Während im „Nachtzug nach Lissabon“ ein Professor sein altes Leben verlässt, indem er sich nach einer Eingebung in den Zug setzt, werden einige Figuren aus der Novelle „Lea“ das Gleiche erleben, mit einem Unterschied: Sie tun diesen Schritt nicht freiwillig, weil dieser Zug mit tödlicher Geschwindigkeit gen Fels rast.
Nach einer eher zufälligen Begegnung zweier Fremder im Straßencafé der Provence werden sie zu Verbündeten, entdecken Parallelen zwischen ihren Existenzen und werden sich nach kurzer Zeit ihrer Rolle bewusst, nisten sich dort ein und folgen ihrer Bestimmung während der gesamten Heimfahrt nach Bern. Adrian Herzog als Zuhörer, ein an sich zweifelnder Chirurg und ebenso zweifelnd als Familienvater. Martijn van Vliet, als erfolgreicher Kybernetiker und Erzähler. Erzähler der Geschichte seines Lebens, seines Schicksals und allem voran das seiner Tochter Lea.
Lea, nachdem sie durch den Tod der Mutter verstört durchs Leben stolpert, wird eines Tages von Geigenklängen aus der Bahnhofshalle aufgerüttelt, ihre Augen leuchten, findet wieder einen Platz im Leben, nimmt Geigenunterricht, probt Tag und Nacht, bis sie mit dreizehn ihren ersten öffentlichen Autritt hat. Martijn ist von der Entwicklung wenig begeistert. Anfangs unterstützte er noch ihre aufflammende Lebensfreude, doch mit jedem weiteren Tag entfernt sich Lea von ihm, flüchtet in ihrem Raum von Klängen, den sie sich mit rasendem Ehrgeiz errichtet hat und sich darin abschottet, in dem Martijn sich ausgeschlossen fühlt. Und doch nährt ihn die Eifersucht, Verletztheit und Liebe, wird Sklave ihrer Wünsche, vernachlässigt seine eigenen Bedürfnisse, wird zu Leas Marionette, verliert die Zügel seines Verstandes, taumelt durch seine Machtlosigkeit in den Abgrund, in den sie ihn hineinzieht, sie, die vom Druck des Erfolges gepeinigt wird und zerbricht.
Die Geschichte, die sich als Klischee anhört, rettet sich durch Merciers ausgefeilte Sprache, die eindringlich, bedrückend, meisterhaft komponiert ist und sich mit ihr in die Tradition alter Meister einreihen darf. Melancholisch, hoffnungslos, zerschmetternd. Manchmal erhalten diese Sätze einen pathetischen Anstrich, der dem Genuss jedoch keinen Abbruch tut. Wer sich an verregneten Tagen also in seinem Trübsinn baden möchte, dem sei das Buch ans Herz gelegt
Gruß,
chip