Es ist Wochenende und damit haben auch die meisten Eulen etwas mehr Zeit zum Lesen, hier ist die Kurzgeschichte, an der ich über ein halbes Jahr gearbeitet habe:
Schwarzgrell
Die undurchsichtige Kapuze über seinem Kopf störte ihn nicht so sehr wie der ständig in seiner Wirbelsäule stechende Zeigefinger des für ihn unsichtbaren Bewachers. Das eintönige Tack-Tack ihrer Schritte, die durch einen imaginären Befehlshaber in einen perfekten Gleichschritt gezwungen wurden, pochte schmerzhaft in seinen Schläfen. Es schien, als würde dieser Gang niemals ein Ende nehmen. Als er sich zu fragen begann, ob er nicht vielleicht schon tot war und dieses in verhüllter Dunkelheit dahinmarschieren durch einen unendlichen Korridor etwa sein Fegefeuer bedeutete, riss ihn jäh eine brutale Hand aus diesem Gleichschritt heraus. Diese Bewegung war einem gesprochenen Befehl gleich. Hart, heftig und Gehorsam erwartend. Sie war verlangend und drohend zugleich und der auf so schmerzhafte Art in die Wirklichkeit Zurückgeholte verstand sofort: Bleib stehen - rühr Dich nicht - sonst..!
Er verfiel sofort in eine selbstsuggestive Starre. Er war ein Brett. Er war unbeweglich. Er war ein totes Monument, hier hingestellt für die Ewigkeit oder solange sein Schöpfer ihn hier stehen ließ. Sein Bewacher ließ ein anerkennendes Grunzen hören. Außer dem harten Tack-Tack der Schritte, dem leisen Knistern der Plastikjacke um seinen Oberkörper und dem aus Schmerzen zusammengesetzten Gongschlag, erzeugt durch einen menschlichen Zeigefingerschlegel, der seinen Körper als Glocke benutzte, war dies die erste Abwechslung in dem ihm endlos scheinenden Geräuschgang. Er sog diese Abwechslung als etwas Neues, Unbekanntes, gerade erst Entdecktes tief in sich ein, kostete es aus wie ein siebengängiges Menü im besten Restaurant einer Stadt, an deren Namen er sich nicht mehr erinnern durfte.
Sein Körper stand still. Sein Geist dagegen gaukelte ihm die Fortführung der bisherigen Bewegung vor. Bevor ihm dieser Zwiespalt zum Verhängnis wurde, drehte ihn die brutale Hand herum. Ein schwacher Lufthauch schwebte wie ein Geist über seine rechte Hand. Dann stieß ihn sein unsichtbarer Bewacher lässig nach vorne.
Er stolperte einige Schritte, blieb stehen, wartete wie gewohnt auf ein Signal, ein Zeichen, einen Befehl. Die Sekunden des Wartens dehnten sich wie Schwingungen in seinem Kopf. Doch je näher sie sich seinem Schädelknochen näherten, desto weiter wurde seine Innenwelt. Dieses sich Nähern und doch nicht Erreichen ließ ihn taumeln. Dieses Taumeln und doch nicht Fallen ließ ihn auf eine Reaktion seines Bewachers warten. Dieses Erwarten und dann doch nicht Geschehende erzeugte in ihm eine langsam aufsteigende Angst, die sich, je mehr sie sich seinem Bewusstsein näherte, in eine Panik steigerte, die ihn nach Luft schnappen ließ. Je schneller er atmete, desto weniger Sauerstoff erreichte seine Lungen. Den eingebildeten Erstickungstod vor Augen, riss er sich ohne nachzudenken die Kapuze vom Kopf.
Mit einem befreienden Schrei warf er sie weit von sich, nur um unmittelbar darauf beinahe wieder in denselben panischen Zustand zu geraten. Die undurchsichtige Kapuze hatte ihm eine begrenzte, endliche und dadurch begreifbare Schwärze aufgezwungen, nun verschwand sie ungesehen in einer unendlichen, von allen Seiten auf ihn einstürmenden massiven Schwärze, deren plötzliche Existenz ihn ohne einen Laut in sich aufnahm. Aber etwas war anders.
Das Erkennen der Andersartigkeit brachte die wiederaufkeimende Panik und seine Vernunft in ein ausgewogenes Verhältnis. Er konnte wieder klar denken. Zum erstenmal seit, er überlegte, seit, seit, ach egal, jedenfalls seit seine Augen nichts mehr gesehen hatten.
Mit großer Erleichterung registrierte er sein Alleinsein in diesem Albtraum und die Gewissheit, diesmal von niemandem einen Befehl zu erhalten. Vorsichtig ging er in die Hocke. Seine Hände tasteten über einen ebenen Boden und mit einem zufriedenen Seufzen setzte er sich hin. Wer immer beschlossen hatte, ihm diese Minuten, dieses Erlebnis zu schenken, er war ihm zutiefst dankbar. Langsam, unendlich langsam ließ er sich nach hinten sinken. Er schlief mit einem Lächeln ein.
Aufwachen! Nein, nicht aufwachen! Aufwachen! Auf dem Bauch liegend, den Kopf auf seinen Unterarmen gebettet, lauschte er seiner inneren Stimme. Mit freudigem Erstaunen registrierte er den von keiner Gewalt unterbrochenen Gedankenfluss. Hellwach, mit immer noch geschlossenen Augen, konzentrierte er sich auf die Welt außerhalb seines Bewusstseins. Doch da war nichts. Lediglich sein Körperkontakt mit dem Boden verhinderte das aufkommende Gefühl, in einem unendlichen Raum zu schweben. Was hinderte ihn also daran, fragte er sich, jetzt einfach aufzustehen und die Augen zu öffnen? Seine Augen, die geöffnet oder geschlossen bisher nur in ein absolutes Schwarz gesehen hatten, sahen durch die Haut seiner Lider etwas Helles. Jetzt, wo das so lange Ersehnte kurz bevorstand, begann er sich davor zu fürchten.