Jose Saramago: Die Stadt der Blinden

  • Den Film habe ich nicht gesehen, hab darüber aber auch sehr geteilte Meinungen gehört. Das lag wohl vor allem daran, dass es einigen zu detailgetreu war... Die Zustände in dem Irrenhaus hätte ich aber auch nicht gern sehen wollen...


    Wurde eigentlich irgendwann erklärt, warum auf einmal alle Menschen blind wurden? Bzw. auch, warum auf einmal alle wieder sehen konnten?


    Egal, auf einmal waren sie in der Situation und mussten damit klar kommen. Meiner Meinung nach hat Jose Saramago das schon ganz richtig gesehen: Sobald der Mensch etwas verliert, was ihn zivilisiert sein lässt (in diesem Fall die Fähigkeit zu Sehen), wird er zu dem, was er wirklich ist - ein Tier. Und in der Tierwelt gewinnt nun mal der Stärkere. Mit Menschlichkeit (oder Tierlichkeit :gruebel) überlebt da niemand. Der Sinn der Existenz: Essen, Schlafen, Fortpflanzung, in welcher Reihenfolge auch immer.


    Sehr beklemmend, aber es steckt eine Wahrheit darin, über die es sich lohnt, nachzudenken.

    "Leben, lesen - lesen, leben - was ist der Unterschied? (...) Eigentlich doch nur ein kleiner Buchstabe, oder?"


    Walter Moers - Die Stadt der träumenden Bücher

  • Ich fand "Die Stadt der Blinden" ungemein eindringlich und auch spannend, allerdings sollte man sich mit Saramagos stilistischen Eigenheiten abfinden können, ansonsten ist das Lesevergnügen wohl ein getrübtes.
    Auf jeden Fall hat der Literaturnobelpreisträger ein sehr wahres Buch geschrieben, das schonungslos zeigt, wozu Menschen in der Lage sind und wie schnell all der anerzogene Anstand und die Zivilisation beim Teufel sind. In Extremsituationen ist sich (fast) jeder selbst der nächste, keine Schandtat ist zu übel, um nicht zum eigenen Vorteil begangen zu werden und das Leben kann sich sehr schnell auf die kompromißlose Erfüllung der Primärbedürfnisse reduzieren.
    Ganz großes Buch, wie bislang alle, die ich von Saramago gelesen habe, auch wenn das Ende dann etwas dünn daherkommt.

  • José Saramago (* 16. November 1922 in Portugal; † 18. Juni 2010 auf Lanzarote) war ein portugiesischer Romancier, Lyriker, Essayist, Erzähler, Dramatiker und Tagebuchautor. 1998 wurde ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen.
    "Die Stadt der Blinden" erschien 1995.


    Saramago erzählt in zwei Erzählebenen.
    Die eine ist die Geschichte über eine Gesellschaft, in der plötzlich eine Krankheit ausbricht, die sich rasend schnell ausbreitet, Blindheit. Die Regierung versucht die Situation in den Griff zubekommen, indem sie die Betroffenen in Quarantäne steckt. Dort sich selbst überlassen versuchen die Blinden zurechtzukommen, doch bald bricht dort Chaos und Terror aus.
    Das Buch beschreibt, wozu der Mensch in solch einer Situation fähig ist, fast zum Tier wird. Dem Leser wird da sehr viel zugemutet. Manchmal versuchte ich das Auge meiner Vorstellungskraft zu schließen. Doch manche Blinde verändern sich, lernen dazu, wachsen über sich hinaus, so dass Hoffnung aufkeimt.
    In der zweite Ebene wird der Leser dazu angeregt, über Blindheit im übertragenen Sinn nachzudenken, worin sie bestehen kann, wodurch sie verursacht wird, was sie bewirken kann. Die Blinden fangen an mit dem inneren Auge zu sehen, Äußerlichkeiten werden unwichtig. Sie erkennen, man kann als Blinder sehend sein und als Sehender blind.


    Anfangs ist das Buch nicht einfach zu lesen, da sich Sätze nur durch Komma getrennt aneinander reihen. Wörtliche Rede mischt sich ohne Anführungszeichen dazwischen. Mit der Zeit findet man sich zurecht und kann sich auf die ausdrucksstarke Sprache mit Vergleichen, Metaphern, Andeutungen, Bezugnahmen konzentrieren.
    Der Autor wechselt zwischen den Perspektiven, mal ist er distanzierter Beobachter, mal ist er selbst ein Blinder.
    Seine Beschreibungen lassen Brueghels Gemälde "Blindensturz" vor dem gedanklichen Auge entstehen, manche Szene schafft eine Stimmung wie bei Kafka. Doch es gibt auch schöne, atmosphärisch sehr intensive Szenen.
    Immer wieder sollte man sich Pausen gönnen, um über das Gesagte nachzudenken. Scheinbar verdrehte Aussagen von blind und sehend werden dann verständlich.
    Ich bin froh, das Buch in einer Leserunde gelesen zu haben. Es gibt viele unklare Punkte, über die man sich austauschen sollte. Manches verstand ich besser, wenn auch etliche Fragen offen blieben.
    Dies ist ein Buch, für das man sich Zeit nehmen sollte, und durchaus wert, ein zweites Mal gelesen zu werden.


    Da ich mit der Satzbildung Probleme hatte, vergebe ich nur 8 Punkte.

  • Wow, eins der besten, mitreißendsten, berührendsten, schockierensten, aussagekräftigsten und schonungslosesten Bücher die ich je gelesen habe. Das Buch hat mich vom Hocker gehauen, es hat mich unendlich viel zum Nachdenken gebracht, es hat an meinem Herz gerührt und mich an den Menschen zweifeln lassen. Ein ansolut gewaltiges Buch und eine totale Leseempfehlung von mir. Ich werde es definitiv noch einige Male lesen... Die Verfilmung möchte ich auch noch sehen.

  • Zitat

    Original von Horizon
    Die Verfilmung möchte ich auch noch sehen.


    Entgegen meiner fast noch jugendlichen Meinung aus dem Jahr 2007 habe ich mir letztes Jahr den Film angsehen. Die Schauspieler fand ich ganz gut, alles in allem ist er wohl sehenswert, kommt meiner Meinung nach aber nicht an das Lese-Erlebnis heran.


    Das Buch hingegen ist immer noch in meinen ewigen Top 5.

    „An solchen Tagen legt man natürlich das Stück Torte auf die Sahneseite — neben den Teller.“