Schwarzgrell Teil 2

  • Nach einer Weile holte er entschlossen tief Luft. Diesen Augenblick wollte er genießen, auskosten, sich und seinen Sinnen selber schenken. Mit immer noch geschlossenen Augen erhob er sich langsam, legte den Kopf in den Nacken und breitete beschwörend die Arme aus. In der zurückliegenden Zeit der Dunkelheit und der Qualen hatte ihm sein Unterbewusstsein schützend gelehrt, wie er die unzähligen miteinander verknüpften Ebenen seines inneren Selbst vom Jetzt trennen konnte, um nur noch auf einer einzigen, der schmerzfreien Ebene zu sein. Mit einer leichten Handbewegung verscheuchte er die aufkeimenden Gedanken über seine Folterer, die Dunkelheit, die Spritzen, die Verhöre. Er war bereit. Mit einem Jubelschrei öffnete er weit seine Augen.


    Weiß! Blendendes Reinweiß. Gleißend, bohrend, brennend. Sein euphorischer Schrei verwandelte sich übergangslos in einen Ton des Entsetzens. Mit der Wucht des gesamten Universum prallte er in ein glühendes Zentrum komprimierten reinsten Weiß, dessen übermächtige Masse sekundenschnell von seinem Körper und Geist Besitz ergriff. Mit unbeschreiblichen Schmerzen prallten zuerst sein Gesäß, unmittelbar darauf seine Handrücken und Schulterblätter gegen ein massives Hindernis.


    Es dauerte lange, bis er sich auf seine einzige schmerzfreie Ebene und dadurch auf sich selbst konzentrieren konnte. Auf dem Rücken liegend registrierte er die durch den Aufprall gelähmten Arme und Hände, die deshalb seine stummen Befehle gefühllos ignorierten sowie schwere Prellungen am Gesäß. Schlimmer, er hatte einen Schock erlitten, der ihm seine selbstsuggestive starre Haltung aufzwang. Gleichzeitig legten blockierte Nervenbahnen die Gesichts- und Beinmuskeln lahm. Schutzlos hatte er das unbehinderte Eindringen der weißglühenden Strahlung durch seine weit aufgerissenen Augen hinnehmen müssen.


    Nachdem er sich über seinen Zustand im Klaren war, klangen die Schockwirkungen zwar rasch ab, doch die Intensität des Lichts war selbst bei den nun wieder geschlossenen Augen noch unangenehm. Mit großer Anstrengung schaffte er es, seinen Oberkörper aufzurichten und sich mit seinen Beinen solange nach hinten abzustoßen, bis er in seinem Rücken eine stützende Wand spürte. Die Arme hingen immer noch nutzlos an ihm herunter, doch ein leichtes Kribbeln in ihnen deutete er als ersten Hinweis auf den Rückgang der Gefühllosigkeit und Lähmung. Die Knie in seine Augenhöhlen pressend, verharrte er solange in dieser Stellung, bis es ihm gelang, die Arme anzuheben und als zusätzlichen Schutz gegen das anstürmende Weiß einzusetzen.


    Trotz des flimmernden Weiß nickte er immer wieder ein. Als er sich schließlich kräftig genug fühlte, begann er seine Suche nach der weggeschleuderten Kapuze. Auf den Knien langsam an der für ihn unsichtbaren Wand entlangrutschend, tastete er jeden aus dieser Position erreichbaren Fleck ab. Bei der fünften gezählten Ecke beendete er seine ergebnislose Suche. Er hatte den Raum einmal umrundet und in dieser Zeit die wenigen Fakten geordnet, Schlüsse gezogen und nach einem Ausweg gesucht. Seufzend legte er sich wieder auf den Bauch, presste seinen Kopf in die Ecke, schützte mit seinen Armen die Augen und schlief tatsächlich ein.


    Dank der antrainierten Disziplin in der Zeit der Dunkelheit bewegte er sich nicht einmal im Schlaf. Nach dem Aufwachen blieb er so liegen und gestand sich die Wahrheit ein. Entweder sie holten ihn irgendwann wieder hier raus oder er würde verdursten. Seit drei Tagen hatte er nichts mehr zu sich genommen, viel Zeit verblieb ihm also nicht.


    Die Augen fest geschlossen lehnte er sich wieder mit dem Rücken an die Wand. So blieb er sitzen, Minute für Minute, Stunde für Stunde. Zunächst grübelte er noch zielgerichtet. Doch je mehr Stunden vergingen, desto öfter schweiften seine Gedanken ab. Bis er keine Kraft mehr besaß, sie zurückzuholen. Sein Geist machte sich selbständig. Ihm war es gleichgültig. Irgendwann später stellte er mit leichtem Erschrecken fest, schon länger ohne Probleme mit offenen Augen dazusitzen. So wie er früher die Dunkelheit zu einem Teil seiner Existenz machte, füllte diese Lücke jetzt die weiße Lichtflut aus. Im Gegensatz zu seinen bisherigen Erfahrungen allerdings wurde er so allmählich ein Teil dieser Umgebung.


    Sein ungelenkter freier Geist entdeckte in dem gleißenden Flimmern eine chaotische Ordnung, die ihn aufzufordern schien, in diesem Reigen mitzumachen. Satzgebilde wie Das unbewusst Wollende hält das bewusst Seiende am Leben und Die Realisation kann nicht stärker als der ursprüngliche Gedanke sein, da dieser bereits deren Grenzen bestimmt tauchten urplötzlich auf und nisteten sich in einer unbegreiflichen Ordnung bei ihm ein.


    Seine Augen durchschweiften die Unendlichkeit der wabernden Helle, er ritt auf sonnenhellen Flimmerteilchen und plötzlich begriff er die Gesetze der chaotischen Ordnung. Voller Ekstase reihte er sich irgendwo ein, machte seine ersten Erfahrungen noch mit einer naiven Freude an dieser Form des Seins. Immer mehr identifizierte er sich als einen Teil davon, immer schneller ließ er Überholtes zurück. Mit einem orgiastischen Schrei, hier ein Abschied, dort eine Begrüßung, überwand er die Grenzlinie. Unendlichfach hörte er: WILLKOMMEN .



    Beitrag zum Bettina-von-Arnim-Wettbewerb 1996
    "Schwarzgrell" 1996 Copyright Adalbert Hauser

    Schon der weise Adifuzius sagte: "Das Leben ist wie eine Losbude, wenn Du als Niete gezogen wurdest, kannst Du kein Hauptgewinn werden.":chen

  • Marlowe,


    jetzt habe ich wie versprochen Deine Geschichte gelesen... aber ich kann eigentlich kein Urteil darüber abgeben, denn die Thematik liegt mir persönlich leider nicht.


    Sie ist sicher gut geschrieben... nur, wie gesagt... das Thema ist mir zu "mystisch" und "fiktiv", um wirklich fesselnd (für mich! nicht allgemein!) zu sein.


    Sorry - ist nicht gegen Dich oder Deine Geschichte gerichtet.

    Lieben Gruß,


    Batcat


    Ein Buch ist wie ein Garten, den man in der Tasche trägt (aus Arabien)

  • Ich bin sehr beeindruckt von Deiner Geschichte. Ich finde, sie ist gut geschrieben - nur irgendwo war ein Wort, das mich störte, welches weiß ich aber gerade nicht mehr.


    Ich weiß nicht, ob ich sie verstanden habe - es gibt da mehrere Interpretationsmöglichkeiten, es könnte wirklich etwas mystisches/fantasy-artiges sein, die unsichtbaren Bewacher wirklich unsichtbar. Oder die Hauptperson empfindet es einfach so, weil die Wärter ihr so allmächtig erscheinen. Das ist aber auch egal. Mir hat die Geschichte gefallen, ich habe sie fasziniert gelesen und sprachlich ist sie auch gelungen, auch wenn ich glaube, dass man an manchen Stellen immer noch schleifen könnte. Andererseits wird vieles gedruckt, was so viel schlechter geschrieben ist...


    Wenn ich einen ganzen Band mit solch intensiv-negativen Erzählungen vor mir hätte, würde ich ihn vielleicht nicht auslesen. Aber unter verschiedenartigen Geschichten fände ich sie gut aufgehoben.


    Ich habe zwei Assoziationen zu Deiner Geschichte, das eine ist Die kleine Meerjungfrau von Andersen, und zwar weil sie ebenfalls lange leidet um dann in ein positives Nachleben überzugehen - das sind die einzigen Parallelen, trotzdem hatte ich den Vergleich im Kopf. Die zweite sind die Kurzgeschichten der SF-Autorin Vonda N. McIntyre, in der auch häufig solch düstere innere Zustände geschildert werden, bis der Leser langsam versteht, in welcher Situation sich die Hauptperson befindet.


    Schließlich würde mich noch interessieren: Hast Du recherchiert, ob die von dir beschriebenen physischen Phänomene eine medizinische Grundlage haben? Z. B.: Sind Arme nach einem Aufprallen wirklich erstmal taub oder gelähmt?


    So, ich geh' jetzt mal gucken, was Du sonst noch so geschrieben hast. :-)


    Jaleh