohne auch nur eine Seite gelesen zu haben. Allein der Einband bestach durch Schönheit.
Sie kauerte sich auf den Boden vor dem großen Bücherregal, welches endlos in die Höhe zu ragen schien und strich erneut über den Deckel. Dann öffnete sie es langsam, las die ersten Zeilen.
Für Pia - die immer alles richtig machen will.
Leise und zischend sog sie Luft in ihre Lungen, schüttelte lächelnd den Kopf und blätterte die Seite um.
Sie blätterte die Seite um und erstarrte. Ihr Blick glitt hektisch über die ersten Zeilen, die ihr genau das verrieten, was sie in diesem Moment tat. Ein, zweimal zwinkerte sie kurz, um sich bewusst zu werden, dass sie dies hier gerade nicht träumte. Dann las sie die ersten Sätze noch einmal, bis sie erneut an dieser Stelle angelangte. Sie wollte begreifen, verstehen und das richtige tun. So wie sie es immer wollte. Doch sie musste erkennen, dass ihr auch dieses Buch nicht verraten würde, was das richtige war.
Was hätte sie wohl getan, wenn sie es erfahren hätte? Aus diesem Buch, diesen Zeilen, diesen Wörtern? Hätte die Suche dann wirklich ein Ende gehabt? Wäre der nächste Schritt nicht gewesen, sich zu fragen, warum es so war? Wäre der nächste Schritt nicht wieder eine Suche gewesen? Sie wusste es nicht.
Die Zeichen tanzten vor ihren Augen, bildeten die Sonne, den Mond, die Sterne. Schäfchenwolken, über die sie so gerne und lange schrieb. Schäfchenwolken, die in ihren Augen symbolisierten, was den Menschen ausmacht. Das bitterliche und schmerzhafte Weinen. Die Tränen, die jedem im Leben einmal brennend über das Gesicht streichen. Die hysterischen und gelösten Lachanfälle, die jedem im Leben einmal Bauchschmerzen bescheren.
Woher kamen die Worte, mit denen sie ihre Geschichten schrieb? Die Worte, die Gefühle in Silben packte und sie dennoch so lebendig machen konnte, dass sie diese selbst beim Schreiben empfinden konnte.
Noch einmal seufzte sie schwer, strich sich mit einer Hand eine Haarsträhne hinter die Ohren und ließ sie anschließen über ihre Augen fahren.
Es gab keine Antwort. Es würde nie eine geben.
Dieser Drang, dieser unbändige und nicht stillbare Wunsch zu schreiben war ihr eben gegeben. Ob es gut oder schlecht war, war dabei unwichtig. Und eben dies erkannte sie in dieser Sekunde, in diesem Moment, in dem ihr die Zeilen dies verrieten.
Zögerlich schloss sie das Buch wieder …
Leise lachend strich sie ein letztes Mal über den Buchrücken, bevor sie sich vom Boden erhob. Der alte weißhaarige Mann stand lächelnd neben ihr und streckte die Hand nach dem Buch aus. Sie legte es zurück in seine Hände und seufzte erneut.
“Hast Du deine Antwort gefunden?”
“Ja und nein. Die Antwort ist wohl, dass es keine gibt.”
Der Mann nickte, schob das Buch wieder in die Reihe anderer Bücher, die unter dem Buchstaben P abgelegt waren und deutete ihr, ihm zu folgen.
Am Ausgang angelangt warf sie noch einen wehmütigen Blick zurück, verharrte kurz und schien darüber nachzudenken, ob sie noch eine letzte Frage riskieren konnte.
“Frag nur.”
“Wenn dieses Buch mein Leben beinhaltet. Wenn dieses Buch heute schon weiß, was ich morgen tun werde. Wieso kann es mir dann keine genaueren Antworten geben?”
“Weil auch das Buch nicht weiß, wie du in einer Minute denken und handeln wirst. Oder Morgen. Oder in einem Jahr. Weil es im Leben kein Falsch und kein Richtig gibt. Nur unterschiedliche Blickwinkel.”
Sie nickte schwach und sah abwesend vor sich auf den Boden. Kein Richtig. Kein Falsch. Nur Blickwinkel.
Lächelnd sah sie schließlich wieder auf.
“Werde ich es irgendwann ganz lesen können?”
“Erst, wenn Dein Leben geendet hat. Aber dann wirst du es nicht mehr brauchen. Dann kennst du jede Seite deines Buches auswendig, kannst deine Geschichte selber erzählen. Bis dahin solltest du tun, was du ohnehin tun würdest. Schreibe all das auf, was du mit anderen teilen möchtest. Lass sie teilhaben, an deiner Geschichte, an deinem Leben. Zeig ihnen ein paar Seiten aus deinem Buch.”
Als er die Tür aufstieß empfing sie ein eisiger Wind und schützend zog sie ihren Schal enger um ihren Hals.
“Die Menschen haben das Gespür für Gefühle verloren. Echte Gefühle.”, flüsterte sie leise vor sich in den Wind, sah noch einmal über die Schulter und grinste dem alten weißhaarigen Mann zu.
“Dann solltest du ihnen dieses Gespür versuchen wieder zu geben.”
“Ja, das sollte ich wohl.”
Die Tür schloss sich hinter ihr. Den ersten Schritt tat sie noch zögerlich, dann rannte sie los, haltlos. Um endlich wieder schreiben zu können. Um endlich ein Stück aus ihrem Buch, ihrem Leben erzählen zu können. Ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf, der sie laut auflachen ließ.
“Fräulein Pias Gespür für Gefühle …”
Manchmal halt.