Stimmengewirr - Mischa Bach

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  • Kein Loch ist tief genug, die Vergangenheit zu begraben. Aber jeder Spiegel reicht aus, um Erinnerungen an die Gegenwart zu wecken.“


    Cäcilia-Josephine Greschke, 28, Jura-Studentin, ist auf der Flucht. Sie hat ihren Professor niedergeschlagen und sich mit 30.000,- Euro in bar davongemacht. Wie kam es dazu? Oberflächlich betrachtet, weil der Professor nach einer Veranstaltung zudringlich geworden ist. Doch die wahren Gründe liegen tiefer: in Cäcilia-Josephines Vergangenheit. Bei Ereignissen, an die sie nur bruchstückhafte Erinnerungen hat.


    Zeit für sie, sich mit ihrer offenkundig traumatisierenden Vergangenheit auseinanderzusetzen. Doch das ist nicht so leicht, denn Cäcilia-Josephine ist nicht einfach nur Cäcilia-Josephine, sondern „Jo & Co.“ – eine multiple Persönlichkeit.


    Rund ein halbes Dutzend Charaktere teilen sich ihren Körper und ihr Leben: die vernünftige Anna ... Jo, eine Frau mit Stil und Geschmack ... Tom, ein rotziger Teenager mit Drogenerfahrung ... die Kinder Jolanda und Schneewittchen ... Cäcilia, die brave Tochter – und Josephine, die den chaotischen Haufen zusammenhält und die Gruppe der Identitäten meist nach außen hin vertritt. Als „Fassade“, wie sie sagt.


    So verschieden wie der Entwicklungsstand der verschiedenen Persönlichkeiten ist, so verschieden ist auch deren Wissensstand über die Vergangenheit. Zwar können die verschiedenen Identitäten miteinander kommunizieren, doch gelingt es ihnen nicht, die Mosaiksteinchen ihrer Erinnerung zu einem vollständigen Bild zusammenzusetzen. Zu groß sind die Lücken. Irgend etwas Traumatisches muss sich in ihrer Kindheit ereignet haben. Und vermutlich hängt es mit dem saftigen Wirtschaftsskandal zu zusammen, in den die elterliche Druckerei vor Jahren verwickelt war. Nur wie? Das wissen sie nicht.


    Direkt fragen können Jo &. Co. niemanden. Ihr Vater lebt nicht mehr und von Mutter Heidrun ist keine Hilfe zu erwarten. Sie macht sich ihre Welt wie sie ihr gefällt und hat schon immer gern die Augen vor unangenehmen Wahrheiten verschlossen. Die „Geschwister“– wie sich die Gruppe der Persönlichkeiten nennt –, beschließen, die Angelegenheit ein für allemal zu klären und in ihre Heimatstadt Oldenburg zurückzukehren. Unterstützung erhalten sie von ihrem Halbbruder Mike, einem Kleinkriminellen, und von dem Journalisten Rudolf A. Meerbach, der seinerzeit mehrfach über den Skandal und den Prozess rund um die Druckerei Berling berichtet hat.


    Schicht um Schicht kommen nun die Schweinereien von damals ans Licht. Und immer, wenn Jo & Co. – und die Leser – denken, jetzt sei der Bodensatz der menschlichen Schlechtigkeit erreicht, jetzt kann es nicht mehr schlimmer kommen, wird eine weitere Lage an Lügen und Geheimnissen abgetragen und noch Übleres zu Tage gefördert ...


    Es ist schon spannend zu beobachten, wie eine Einzelperson düsteren Familiengeheimnissen auf die Spur kommt. Im Fall von Jo &. Co. multipliziert sich die Spannung noch. Abwechselnd erzählen die einzelnen Persönlichkeiten in der Ich-Form von ihrer Suche nach der Wahrheit und puzzeln sich das Drama ihrer Kindheit nach und nach zusammen. Stets erkennt man auf Anhieb, wer gerade in den Vordergrund getreten ist und zum Leser spricht, so unterschiedlich sind Sprachstil, Verhalten und Gedankenwelt. Auch für eine „Außenperspektive“ ist gesorgt: Mitunter schildert auch Halbbruder Mike den Fortgang des Geschehens.


    Wird es den traumatisierten Halbgeschwistern gelingen, auch die letzte Lügenschicht freizulegen und die volle Wahrheit zu erfahren ...?


    Erstaunlicherweise sehnt man als Leser nicht unbedingt eine Heilung von Cäcilia-Josephine herbei. Jo & Co., wie sie miteinander leben, umgehen, streiten und verhandeln, kommen einem mit der Zeit fast so „normal“ vor wie eine ganz gewöhnliche Geschwisterschar. Man würde es geradezu bedauern, wenn die verschiedenen Charaktere miteinander verschmelzen und damit als Individuen ausgelöscht würden.


    Eine faszinierende Heldin, eine außergewöhnliche Perspektive und ein perfider Fall machen diesen Kriminalroman zu einem besonderen Erlebnis.

    Und was die Autofahrer denken,
    das würd’ die Marder furchtbar kränken.
    Ingo Baumgartner

  • Herzlichen Dank Vandam :-]


    für die tolle und ausführliche Rezi. Habe es mir sofort notiert, da es sich nach einer sehr interessanten Geschichte anhört und ich schon Bücher in diese Richtung gelesen habe. :wave

  • Klappentext:


    Kein Loch ist tief genug, die Vergangenheit zu begraben. Aber jeder Spiegel reicht aus, um Erinnerungen an die Gegenwart zu wecken.
    Josephine ist mehr als "eine Frau mit vielen Gesichtern", sie ist "Jo & Co", eine multiple Persönlichkeit. Jetzt will sie endlich Klarheit haben.
    Mischa Bach enthüllt Stück für Stück die perfide Struktur eines Familienbetriebes der besonderen Art. Und sie zeigt nebenher, wie das ist, wenn mehrere Persönlichkeiten in einem Körper - einem Gehirn - wohnen, sich den Alltag teilen, Freundschaften schließen, Entscheidungen treffen, sich streiten, sich lieben, weinen und lachen.


    Portrait:


    Mischa Bach alias Dr. Michaela Bach, geboren 1966 in Neuwied am Rhein, lebt in Essen. Sie studierte Filmwissenschaften und schrieb Drehbücher unter anderem für Polizeiruf 110. Ihr erster Roman "Der Tod ist ein langer trüber Fluss" brachte ihr 2005 eine Nominierung für den Glauserpreis in der Debut-Sparte ein. Nach zahlreichen Kurzgeschichten ("Vollmond" wurde für den Glauser-Kurzkrimi-Preis 2002 nominiert), ist "Stimmengewirr" ihr zweites Buch.


    Meine Meinung:


    Dieser Krimi ist etwas Besonderes, insofern dass die Protagonistin aus mehreren Persönlichkeiten besteht: Cäcilia, die Brave, Anna, die Vernünftige, Tom, der aufmüpfige Teenager, die Kinder Jolanda und Schneewittchen, Josefine, die den chaotischen Haufen versucht zusammenzuhalten - sie alle teilen sich Jo's Körper und kommen abwechselnd zu Wort. Dabei ist es, zugegebenermaßen nach kurzer Eingewöhnungszeit, gar nicht mehr schwierig, zu unterscheiden, wer gerade am Zug ist, so individuell sind die verschiedenen Charaktere gezeichnet und so individuell ist ihre Sprache.
    Sicher, auch der Kriminalfall ist spannend. Natürlich möchte man wissen, was es mit dem Unfalltod von Jo's Vater auf sich hat, was ihr Bruder weiß, der im Gefängnis sitzt, in welchen Wirtschaftsskandal die elterliche Firma vor Jahren verwickelt war, und vor allen Dingen, welches traumatische Ereignis zu Jo's Spaltung geführt hat. Am spannendsten allerdings fand ich tatsächlich den Einblick in den Alltag einer multiplen Persönlichkeit, so überzeugend, einfühlsam und teilweise sogar humorvoll erzählt, dass man am Ende meint, all diese Spaltpersönlichkeiten zum Freund zu haben.
    Ich hab dieses Buch im letzten Sommerurlaub gelesen - eigentlich am Stück. Während sich meine Familie im Wasser vergnügte, lag ich mit diesem Buch am Strand und las und las ... bis zum Sonnenbrand. Es hat mich wahnsinnig berührt und ist für mich eins der Bücher, dass so lange nachklingt, dass man es nicht so schnell vergisst.

    Worte sind Waffen. Wenn Ihnen etwas ganz stark am Herzen liegt, legen Sie Ihre Waffe an und feuern. (James N. Frey)

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  • Eine interessante Rezension, das klingt ein wenig nach Matt Ruffs: Ich und die Anderen.
    Das Thema interessiert mich sehr, und ich habe es mir gleich notiert, vielen Dank!


    aufmerksam gewordene Grüße von Elbereth :wave

    “In my opinion, we don't devote nearly enough scientific research to finding a cure for jerks.”

    ― Bill Watterson

  • Huch, da existiert tatsächlich noch eine zweite Rezi von mir zu diesem Buch - ich hab sie allerdings unter "Krimis" eingestellt (und natürlich auch nur dort recherchiert) :rolleyes


    Vielleicht kann ein Mod die beiden Threads zusammenfügen? :anbet


    Mischa Bach "Stimmengewirr"


    Was ich besonders beeindruckend fand ist, dass Mischa Bach es geschafft hat, aus so vielen verschiedenen Perspektiven zu schreiben ohne dass auch nur ein einziges Mal Unklarheit aufkommt, wer da gerade berichtet, welche der einzelnen Persönlichkeiten gerade am Zuge ist.
    Manchmal brauchte es ein paar Zeilen, bevor ich wusste, wen ich da vor mir hatte, aber gerade das hat dieses Buch für mich so spannend und lesenswert gemacht. Auch die Schilderung von wirklich kuriosen Situationen, wie sie im Leben von Multiplen zwangsläufig vorkommen müssen, waren unterhaltsam, witzig und gleichsam nachdenklich machend. Wie viel Kraft muss es die Betroffenen kosten, all diese Spaltpersönlichkeiten zu koordinieren ohne auf die Umgebung völlig durchgeknallt zu wirken?
    Jo (& Co) ist eine der Heldinnen in der Literatur, die mich nachhaltig beeindruckt und in ihrer Tiefe berührt haben. Unbedingt empfehlenswert!

    Worte sind Waffen. Wenn Ihnen etwas ganz stark am Herzen liegt, legen Sie Ihre Waffe an und feuern. (James N. Frey)

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