Schreibwettbewerb September 2007 - Thema: "Schlüsselerlebnis"

  • Thema September 2007:


    "Schlüsselerlebnis"


    Vom 01. bis 20. September 2007 könnt Ihr uns Eure Beiträge für den Schreibwettbewerb September 2007 zu o.g. Thema per Email an webmistress@buechereule.de zukommen lassen. Euer Beitrag wird von uns dann anonym eingestellt.


    Den Ablauf und die Regeln könnt Ihr hier noch einmal nachlesen.


    Bitte achtet darauf, nicht mehr als 500 Wörter zu verwenden. Jeder Beitrag mit mehr als 500 Wörtern wird nicht zum Wettbewerb zugelassen!


    Nur für registrierte Mitglieder mit mindestens 50 Beiträgen!


    Eine Bitte: Schickt uns Eure Beiträge als .doc oder .rtf und sendet sie uns als Anhang in einer Mail. Damit kommen dann auch Zeilenumbrüche, etc. richtig bei uns an. In Word könnt ihr dann auch die Rechtschreibhilfe nutzen und unter „Extras“ habt ihr die Möglichkeit „Wörter zählen“.


    Wir wünschen Euch viel Spaß und viel Erfolg!

  • von Leserättin


    Als Fotomodel verdiente Amanda so gut, dass sie sich oft einige Tage Entspannung auf einer Südseeinsel leistete. Ihr Gesicht von einem Schirm geschützt lag sie in der Sonne und döste vor sich hin.
    Neben ihr platschte etwas in den Swimmingpool, ein Aufschrei folgte. Amanda blinzelte nicht einmal. Das waren sicher die Zwillinge ihrer Zimmernachbarn, die sich laufend gegenseitig ins Wasser schubsten.
    Der Schrei wiederholte sich. Amanda fuhr hoch, sah zwei emporgereckte Arme im Wasser, bevor ein Körper unterging.
    Mit einem Satz war sie im Pool und kraulte auf den Ertrinkenden zu. Sie tauchte, bekam ihn an den Schultern zu packen und zog ihn an die Wasseroberfläche. Kaum hatte sie seinen Kopf über Wasser, schwamm sie los.
    Der Mann war bewusstlos, doch als sie fast den Rand erreicht hatte, kam er zu sich und schlug wild um sich.
    „Nicht! Wir haben es gleich …“ Da traf sie einer seiner panischen Hiebe und schleuderte ihren Kopf an den Beckenrand.
    Sterne explodierten vor Amandas Augen und scharfer Schmerz durchzuckte sie. Einen Augenblick war sie benommen, schluckte Wasser, dann kam sie prustend hoch, packte erneut den Mann und zog ihn ins Trockene.
    Einer der Hotelangestellten rannte herbei, brüllte etwas in Richtung Eingangstür. Amanda achtete nicht auf ihn, sie war ganz damit beschäftigt, ihre Lippen auf den kalten Mund des Mannes zu pressen und ihm ihren Atem einzuhauchen.
    Er kam zu sich, hustete, spuckte Wasser.
    „Alles ist in Ordnung, Sie sind in Sicherheit.“ Amanda tastete nach ihrer Wange und spürte etwas Warmes. Blut bedeckte ihre Fingerspitzen.
    Sanitäter eilten herbei, kümmerten sich um den Mann und brachten ihn und Amanda ins Krankenzimmer. Wieder und wieder bedankte er sich bei ihr für seine Rettung. Er hieß Wilbur und war ein blinder Pianist.
    Amanda hörte kaum zu. Ihre Gedanken drehten sich um ihre eigene Verletzung. An ihrer Wange war ein tiefer Schnitt. Es würde dauern, bis er heilte und vielleicht würde sie eine Narbe zurückbehalten.
    „Es tut mir sehr Leid, dass Sie verletzt wurden“, sagte Wilbur. „Kann ich etwas für Sie tun?“
    Amanda schüttelte den Kopf, dann fiel ihr ein, dass er das nicht sehen konnte und sie murmelte Nein.
    „Die Schwester hat gesagt, dass Sie ein Engelsgesicht haben. Ich will es gerne glauben, denn Sie waren mein rettender Engel.“
    Konnte er nicht still sein? Amanda ging hoch in ihr Hotelzimmer und hängte ein Handtuch vor den Spiegel, nachdem sie einen Blick hinein geworfen hatte.
    Lange lag sie an diesem Abend wach auf ihrem Bett. Als sie in ihrer Agentur anrief und erklärte, was passiert war und dass sie in den nächsten Wochen nicht würde arbeiten können, war die Reaktion sehr kühl gewesen. Es interessierte niemanden, dass sie einem Menschen das Leben gerettet hatte. Wichtig war nur ihr Gesicht.
    Wilburs Worte spukten ihr im Kopf herum. Dann traf sie eine Entscheidung.


    Amanda klappte das Buch zu. Genug gelernt für heute. Sie hatte ihr Biologiestudium wieder aufgenommen. Es gab mehr im Leben, als ein Engelsgesicht.

  • von Tom


    "Schwul" war das Generalschimpfwort für alles. Schule war schwul, Lehrer, Klassenkameraden, Pausenbrot, Einsen haben, sogar Mädchen durften sich das anhören. Was nicht cool war, war automatisch schwul. Wir hatten keine Ahnung, was das Wort bedeutete, wussten aber, dass es mit küssenden Männern zu tun hatte. Es schüttelte uns kollektiv, wenn wir uns das vorstellten. Das war megaschwul, schwul sein. Aber wir kannten niemanden, auf den das zutraf.
    Ich lernte Marko in der Zehnten kennen. Er war ein fröhlicher, aufgeweckter Typ, sehr sportlich und uns anderen um Längen voraus, was Klamotten anbetraf. Wir wurden Freunde, später sogar gute, dann beste, als wir uns gemeinsam auf das Abi vorbereiteten. Noch immer wurde alles als schwul bezeichnet, das uns nicht in den Kram passte, nur Marko hielt sich raus, mit einem seltsamen Lächeln um die Lippen. Als wir in einer Kneipe unseren Abschluss feierten, legte er mir, als wir schon einiges intus hatten, die Hand auf die Schulter und sagte: "Weißt du, Jens, ich bin schwul." Dann küsste er mich auf die Wange und ging aufs Klo. Ich bekam erst eine Gänsehaut und gleich darauf das große Zittern. Dann lief ich davon. Auf dem Heimweg rieb ich mir über die Wange, als hätte mir jemand Scheiße draufgeschmiert.
    Er versuchte, mit mir Kontakt aufzunehmen, ließ mir sogar über meine Mutter ausrichten, dass er überhaupt nicht scharf auf mich wäre, was so ziemlich das peinlichste war, was ich je aus ihrem Mund hörte, aber ich reagierte nicht. "Das ist keine Krankheit", sagte sie kopfschüttelnd zu mir. "Ist es doch", antwortete ich und ekelte mich.
    Wir sahen uns fast zwei Jahre lang nicht. Dann saß er mir plötzlich in der Mensa gegenüber. Ich verschüttete vor Schreck fast meinen Kaffee, gleichzeitig wurde ich rot.
    "Das sieht schwul aus", sagte er lächelnd. Ich musste grinsen, wir reichten uns die Hände und begannen ein Gespräch, das erst zwei Tage später endete. Ich war noch immer unsicher und voller Ängste, aber Marko nahm mir die Sorge, auf dem Weg zum Bus von ihm vergewaltigt zu werden. "Du bist ein Idiot", sagte er. "Stell dir vor, alle Frauen hätten pausenlos Angst vor dir."
    Es war nicht leicht für mich, aber ich gewöhnte mich daran. Marko erklärte mir, was es bedeutete, homosexuell zu sein, und dass es keineswegs nur daraus bestand, mit Männern Sex zu haben. Ich verstand nicht alles, aber irgendwann kam ein Punkt, an dem ich überrascht feststellte, stolz auf ihn zu sein.
    Monate später fuhren wir zelten, übers Wochenende. Wir tranken viel, zogen uns dann im engen Zelt aus. Als Marko in der Unterhose vor mir saß, bekam ich einen Ständer. Ich geriet in Panik und versuchte, es zu verbergen, aber er lächelte nur.
    "Das ist nicht falsch", sagte er. "Und bedeutet nicht automatisch, dass du eine Tucke bist." Dann zog er seinen Slip aus.
    Wir hatten nur dieses eine Mal Sex miteinander. Es war okay. Und ich bin nicht schwul.
    Aber Marko ist immer noch mein bester Freund.

  • von Sternenkind


    Upps, wo ist ER denn?


    Ich weiß genau, wie ER aussieht!
    Ich weiß genau, wann ich IHN zuletzt benutzt habe!
    Ich weiß genau, wo ER eigentlich hingehört!


    ABER, auch wenn ich weiß,
    wie ER aussieht,
    wann ich IHN zuletzt benutzt habe,
    wo ER eigentlich sein sollte bzw. hingehört,
    ist mir das nicht von Nutzen …
    … weil ER nicht auffindbar ist.


    Nun bleibt mir nichts anderes übrig, als wieder mal den Hl. Antonius zu bemühen.


    Was, Du kennst den Hl. Antonius nicht *kopfschüttel*


    Den Heiligen von Padua, der allen zur Seite steht,
    welche verloren gegangene Gegenstände suchen …


    Dann wird es aber höchste Zeit,
    dass ich Dich mit ihm bekanntmache:


    „Gestatten, ich bin Antonius, der Wundertäter.
    Immer zur Stelle, wenn es gilt, verlorene Gegenstände aufzuspüren.“


    Ein Dedektiv, oh nein, das bin ich nicht!
    Ein Wahrsager, Gott bewahre, dazu müsste ich erst wissen, was wahr ist!
    Ein Suchender, ja, damit kann ich mich identifizieren!


    ABER nun zurück zu Dir …


    Wie sah ER aus?
    Wann hast Du IHN zuletzt benutzt?
    Wo gehört ER eigentlich hin?


    Kurz, vorne abgerundet.
    Gestern, vorgestern oder doch letztes Mal an Weihnachten?
    In’s Schlüsselkästchen oder …?

  • von Waldfee


    Charlotte machte eine Pause und stützte sich auf die Mistgabel. Ihr T-Shirt klebte am Körper, als hätte sie damit geduscht. Durch die offene Stalltür konnte sie den Dampf sehen, der aus den Wiesen stieg. Es würde ein Gewitter geben. Die schwarzbunte Alice stapfte zufrieden aus dem Melkstand. Charlotte kraulte ihren Hals, während sie noch einmal den neuen Stall bewunderte.


    Wenn ihr Vater das sehen könnte: Achtundneunzig Milchkühe in einem modernen Offenstall. Aus seiner Klitsche war ein rentabler Betrieb geworden.


    „Wenn du tot bist, verkaufe ich die Schafe.“ hatte Charlotte gesagt.
    „Warum ausgerechnet die Schafe?“
    „Schafe haben keine Persönlichkeit.“
    „Aber die Kühe…“ hatte ihr Vater gespottet und noch ein Bier aufgemacht.


    Kühe haben so was Mütterliches, fand Charlotte, aber das sagte sie nicht. Als ihr Vater endlich gestorben war, hatte sie die ganze blökende Herde verkauft und das Geld in Milchkühe investiert. Als nächstes hatte sie Marie gebeten, in ihr Haus zu ziehen.


    „Ich will dieses Weib hier nie wieder sehen!“ war das einzige, was Charlottes katholischer Vater je über ihre große Liebe gesagt hatte. Als das nächste Mal das Knattern von Maries Harley zu hören war, riss er seine Schrotflinte vom Schrank und rannte feuernd über den Hof. Zehn Jahre lang hielt er das Hausverbot aufrecht, aber das war nicht der einzige Grund, weshalb Charlotte seinen Tod nicht erwarten konnte.


    Ihre Mutter war eine duldsame Frau gewesen. Sie hatte innerhalb von dreizehn Jahren acht Kindern das Leben geschenkt. Sie war nicht böse, wenn ihr Mann statt mit ihr mit einer Magd im Heu verschwand. Als Charlotte zwölf Jahre alt war, hörte sie die herrische Stimme ihres Vaters durch die verschlossene Küchentür: „Ein neuntes Kind kommt mir nicht ins Haus und damit ist alles gesagt!“


    Drei Tage später brachte der Vater eine fremde Frau mit. Sie zog einige Schraubgläser mit getrockneten Kräutern aus ihrer Umhängetasche, machte sich zuerst in der Küche, dann im Schlafzimmer zu schaffen. Am Ende dieses Tages war Charlottes Mutter tot.


    „Wie kannst du diesen Hof übernehmen wollen?“ fragten ihre Geschwister vier Jahre später. Kein Bruder, keine Schwester wollten auf diesem verseuchten Fleckchen Erde bleiben. Ihre Antwort war einfach: Sie wollte Bäuerin werden, aber einen Bauern heiraten wollte sie nicht.


    Als Charlotte ihre Stallarbeit beendet hatte, sagte sie den Kühen gute Nacht, verschloss die Türen und rannte durch die ersten Regentropfen hinüber zum Wohnhaus. Im Schutz des Vordachs schaute sie zu, wie der Gewitterregen innerhalb weniger Minuten die Erde überschwemmte.


    Genau wie damals, ein Jahr nach dem Tod ihrer Mutter, damals, als sie klatschnass mit einem Futtereimer in der Hand den Schafstall betrat und ihren Vater sah, ihren Vater, wie er mit heruntergelassener Hose in einer Ecke des Stalls stand, das Hinterteil eines schmutzigbraunen Schafs an seine Lenden gepresst, wie er sich keuchend bewegte, sein rot glänzendes, geschwollenes Organ sichtbar wurde und wieder verschwand, sichtbar wurde und wieder verschwand…


    Charlotte erinnerte sich genau, denn das war der Tag, an dem sie ihren Respekt vor Männern verloren hatte, vor Männern und Schafen – irgendwo zwischen Donnerschlägen und Schafgebrüll.

  • von flashfrog


    Am siebten Tage aber, als Gott eigentlich mal so richtig ausspannen wollte, wurde ihm schnell langweilig. Da nahm er einen Klumpen Lehm zur Hand und begann, ein wenig herumzubasteln. So schuf er den Kritiker.
    Kaum hatte Gott dem Kritiker das Leben eingeblasen, da legte der auch schon los:


    "An sich durchaus eine nette Idee, so eine Schöpfung, aber die Umsetzung ist ehrlich gesagt leider wenig überzeugend. Irgendwie wirkt das hingeschludert, lieblos zusammengebastelt, nicht zu Ende gedacht.
    Mir erschließt sich beispielsweise nicht, wie du am 1. Tag Tag und Nacht machen kannst, wenn du erst am 4. Sonne und Mond erschaffst. Das ist unlogisch. Und wie können die Bäume am 3. Tag Früchte tragen, wenn die Bienen erst am 6. auf der Bildfläche erscheinen? Das funktioniert so nicht, das ist einfach nicht plausibel.
    (Übrigens, die Äpfel hier, die sind aber garantiert Bio und ungespritzt, oder? Weißt du, ich hab einen empfindlichen Magen.)
    Und wieso laufen hier eigentlich alle splitternackt herum? Ich hole mir garantiert einen Sonnenbrand. Und dauernd wird es Abend und Morgen - viel zu viele Wiederholungen, das solltest du straffen, sonst wird es über die Jahrtausende langweilig.
    Dann hast du da also diese ganzen Tiere erschaffen: Einige sind ja recht gelungen und handwerklich solide gemacht, aber die Elefanten beispielsweise sind mir viel zu dick aufgetragen, die Rochen sind einfach zu platt, die Eisbären bleiben blass, die Giraffen wirken irgendwie gestelzt, die Bäume hölzern, die Fische sagen mir nichts, den Bergen fehlt die Tiefe.
    Wie gesagt, die Grundidee gefällt mir ja, aber das wirkt doch alles sehr konstruiert. (Hast du eigentlich schon mal was von Darwin gehört? Solltest du bei Gelegenheit mal lesen, da könntest du noch was lernen! Und was sagt eigentlich deine Frau dazu, wenn du den ganzen Sonntag im Hobbykeller verbringst? - Mein Gott, Sinn für Humor hast du wohl gar keinen?)
    Also, auch, wenn das hier dein Debüt ist, überzeugt es mich nicht, es reißt mich einfach nicht vom Hocker. Deine ästhetische Konzeption zeigt zwar gute Ansätze, alles in allem nicht unsympathisch, die Inszenierung kommt aber insgesamt doch ziemlich amateurhaft daher.
    Ganz nett, recht originell und von einigem Unterhaltungswert, ein gewisses Talent ist erkennbar, aber da hättest du einfach mehr draus machen müssen, aus so einer Schöpfung, hier wurde eine Chance verspielt. Schade.
    Okay, der Mensch ist eine ganz witzige, schräge Idee, aber in der Umsetzung hapert es dann doch gewaltig: Die Konstruktion ist unpräzise, unausgegoren, und die Pointe viel zu vorhersehbar!
    Auch sprachlich ist das eher schwach, da müsste noch gefeilt werden: 'Seid fruchtbar und mehret euch in vernünftigem Maße', und: 'Macht euch die Erde untertan, aber macht sie nicht kaputt' – Das ist doch selbstverständlich und banal, das würde ich nochmal überarbeiten und kürzen!
    Die Story geht für mich irgendwie nicht auf. Ich kann den Sinn des Ganzen nicht erkennen,
    mir fehlt da einfach ein schlüssiges Ende -"


    Da nahm Gott den zappelnden Kritiker in die Hand, drückte ihn wieder zu einem Lehmklumpen zusammen und knetete daraus eine Schlange.

  • von Voltaire


    Gerade sieben Jahre war ich alt, als ich das erstemal mein Anderssein bemerkte. Es war am 6. April 1949, als sich diese „Gabe“ zum ersten Male bemerkbar machte. Es war der Tag meiner Einschulung.


    Meine Mutter begleitete mich an diesem ersten Schultag. Eine Schultüte gab es genauso wenig wie ein mich begleitender Vater. Für eine Schultüte war schlichtweg kein Geld da und mein Vater lag irgendwo in russischer Erde.


    Wir erreichten das vierstöckige Schulgebäude. Schwer im Krieg getroffen waren Handwerker gerade dabei, mit zusammengesuchten Dachziegeln das Dach provisorisch zu decken. Hauptsache der Regen fand keinen Weg in die Klassenzimmer.
    Einige Meter vor mir ging Doris, die Nachbarstocher. Stolz und fast ein wenig triumphierend trug sie ihre bunte Schultüte. Es fiel mir wahrlich nicht leicht, meine Neidgefühle unter Kontrolle zu bekommen.
    Dann hörte ich das Geräusch. Es schien aus großer Höhe zu kommen. Automatisch richtete ich meinen Blick nach oben. Einige Dachziegel hatten sich gelöst und würden in wenigen Augenblicken auf dem Pflaster des Bürgersteigs zerschellen. Zu meinem Entsetzen sah ich, dass zwei der Dachziegel auf die ahnungslose Doris zufielen. Das kleine Mädchen würde unweigerlich von den Ziegeln erschlagen werden. Es gab nichts was sie vor diesem Schicksal bewahren konnte.


    Und dann passierte es.
    Ich wusste nicht was mit mir geschah, ich merkte wie die Zeit im wahrsten Sinne des Wortes stehen blieb, die Menschen verharrten in ihren momentanen Bewegungen, die hinabstürzenden Ziegel blieben in der Luft hängen, als wären sie an unsichtbaren Fäden befestigt. Mein Blick richtete sich fest auf die Ziegel und ich merkte, wie ich sie nur mit meinem Willen bewegen konnte. Mit aller Vorsicht dirigierte ich sie so, dass sie niemanden mehr verletzen konnten.
    Kaum stellten die Ziegel keine Gefahr mehr da, zerschellten sie auch schon auf dem Pflaster ohne jemanden Schaden zuzufügen. Die Menschen schrieen erschrocken auf, offensichtlich hatte aber niemand den Halt der Zeit bemerkt, auch mir schien es jetzt wie ein Traum.


    Im Laufe der Zeit habe ich von meiner „Gabe“ noch einige Male Gebrauch gemacht bis sie mir dann vor zwei Jahren auf eindringliche Art und Weise klar machte, dass sie nicht im geringsten an meinem Wohlergehen interessiert war.
    Als der Lastwagen auf mich zuraste, war die „Gabe“ wohl gerade im Urlaub. Der Rollstuhl, in dem ich gerade vor meinem PC sitze und dieses hier schreibe, ist wohl Beweis genug dafür, dass die „Gabe“ mit mir absolut nichts im Sinn hatte.

  • von Clärschen


    Es ist eine stürmische Nacht. Der Regen peitscht gegen die Fensterscheiben. Alles ist dunkel, nur hinter einem Vorhang dringt ein Lichtschimmer hervor.
    Klein-Lucie sitzt am Schreibtisch. Bei Schreibtischlampenlicht. Im Schlafanzug. Vor ihr aufgeschlagen ein leeres Heft.
    Natürlich ist es schon eine Ewigkeit her, dass Lucies Mutter ihrer Tochter gute Nacht gesagt hat. Sie ist selbst längst zu Bett gegangen.
    Aber Lucie kann nicht schlafen. Ihr schwirrt mal wieder zuviel im Kopf herum.
    Das passiert ihr oft. Am nächsten Morgen kommt sie nie aus dem Bett, in der Schule ist sie müde und bekommt Kopfschmerzen. In der nächsten Nacht schläft sie dann wie ein Stein, aber nur um in der darauffolgenden wieder stundenlang wach zuliegen.
    Dauernd ist es so – heute Nacht besonders schlimm.
    Aber heute Nacht ist Lucie die Idee gekommen. Als sie mal wieder aufgestanden und im dunklen Zimmer auf und abgegangen war, weil sie einfach nicht mehr hatte liegen können, hatte sie auf dem Schreibtisch etwas liegen gesehen.
    Es war ihr aufgeschlagenes Schreibheft. Das weiße Papier schien in der Dunkelheit zu leuchten. Da kam Lucie die Idee, wie sie sich ihrer überschüssigen Gedanken entledigen konnte.


    Es ist eine stürmische Nacht. Der Regen peitscht gegen die Fensterscheiben und hinter einer davon sitzt Klein-Lucie mit glühenden Wangen und schreibt und schreibt und schreibt.
    Erst wusste Lucie nicht wie, aber bald flossen die Gedanken nur so aufs Blatt. Aber zunächst schien ihr Kopf gar nicht leerer zu werden. Aus irgendeiner unerschöpflichen Quelle floss es nach. Lucie war fiebrig heiß und sie dachte kein bisschen mehr daran, wie spät es war.
    Sie war vollkommen damit beschäftigt Ordnung in das Wirrwarr der Ideen zu bringen und sie miteinander zu verknüpfen.
    Lucie hörte nicht auf. Auch als ihre Augen juckten und ihre Stirn vom Fieber glühte.
    Erst als sie die letzte Zeile, auf der letzten Seite des Schreibhefts beschrieben hatte, legte sie den Stift aus der Hand.


    Es ist eine stürmische Nacht, der Regen peitscht gegen die Fensterscheiben, aber in Lucies Zimmer ist es trocken und warm. Klein-Lucie betrachtet glücklich die beschriebenen Seiten. Ihr Kopf ist endlich leer geschrieben. Und endlich fühlt sie sich ruhig und zufrieden. Sie kann nichts vergessen, alles ist festgehalten. Das ist gut...
    Langsam fallen ihr die Augen zu und ihr Kopf sinkt auf die Tischplatte.


    Es ist eine stürmische Nacht. Der Regen peitscht gegen die Fensterscheiben und bis zum Morgen sieht man noch einen sanften Lichtschimmer hinter dem Vorhang hervordringen, wo Klein-Lucie am Schreibtisch sitzt und mit dem Kopf auf ihrem Heft so tief und fest schläft wie schon lange nicht mehr. Sie denkt nichts, sie träumt nichts, aber irgendwer beginnt schon ihr unbemerkt neue Ideen ins Ohr zu flüstern.


    ***


    Lucia Marie Becker, 1973 in einem kleinen Dorf bei Hannover geboren und aufgewachsen, schrieb ihre erste Geschichte im zarten Alter von 8 Jahren. Dieser ersten Geschichten folgten viele weitere. Mit 25 schloss sie ihr Germanistikstudium in Hamburg ab und schrieb ihren ersten Roman „Das schwarze Lamm“. Heute ist sie gefeierte Bestsellerautorin.

  • von churchill


    Du bist so stark. So klug. So effektiv.
    Du weißt, wohin der Hase läuft. Woher,
    weißt du wahrscheinlich auch. Und noch viel mehr.
    Dein Geist erdrückt mich, seit ich ihn einst rief.


    Ich schätze deine Kraft und Energie,
    den Schwung, der dich umwirbelt Tag für Tag.
    Du reißt mich mit, auch wenn ich mal nicht mag,
    und eigentlich, das weißt du, mag ich nie.


    Du bist vernünftig. Alles ist geplant.
    Wer plant, verschwendet möglichst wenig Zeit,
    und auch beim Geld droht nie Verlegenheit.
    Geb ich es aus, dann werd ich kurz ermahnt.


    Das funktioniert. Wie alles, was du tust.
    Ganz heimlich hör ich ab und zu Musik.
    Ich träume. Und das Schreiben ist ein Tick.
    Verzeih, ich weiß ja, dass du niemals ruhst.


    Die Paarungszeiten sind wohl kalkuliert.
    Wenn ich schon schlafen sollte, weckst du mich.
    Dann dring ich ein. Doch schnell versteckst du dich,
    denn wer zu tief eindringt, wird sanktioniert.


    Ich liege wach. Und würde gerne gehn.
    Du schläfst. Ich schau dich an. Du bist so still.
    Die Augenlider zucken. Und ich will
    dich jetzt und morgen und für immer sehn.

  • von Sinela


    „Hey Alter, was geht?“
    Mike blickte auf. Ein leichtes Runzeln kräuselte seine Stirn, als er den Fragesteller erblickte. Nicht schon wieder dieses Weichei, das meinte, wenn er sich trendy anzog und einen Humdi-Dumbi-Schnitt auf dem Kopf spazieren trägt, würde er zu ihnen gehören.
    „Verpiss dich, keiner hat dich eingeladen, bei uns abzuhängen.“
    „Aber ich...“
    Mike stand auf und schubste sein schmächtiges Gegenüber zur Seite.
    „Verpiss dich, habe ich gesagt. Du hast hier nichts zu suchen.“
    Stefan, der sich nichts auf der Welt mehr wünschte, als zu Mikes Clique zu gehören, zog seine Trumpfkarte aus der Hosentasche.
    „Ich habe die Schlüssel zum Auto meines Vaters.“
    „Und? Glaubst du im Ernst, dass dein Erzeuger uns die Karre gibt? Oder ist mir was entgangen und du hast mit deinen 15 Jahren schon den Führerschein gemacht?“ „Natürlich nicht, aber mein Dad ist geschäftlich ein paar Tage in die USA geflogen und meine Mutter hat andere Sachen im Kopf, als nach mir oder dem Wagen zu schauen.“
    Ein Lächeln stahl sich in die Züge von Mike.
    „Na wenn das so ist,“ sagte er und umarmte Stefan mit scheinheiliger Freundlichkeit, „herzlich willkommen im Club. Dann lass uns gleich heute Abend eine Spritztour machen.“


    Mit hoher Geschwindigkeit raste der Wagen über die einsame Landstraße. Der Bass des Autoradios dröhnte, Bierflaschen machten die Runde und die vier Jugendlichen grölten lauthals mit, als Bon Jovi „Lost Highway“ sang. Die Stimmung war gut, Stefan am Steuer fühlte sich sicher, der Wagen war unter Kontrolle und als Mike ihn aufforderte, noch mehr Gas zu geben, tat er es bereitwillig. Die Bäume am Straßenrand flitzten nur so vorbei, das Leben machte einfach nur Spaß. Sie genossen jede Minute dieses Nervenkitzels - bis die scharfe Linkskurve kam und ihre Geschwindigkeit viel zu hoch war, um in der Spur zu bleiben.


    Leichter Regen fiel lautlos auf den Friedhof, aber der junge Mann, der an einem der Gräber stand, spürte ihn nicht. Zwei Jahre waren seit dem Unfall vergangen. Er würde ihn Zeit seines Lebens nicht vergessen können. Nicht das schreien von Claudia auf dem Rücksitz, als sie von der Fahrbahn abgekommen waren. Nicht das kreischen des Metalls, als sie an den Bäumen entlang geschrabbt waren, nicht den dumpfen Aufprall, der den Wagen seitlich erwischt hatte und vor allem das laute Stöhnen von Mike nicht, denn das war das letzte gewesen, was er gehört hatte, bevor er bewusstlos wurde. Die Monate im Krankenhaus, die Gerichtsverhandlung, seine Schuldgefühle, alles hatte ihn vor der Zeit reifen lassen. Er hatte zwei Menschenleben auf dem Gewissen und damit würde er leben müssen, aber er hatte aus dieser schrecklichen Sache gelernt. Nie wieder würde er sein oder das Leben anderer aufs Spiel setzen, nur um irgendwo dazuzugehören. Sein Blick fiel auf den Grabstein vor ihm und das leise „Leb wohl Mike“ nahm der Wind mit sich.

  • von Eny


    "Ich verstehe, dass das nicht einfach ist, aber du kannst nicht ewig warten." Sie legt eine Hand auf meinen Nacken. "Du bist so verspannt. Vielleicht solltest du es ihr heute abend sagen. Dann hast du es hinter dir."
    Ich ziehe die Schultern hoch. "Nicht heute abend. Jackie hat eine Tanzaufführung, die will ich ihr nicht verderben. Morgen vielleicht."
    Sie geht um das Sofa herum und setzt sich auf den Couchtisch. Ihre Knie berühren fast die meinen. "Stellst du mir die beiden dann endlich vor?"
    Ich schaue auf die Wanduhr hinter ihr. "Irgendwann. Ich muss ihnen erst erklären, warum ich mich von Judith trenne. Das wird schwierig."
    "Meinst du, dass das eine Rolle spielt? In dem Alter?"
    "Ida ist neun", erwidere ich.
    Sie dreht den Kopf zur Seite und schweigt einen Moment. Ich betrachte ihr Profil. Es ist so schön wie damals, als ich es zum ersten Mal fotografiert habe. Sie lächelt und dreht sich wieder um : "Weißt du, wie aufregend ich es finde, die beiden kennenzulernen? Ich habe zwei kleine Kusinen, in ihrem Alter…"
    Wieder verstummt sie und betrachtet unsere Knie, die keinen Fingerbreit voneinander entfernt sind. "Aber Jackie und Ida bleiben wohl bei ihrer Mutter…"
    "Ich denke…", sage ich, aber sie unterbricht mich : "Es ist so, dass ich immer Kinder haben wollte. Aber wegen meiner Arbeit geht das nicht…"
    Sie sieht wieder auf und lächelt, in ihren großen, dunklen Augen leuchtet etwas, das mich dazu bringt, den Kopf zu senken. Mein Blick fällt auf meine Armbanduhr und ich fasse einen Entschluss. "Ich würde gerne früher los, um Jackie Glück zu wünschen, bevor sie auftritt."
    "Natürlich." Sie erhebt sich. "Habt viel Spaß, ihr beiden. Ich drücke ihr die Daumen."
    Ich suche meine Sachen zusammen und ziehe den Mantel an. An der Tür hält sie mich fest. "Du rufst mich an, wenn du mit Judith gesprochen hast, ja?"
    Ich nicke, küsse sie auf die Wange und gehe zur Treppe, bevor sie noch etwas sagt. Auf dem Weg nach unten beschließe ich, dass ich nicht anrufen werde.
    Dass ich nie wieder anrufen werde.

  • von bartimaeus


    Es war einmal ein Schlüsselchen,
    Das lebte einst in Flandern,
    Und ging in einer Jackentasch’
    Mit seinem Herren wandern.


    So ging der Flame jeden Tag,
    Des Morgens früh um achte,
    Von seinem Haus zum Arbeitsplatz,
    Wo er den Tag verbrachte.


    Des Abend, wenn es sieben schlug,
    Verließ er diese Hallen
    Und machte auf den Heimweg sich;
    Zu Schlüsselchens Missfallen.


    Denn Abenteuer wollt es seh’n
    Und wohl die Welt erkunden.
    Doch weiter als zum Supermarkt
    Hatte es nie gefunden.


    Und eines schönen Nachmittags
    In jenem fläm’schen Flecken,
    Beschloss das kleine Schlüsselchen
    Die Welt nun zu entdecken.


    Drum glitt’s auf dem Nachausweg,
    Etwa auf halber Strecke,
    Aus dem erwähnten Kleidungsstück
    Und landete im Drecke.


    Dort lag der kleine Schlüssel jetzt
    Und konnte sich nicht rühren.
    Es muss, damit er wandern kann,
    Nun mal ein Mensch ihn führen.


    Wahrscheinlich liegt er immer noch
    Im Drecke, dort in Flandern,
    Doch vielleicht auch im Fundbüro -
    Das war’s wohl mit dem Wandern.


    Und die Moral von dem Gedicht:
    Willst du ein Wagnis wagen,
    Durchdenke seine Folgen gut,
    Sonst wirst du es beklagen.

  • von toRRid


    Herr Streiber stand immer auf der Seite des Systems. Schon damals als er an der Front in Verdun stand und owohl er die Grausamkeiten des Krieges sah. Doch zur Zei des zweiten Weltkriegs war er zu alt, um wieder zu kämpfen, obwohl er es gerne wollte.
    Trotzdem untertütze er alles, was von oben befohlen wurde. Er hasste Linke, Schwule, Parteigegner und Juden. Er bespuckte sie und schaute sie angewidert an, wenn sie ihm entgegenkamen. Die restlichen Leute grüßte er mit dem Hitlergruß.
    Sowie jeder richtige Deutsche es tut, dachte sich Herr Streiber immer und immer wieder.
    Eines Tages ging er zur Post, um einen Brief seiner Frau wegzubringen, die ihrer Schwester zum Geburtstag gratulieren wollte. Auf dem Weg zur Post hörte er aus einer Gasse schreie.
    Neugierig, wie Herr Streiber nuneinmal war, ging er näher und sah hinter Mülltonnen, wie eine junge Frau misshandelt wurde. Sie trug eine Sternbinde.
    Richtig so, dachte er über ihre Schreie hinweg.
    Unbeirrt machte er sich auf den Weg zur Post, steckte den Brief ein und ging wieder nach Hause.
    Mit seiner Frau redete er kein Wort über die vorgefallene Sache.
    Aber diese Nacht konnte Herr Streiber nicht schlafen und lag lange wach. Er musste einfach über diesen Vorfall nachdenken. Sein schlechtes Gewissen plagte ihn.
    Hätte ich ihr helfen sollen?
    Aber sie war Jüdin.
    Was habe ich gegen Juden?
    Was haben sie mir oder meiner Familie getan?
    Er kam zu dem Entschluss, dass Juden nicht schlechter sind als andere Menschen und schlief mit ruhigem Gewissen ein.
    Am nächsten Morgen stand er auf, berichtete seiner Frau, die ihn für vollkommen durchgedreht hielt, von allem und lief auf die Straße, um andere Menschen zu überzeugen.
    Schon nach 10 Minuten wurde er von Politzisten festgenommen und brachten ihn ins Gefängnis. Dort saß er für kurze Zeit ein und wurde kurz vor Kriegsende nach Auschwitz gebracht und in den Vergasungsraum geführt.
    Während das Gas eingeleitet wurde brüllte er:
    „Ich sterbe mit der richtige Gesinnung und mit reinem Gewissen und ihr werdet es auchnoch einsehen!“
    Leider konnte Herr Streiber niemals selber die richtige Sache miterleben.