Manchmal halt.

  • Folgende kleine Geschichte habe ich nach einer längeren Schreibblockade geschrieben, um mir selber darüber bewusst zu werden, warum ich eigentlich Schreibe. Warum ich nicht aufhören kann, mir Geschichten und Begebenheiten auszudenken und warum ich mich so "komisch" fühle, wenn ich einen Hirnknoten habe ;)


    Natürlich nehme ich für mich nicht in Anspruch, das Patentrezept für geschriebene Emotionen zu kennen. Mit geschriebenen Worten Emotionen beim Leser zu wecken, ist viel mehr das Ziel, das ich anstrebe ... ;)
    ____________________________________________________


    In Gedanken versunken strich sie über den Einband des Buches, welches ihr der nette ältere Herr gerade gereicht hatte. Ein schönes Buch, stellte sie stumm fest, ohne auch nur eine Seite gelesen zu haben. Allein der Einband bestach durch Schönheit.
    Sie kauerte sich auf den Boden vor dem großen Bücherregal, welches endlos in die Höhe zu ragen schien und strich erneut über den Deckel. Dann öffnete sie es langsam, las die ersten Zeilen.


    Für Pia - die immer alles richtig machen will.


    Leise und zischend sog sie Luft in ihre Lungen, schüttelte lächelnd den Kopf und blätterte die Seite um.


    Sie blätterte die Seite um und erstarrte. Ihr Blick glitt hektisch über die ersten Zeilen, die ihr genau das verrieten, was sie in diesem Moment tat. Ein, zweimal zwinkerte sie kurz, um sich bewusst zu werden, dass sie dies hier gerade nicht träumte. Dann las sie die ersten Sätze noch einmal, bis sie erneut an dieser Stelle angelangte. Sie wollte begreifen, verstehen und das richtige tun. So wie sie es immer wollte. Doch sie musste erkennen, dass ihr auch dieses Buch nicht verraten würde, was das richtige war.
    Was hätte sie wohl getan, wenn sie es erfahren hätte? Aus diesem Buch, diesen Zeilen, diesen Wörtern? Hätte die Suche dann wirklich ein Ende gehabt? Wäre der nächste Schritt nicht gewesen, sich zu fragen, warum es so war? Wäre der nächste Schritt nicht wieder eine Suche gewesen? Sie wusste es nicht.
    Die Zeichen tanzten vor ihren Augen, bildeten die Sonne, den Mond, die Sterne. Schäfchenwolken, über die sie so gerne und lange schrieb. Schäfchenwolken, die in ihren Augen symbolisierten, was den Menschen ausmacht. Das bitterliche und schmerzhafte Weinen. Die Tränen, die jedem im Leben einmal brennend über das Gesicht streichen. Die hysterischen und gelösten Lachanfälle, die jedem im Leben einmal Bauchschmerzen bescheren.
    Woher kamen die Worte, mit denen sie ihre Geschichten schrieb? Die Worte, die Gefühle in Silben packte und sie dennoch so lebendig machen konnte, dass sie diese selbst beim Schreiben empfinden konnte.
    Noch einmal seufzte sie schwer, strich sich mit einer Hand eine Haarsträhne hinter die Ohren und ließ sie anschließen über ihre Augen fahren.
    Es gab keine Antwort. Es würde nie eine geben.
    Dieser Drang, dieser unbändige und nicht stillbare Wunsch zu schreiben war ihr eben gegeben. Ob es gut oder schlecht war, war dabei unwichtig. Und eben dies erkannte sie in dieser Sekunde, in diesem Moment, in dem ihr die Zeilen dies verrieten.
    Zögerlich schloss sie das Buch wieder …


    Leise lachend strich sie ein letztes Mal über den Buchrücken, bevor sie sich vom Boden erhob. Der alte weißhaarige Mann stand lächelnd neben ihr und streckte die Hand nach dem Buch aus. Sie legte es zurück in seine Hände und seufzte erneut.


    “Hast Du deine Antwort gefunden?”
    “Ja und nein. Die Antwort ist wohl, dass es keine gibt.”


    Der Mann nickte, schob das Buch wieder in die Reihe anderer Bücher, die unter dem Buchstaben P abgelegt waren und deutete ihr, ihm zu folgen.
    Am Ausgang angelangt warf sie noch einen wehmütigen Blick zurück, verharrte kurz und schien darüber nachzudenken, ob sie noch eine letzte Frage riskieren konnte.


    “Frag nur.”
    “Wenn dieses Buch mein Leben beinhaltet. Wenn dieses Buch heute schon weiß, was ich morgen tun werde. Wieso kann es mir dann keine genaueren Antworten geben?”
    “Weil auch das Buch nicht weiß, wie du in einer Minute denken und handeln wirst. Oder Morgen. Oder in einem Jahr. Weil es im Leben kein Falsch und kein Richtig gibt. Nur unterschiedliche Blickwinkel.”


    Sie nickte schwach und sah abwesend vor sich auf den Boden. Kein Richtig. Kein Falsch. Nur Blickwinkel.
    Lächelnd sah sie schließlich wieder auf.


    “Werde ich es irgendwann ganz lesen können?”
    “Erst, wenn Dein Leben geendet hat. Aber dann wirst du es nicht mehr brauchen. Dann kennst du jede Seite deines Buches auswendig, kannst deine Geschichte selber erzählen. Bis dahin solltest du tun, was du ohnehin tun würdest. Schreibe all das auf, was du mit anderen teilen möchtest. Lass sie teilhaben, an deiner Geschichte, an deinem Leben. Zeig ihnen ein paar Seiten aus deinem Buch.”


    Als er die Tür aufstieß empfing sie ein eisiger Wind und schützend zog sie ihren Schal enger um ihren Hals.


    “Die Menschen haben das Gespür für Gefühle verloren. Echte Gefühle.”, flüsterte sie leise vor sich in den Wind, sah noch einmal über die Schulter und grinste dem alten weißhaarigen Mann zu.
    “Dann solltest du ihnen dieses Gespür versuchen wieder zu geben.”
    “Ja, das sollte ich wohl.”


    Die Tür schloss sich hinter ihr. Den ersten Schritt tat sie noch zögerlich, dann rannte sie los, haltlos. Um endlich wieder schreiben zu können. Um endlich ein Stück aus ihrem Buch, ihrem Leben erzählen zu können. Ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf, der sie laut auflachen ließ.


    “Fräulein Pias Gespür für Gefühle …”


    Manchmal halt.

  • Hallo,
    deine Geschichte gefällt mir gut.
    Ein paar sprachliche Holperigkeiten könnten angestellt werden, z.B. Tränen rinnen übers Gesicht, aber sie streichen nicht übers Gesicht.
    Aber auch der literarische Einfall ist nicht schlecht.

  • Hallo Pia!


    Danke für diese authentische Geschichte und Deine Ehrlichkeit!
    Mir hat sie sehr gut gefallen! Gerade das >herumrätseln über Gefühle< und über die >Zukunft der Gefühle< sprechen mich sehr an!
    Ich wünschte, jeder hätte einmal die Gelegenheit ins sein Buch zu schauen.
    Auch hast Du mir wieder Mut zum weiterschreiben gegeben! :-)

  • Hallo Pia,


    wenn ich das so lese, denke ich mir, dein Buch MUSS ein Erfolg werden! :-)


    Grüßle,
    Judith

    Toni und Schnuffel / Tricks von Tante Trix / Papino und der Taschendieb / Das Dreierpack und der böse Wolf
    Tanz mit Spannung / ... und jetzt sehen mich alle! / Voll drauf / Die Kellerschnüffler u.a.

  • Zitat

    Original von Mini Mel
    Danke für diese authentische Geschichte und Deine Ehrlichkeit!
    Mir hat sie sehr gut gefallen! Gerade das >herumrätseln über Gefühle< und über die >Zukunft der Gefühle< sprechen mich sehr an!
    Ich wünschte, jeder hätte einmal die Gelegenheit ins sein Buch zu schauen.
    Auch hast Du mir wieder Mut zum weiterschreiben gegeben! :-)


    Vielen Dank liebe Mel. Besonders Dein letzter Satz ehrt mich sehr.


    Zitat

    Original von Judith
    wenn ich das so lese, denke ich mir, dein Buch MUSS ein Erfolg werden! smile


    Bitte keine Vorschusslorbeeren. Sowas bringt bestimmt Unglück ;)
    Dennoch Danke.

  • Die Geschichte ist in der Tat bewegend. Sie erinnert mich an viele anderen Geschichten, in denen der alte weise Mann auftritt. Allein wegen dieser Figur mag ich die Geschichte.
    Die Geschichte ist geprägt von einer sehr gut gewählten, einfachen aber sehr treffenden Sprache. Es wird sehr schön und flüssig erzählt. Der Einfall, im Buch des Lebens das eigene Denken und Erleben nachzulesen, ist richtig gelungen und ist für mich sehr gut nachvollziehbar geschrieben.


    Vom Sprachlichen habe ich lediglich eine Anfrage: Warum schreibst Du in der Vergangenheit? Ich weiss, das Präteritum ist die klassische Erzählzeitform. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass Deine Geschichte viel lebendiger wird, wenn Du in der Gegenwart schreibst. Durch die Vergangenheitsform wirkt alles so abgeschlossen, lang zurückliegend. Du Erzählst aber doch eine Begebenheit, die gerade geschieht, da du es schreibst und die wieder geschieht, wenn der Leser das liest...


    Ich finde den Text dennoch insgesamt vom handwerklichen sehr gelungen.


    Unabhängig davon würde ich inhaltlich an einer Stelle ganz deutlich widersprechen: Selbstverständlich gibt es im Leben ein Richtig und ein Falsch. Selbstverständlich gibt es Wahrheit. Und wenn es Wahrheit gibt, gibt es auch das Gegenteil. Ich finde es zu einfach und gegen sich selbst unehrlich, wenn wir uns hinter Blickwinkeln, Standpunkten, Deiner und meiner Wahrheit und wie die Verstecke für eine klare Positionierung auch immer heißen mögen, verstecken. Nach der Wahrheit ist zu suchen, sie ist zu erfragen und man kann sich ihr nur annähern. Und wer behauptet, er habe sie gefunden, gar gepachtet, dem, ist mit größter Skepsis zu begegnen.
    Aber ich wage dennoch zu sagen: Gegen Ausländer zu hetzen ist falsch. Die Anwendung Gewalt ist in den meisten Fällen auch falsch. Genauso kann eine Lebensentscheidung falsch oder richtig sein. (Ich frage mich gerade ernsthaft, was sie anders sein könne als zum jeweiligen Zeitpunkt falsch oder richtig - da gibt es nach meinem Dafürhalten keine Alternative). Und wenn es so ist, dass etwas falsch war, dann gilt es, dazu zu stehen, den Fehler als Fehler einzusehen und zu schauen, wie mans besser machen kann.
    Bei aller Toleranz, bei aller Achtung vor der Meinung anderer: Wir können uns nicht vor Entscheidungen drücken. Ich denke, es tut Not, dass wir deutlich Ja und Nein sagen, wenn es dran ist. Sonst laufen wir Gefahr, dass erst alles gleich gültig und bald alles gleichgültig ist.
    Ich denke, es ist auch niemandem damit geholfen, dass die Kategorien von Richtig und Falsch nicht mehr gelten sollen. Nicht nur Kinder bedürfen ihrer um sich irgendwie im Leben zu orientieren.

  • Wow, so eine ausführliche Auseinandersetzung mit meinem Text habe ich hier gar nicht erwartet. Dafür schon mal danke.


    Was die Zeit angeht, so habe ich diese Geschichte nach einer langen Schreibpause geschrieben. Meine Leser wunderten sich bereits, warum nichts Neues von mir kam (ich blogge täglich) und mit dieser Geschichte wollte ich die Gedankengänge der vergangenen Wochen zusammenfassen. Unterm Strich sollte dabei rüber kommen: ich hab mir Gedanken gemacht. Damit bin ich jetzt fertig und so sieht das Ergebnis aus. Daher ist die Geschichte im Imperfekt erzählt. Weil sie einen abgeschlossenen Prozess beschreibt.


    Inhaltlich ist das ganze natürlich mehr als diskussionswürdig. Ob es ein Richtig und ein Falsch gibt, würde ich nicht so klar sehen, wie Du es tust. Ein Mann, der seine Frau schlägt, hält das vielleicht für Richtig. Wir würden es für Falsch erachten. Es gibt also eine gesellschaftlich anerkannte Form von Falsch und Richtig, aber keine Gesetzmäßigkeit. Letztendlich deklariert jeder für sich, in seinem kleinen Egoversum (Ego-Universum) ein Richtig und Falsch.


    Liebe Grüße,
    Pia

  • Hallo Pia, ich denke, Deine Geschichte hat die gründliche Auseinandersetzung verdient!


    Von der Genese ist die Verwendung des Imperfekts nachvollziehbar, klar, aber die Genese lese ich ja nicht mit. Ich denke, die Geschichte könnte gewinnen...


    Inhaltlich höre ich in Deinem Beispiel deutlich heraus, dass es falsch ist, wenn ein Mann seine Frau schlägt. Ich sehe das genau so. Und ich frage mich, warum wir uns scheuen, das so zu formulieren. Ich denke tatsächlich es gibt ein Richtig und ein Falsch, auch wenn wir alle Menschen (!!) danach suchen. Das, was ich meine davon erkannt zu haben, dazu versuche ich aber zu stehen und das auch zu artikulieren. Vielleicht mache ich dabei auch einen Fehler, dann ist das so und hoffentlich hilft mir jemand dabei, das herauszufinden.
    Ich gebe zu, ich fürchte die vielen Egoversen. Ich fürchte den Individualismus. Ich fürchte mich davor, wenn wirklich nur noch gilt, was für den einzelnen gilt. Ich fürchte die damit verbundene Orientierungslosigkeit. Wir sind als Menschen zum Zusammenleben geboren. Wir können dem doch nicht ausweichen, sondern müssen uns darauf einlassen und uns auf der Suche nach der Wahrheit mühen und strecken und gemeinsam auf den Weg machen...
    Ich stelle mir gerade ein Orchester vor, jeder Musiker hat seine Auffassung von Beethovens Neunter...
    Oder eine Fußballmannschaft...
    Eine Feuerwehrtruppe...
    ...
    Das sind Beispiele, aber ich denke, man merkt es grade auch Dörfern an: Wenn da gemeinsames gilt, wenn sich jeder in die Gemeinschaft einbringt und eben nicht das Egoversum vorgehen läßt, bringt das die Dörfer voran, dann entsteht Leben im Ort...


    Nun muss ich aufhören, denn es ist weit off toppic und hier auch nicht der Ort für eine Predigt ...
    Grüße
    Licht