Dieses Buch zu lesen tut weh. Es ist etwa so gemütlich, wie mit einer Rolle Stacheldraht zu kuscheln. Das ist gewollt von der Autorin, schließlich geht es um das Leben und die Liebe und etwas Schrecklicheres gibt es nicht.
Beate Dölling erzählt eine zunächst ganz einfache Geschichte. Die Heldin, Katharina, ist siebzehn und Auszubildende in einer Arztpraxis im ländlichen Brandenburg. Ländlich meint hier die Art von Gegend, in der es kein Kino, kein Theater, keine Bücherei gibt, die Busse zwischen den fast entvölkerten Dörfern im Höchstfall zweimal am Tag fahren und auch das nur an Werktagen. Der einzige Ort, an dem etwas los ist, ist das ‚Schlachthaus’, Kulturhaus, Dorfdisco, Kneipe und Jugendtreff. Dort tritt eines Samstags eine Band auf, die Flushers, deren Mitglieder aus so exotischen Orten stammen wie Amsterdam. Katharina verliebt sich in Armand, den Gitarristen.
Dabei hätte sie das gar nicht nötig, schließlich ist sie eines der angesehensten Mädchen der ganzen Gegend, mit ihren roten Haaren und ihrem Auftreten. Und sie ist die Freundin des begehrtesten Jungen vor Ort, Ingo.
Katharina aber zieht es fort, weg aus der dörflichen Enge, fort von Eltern, die zäh an ihrer kleinen engen Welt kleben, enttäuscht vom Leben. Fort von den nervigen Geschwistern und der Ausbildung, die sich eher Ausbeutung buchstabiert. Eigentlich auch weg von Ingo, der stets besser weiß, was gut für sie ist.
Dölling läßt in der Beschreibung der Verhältnisse nichts aus an Düsternis, Gemeinheit, Traurigkeit, sie ist schonungslos und bitter. Dabei genügen ihr ein, zwei Sätze zur Charakterisierung von Beziehungen, Situationen oder Menschen. Die Trostlosigkeit quillt aus den Seiten, die Herzlosigkeit der Menschen macht einen schaudern. Es ist das erste Jugendbuch, bei dessen Lektüre mich das zum Erbrechen pünktliche und politisch so korrekte Auftreten von Nazis, gleich ob neo oder histo, nicht im allergeringsten gestört hat. Weil es nämlich paßt zu all dem Widerwärtigen, Kleingeistigen, Dumpfen.
Zugleich ist es ein sehr trauriges Buch, es geht um verpaßte Chancen, um Gelegenheiten, die vertan wurden, um den Glücksmoment, den man ungenutzt verstreichen läßt.
Es ist aber kein Buch, das verurteilt, Es läßt einen viel mehr verstehen. In dem Maß, in dem sich Katharina durch ihre Träume von einem Leben in der großen weiten Welt mit Armand aus ihrer Passivität befreit, lernt sie, die Welt um sich herum, die Eltern und die Geschwister zu verstehen. Sie lernt sehen. Sie beginnt, Vergangenes und Gegenwärtiges zusammenzusetzen. Sie wird selbstbewußt, in dem sie sich ihrer selbst bewußt wird.
Von der großen Liebe bleiben Katharina am Ende nur Briefe. Sie bewahrt sie nicht auf, sie hat in der eigenen Familie erfahren, wie die Hoffnungslosigkeit einzieht, wenn man nur zurückblickt. Sie behält nur eine Adresse, eine neue. So wie sie bald eine andere Adresse haben wird, zunächst in Berlin. Die letzte halbe Seite gehört zu den gelungensten, von der Charakterisierung über die Handlungslogik bis zur Formulierung, in einem Buch das sowieso schon nahezu perfekt ist.
Der herbe Inhalt sollte einen nicht abhalten, Katharinas Geschichte zu lesen. Man würde einen ganz besonderen Blick aufs Leben verpassen.