Michel Friedman - Kaddisch vor Morgengrauen, erschienen im Mai 2005, 154 Seiten
Über den Autoren:
Michel Friedman, Sohn polnischer Holocaust-Überlebender (auf der Schindler-Liste), wurde 1956 in Paris geboren. Geprägt durch seine Eltern, die die Shoah überlebten, begann er schon früh, sich für das jüdische Volk zu engagieren. Nach der Übersiedlung 1965 nach Deutschland (Frankfurt/Main) studierte Friedman zunächst Medizin, später Rechtswissenschaften. Politisch gehört er der CDU an und war in Frankfurt/Main Stadtverordneter. Nebenbei war Friedman auch im Fernsehrat des ZDF.
Von 200 bis 2003 war Friedman Vizevorisitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, trat von diesem wie von allen andereren öffentlichen Ämtern und seiner Fernseh-Talkshow jedoch 2003 zurück, nachdem der Verdacht aufkam, er habe gegen das Betäubungsmittelgesetz verstoßen (er soll Probleme mit dem eher übermäßigen Genuß von Kokain gehabt haben).
2004 heiratete Friedman die Moderatorin Bärbel Schäfer, die für diese Hochzeit zum jüdischen Glauben konvertierte.Das Paar hat ein Kind.
Über das Buch:
Das Kaddisch ist im jüdischen Glauben das Totengebet. Und in diesem Buch wird der Leser Zeuge eines inneren Monologs. Ein Vater berichtet seinem schlafenden Kind. Alles. Von Anfang an. Das ganze Leben, das Elend, das Leiden der Großeltern, die die Shoah überlebten und die nur durch ihn weiterlebten, weiterliebten und das Leben ertragen konnten. Ihre Verdrängungsmechanismen. Und der enorme Druck auf den Vater, das Leben zu leben, das die Großeltern so gerne gelebt hätten.
Diese Großeltern leben nicht mehr. Und der Vater versucht seinem Kind zu erklären, wie das Leben und Erleben auch der Großeltern heute noch ihn und damit auch das Kind beeinflußt hat und immer beeinflussen werden.
Meine Meinung:
Man kann von Michel Friedman halten, was man will, aber ein solches Buch habe ich nicht erwartet und hätte ich ihm auch nicht zugetraut. Es geht hier nicht um Schuld oder Rache, Hass oder Sühne, es geht um das Verhältnis von Kindern zu ihren Eltern und Großeltern, zu der Familie und damit dazu, daß das, was die Eltern erleben, auch die Kinder und Enkel noch prägen kann. Gleichzeitig ist es ein rührendes Buch um Abschied, Liebe, Schmerz und den Versuch, Dinge aus der Vergangenheit hinter sich zu lassen, zu verarbeiten und endgültig loszulassen, die Vergangenheit nicht immer hinter einer Fassade zu verstecken. Das Buch könnte in jeder anderen Kultur zu vielen anderen Zeiten spielen, aber Friedmans eigene Biographie ließ sicherlich nur die Zusammenhänge des Holocaust zu, aber ich denke, man kann es stellvertretend für all die Menschen sehen, denen großes Unrecht angetan wurde und die dieses Unrecht an ihre Kinder und Kindeskinder weitergeben, auch, wenn sie es nicht wollen. Die Schatten sind immer da.
Friedman schreibt sehr gefühlvoll, ruhig, im inneren Monolog, der zuerst etwas vewirrend ist, weil die Personenzuordnung nicht ganz eindeutig ist (der Erzähler spricht mal vom Vater, mal von "deinem Großvater"), aber ich muß gestehen, daß ich das Buch gestern abend in einem Rutsch durchgelesen habe. Gut, es hat nur 154 Seiten, aber es war so berührend, daß ich einfach nicht aufhören konnte.
Außedem ist es ein Buch, in dem es auch darum geht, erwachsen zu werden, seinen eigenen Weg zu finden und auch, Abschied zu nehmen. Der Tod ist allgegenwärtig in diesem Buch, aber er wird weder beschönigt noch verleugnet, in einem Buch, das nur aufgrund der Shoah so geschrieben werden konnte, ist er einfach da.
Ich weiß, daß sich an diesem Buch die Geister scheiden, aber ich für mich kann sagen: Eines der besten Bücher, die ich seit langem gelesen habe. Und ich habe es sicherlich nicht das letzte Mal gelesen. 9 Punkte!