Die Luftgängerin - Robert Schneider

  • Kurzbeschreibung
    (bei amazon geklaut, da ich den Klappentext meiner Ausgabe wenig aussagekräftig fand)


    Der Roman erzählt die Geschichte der Maudi Latuhr, geboren 1970 im rheintalischen Städtchen Jacobsroth. Wer ist dieses Mädchen? Ein Engel? Oder ist sie eine Luftgängerin, ein Mensch also, der nur auf sein Herz hört, der niemandem auf der Welt gehorcht, sondern tut was er will? Maudi erweist sich als geheimnisvolles Wesen, das die Menschen anrührt und Sehnsucht in ihnen entfacht. Nach "Schlafes Bruder" ist dies der zweite Roman des Robert Schneider. Er stellt sich den großen philosophischen Fragen der Gegenwart und setzt gleichzeitig mit seinen beeindruckenden Landschaftsbeschreibungen seiner rheintalischen Heimat ein Denkmal.


    Über den Autor
    (dito, wenngleich fast identisch mit der Biografie im Buch)


    Robert Schneider, geboren 1961, lebt in Meschach, einem Bergdorf in Vorarlberg. Für seinen Debütroman "Schlafes Bruder" (1992) erhielt er zahlreiche in- und ausländische Preise, das Buch wurde in 24 Sprachen übersetzt. 1998 erschien, ebenfalls mit großem Erfolg, im Blessing Verlag sein zweiter Roman "Die Luftgängerin".


    Meine Meinung


    Eines vorneweg: ich habe vor etlichen Jahren "Schlafes Bruder" gelesen und fand es gräßlich. Ich empfand es zwar sprachlich auf hohem Niveau, die Idee grandios, aber die Charaktere, die Geschichte, das gesamte Buch gefielen mir gar nicht. Den Film habe ich mir gleich ganz geschenkt.
    Gekauft hätte ich mir danach sicher kein zweites Buch Robert Schneiders - aber "Die Luftgängerin" bekam ich eben nun mal geschenkt. Es schlummerte schon geraume Zeit auf meinem SUB, landete "zufällig" beim Aufräumen neulich oben auf den Stapel und lachte mich mit seiner doch ausnehmend schönen Aufmachung gestern früh an.
    Was ein Glück! :-]


    Allein mit dem einleitenden, wunderschönen Zitat Hilde Domins "Ich setzte den Fuß in die Luft, und sie trug" hatte mich das Buch schon am Haken.


    Die Geschichte beginnt, als sich Ambros Bauermeister auf den Weg macht, seinen alten kranken Vater aus dem Krankenhaus in St. Gallen ins Graubündnerische heimzuholen. Doch er kommt nie in St. Gallen an. Denn auf der Zugfahrt dorthin begegnet er Amrei Lathur und verliebt sich auf den ersten Blick in sie. Als sie im Rheintal aussteigt, verläßt auch er den Zug - und bleibt. Sie heiraten und zeugen Maudi, das seltsame Mädchen.
    Der Roman spannt den Bogen vom Jahr 1969 über die Dekade der 70er und der 80er bis in die 90er Jahre. Er erzählt die Lebenswege und Schicksale von Ambros und Amrei, deren Ehe zerbricht, von Amreis Mutter Margot Mangold, von Ines, der besten Freundin Amreis und deren Tochter Esther, die so alt ist wie Maudi und von allerlei skurriler Personen, die das fiktive Städtchen Jacobsroth bevölkern. Während die Handlung in der Zeit vorwärts marschiert, gibt es immer wieder Rückblenden, wird die Vergangenheit Jacobsroths und seiner Bewohner ausgegraben.


    Es ist ein schräges Buch, keine Frage. Auf eine ganz eigene Art verschroben und merkwürdig. Die Menschen darin sind merkwürdig, ihre Charaktere und Eigenarten, ihre Lebens-, Liebes- und Sterbensgeschichten, ihre Beziehungen untereinander. SO merkwürdig, dass es eigentlich unglaubwürdig ist - aber SO wunderbar erzählt, mit so viel Liebe zum Detail, zärtlich, spöttisch, manchmal gar zynisch oder karikierend, aber immer "menschelnd" - so wunderbar, dass ich fast versucht bin zu glauben, es gibt Jacobsroth tatsächlich.


    Es ist das erste Buch, bei dem es mich NICHT gestört hat, dass die Dialoge mit Bindestrichen gekennzeichnet sind statt mit Anführungszeichen. Denn trotzdem schafft Schneider es, dann man diese Dialoge mühelos verfolgen kann, die Stimmen der Figuren förmlich hören kann, ihre jeweils ganz eigene Art zu sprechen. Wunderbar fand ich auch so winzige Details der entsprechenden Zeit, die in mir völlig unerwartet Erinnerungen an meine Kindheit und Jugend hervorgerufen haben.
    Schneiders Sprachstil ist unglaublich kunstvoll und kreativ, richtig malerisch, nur an wenigen Stellen ein wenig schwurbelig. Vor allem dann wunderschön (aber nicht nur), wenn er die Landschaft des Rheintals beschreibt.


    Nebel, der wochenlang im Rheintal nistete, verging plötzlich. Verging so wundersam wie Zuckerwatte im staunenden Kindermund. Der Himmel war ein zerbrechliches, türkisblaues Glas, in das hochfliegende Aeroplane Kondensstreifen kratzten. (...) Dem Bodensee ging das Grün aus, und sein Wasser lag schiefergrau. (S. 95)


    oder


    Das Leben war Fluß und ging dahin und war alles und war nichts, und endlich Vergessen. Heimweh habe ich, ihr fünfgeschossigen Tannen von Meschach. Und das Heimweh frißt mir den Tag. (S. 274)


    haben mich einfach sprachlos vor Staunen gemacht.


    Zuweilen ist das Buch kitschig, überdreht, abstoßend, meist aber poetisch, tiefgründig, ebenso traurig wie humorvoll. Philosophische Betrachtungen über die Liebe, das Leben, Schuld und Sühne, der Grauzone zwischen Wahnsinn und Heiligkeit, über Kunst, über die Gesellschaft (und und und) finden sich fein eingewoben.
    Gegen Ende war es mir ein wenig zu dick aufgetragen, aber das ließ sich mit dem Schluß an sich durchaus verschmerzen.


    Ich hatte schon mit der Lektüre begonnen, war bereits vollkommen gefesselt, als ich bei amazon erst die sehr polarisierenden Rezis gesehen habe. Jetzt, nachdem ich das Buch heute einfach nicht mehr aus der Hand legen konnte, verstehe ich das auch: es IST ein polarisierendes Buch, und mich hat es vollauf begeistert. :anbet