So fern wie der Himmel, Julian Lees, Originaltitel "A Winter Beauty", Übersetz. von Gloria Ernst, Blanvalet, 2006, ISBN 978-3-764-5018-71, 19,95 €
Zum Autor: lt. Klappentext
Julian Lees wurde 1967 in Hongkong geboren. Schulzeit und Studium absolvierte er in England. Als Kind verbrachte er viel Zeit bei seinen Großeltern George und Agrapina Talbot und lauschte atemlos den Erzählungen büer ihr bewegtes Leben in Russland und Schanghai. Eines Tages beschloss er dann, seinen Beruf als Aktienhändler aufzugeben und einen Roman zu schreiben, der auf der mitreißenden Geschichte seiner eigenen Familie basiert. Julian Lees lebt mit seiner Frau und seinen Kindern in Hongkong.
Meine Meinung:
Wenn man dem Klappentext des Buches glauben schenken kann, erzählt uns Julian Lees in seinem Debütroman „So fern wie der Himmel“ die Geschichte seiner eigenen Großeltern. Das erscheint mir auch durchaus plausibel, da Julian Lees die Geschichte der beiden Protagonisten sehr liebevoll und in manchen Szenen ohne kritische Distanz erzählt, was das Lesevergnügen aber in keiner Weise schmälert.„So fern wie der Himmel“ erzählt die Geschichte von George und Agrapina Talbot, ihre Kinder- und Jugendjahre bis hin zu Ihrer Eheschließung. Dennoch ist der Roman eher eine Familiensaga vor historischem Hintergrund als Liebesroman.
Kurz nachdem der zarentreue Kosake Wassya Trofimow endlich vom Krieg nach Hause gekommen ist, wird er von einem missgünstigen Vetter an die Milizen verraten. Die Familie muss 1918 fliehen und reist unter furchtbaren Umständen beständig begleitet von Hunger, Krankheit, Angst und Tod vom Ural in das russisch-chinesische Grenzgebiet bei Harbin, wo sie sich ein neues Leben aufbauen müssen. Aber auch hier finden sie keine dauerhafte Ruhe. Als Wassyas rachsüchtiger Cousin wieder auftaucht, müssen sie die bescheidene scheinbare Sicherheit, die sie sich aufgebaut haben, wieder verlassen und fliehen 3000 km südlich in die schillernde Handelsmetropole Schanghai, ohne vorher zu wissen, dass Russen dort nur eine verachtete Minderheit sind und damit ihr Kampf ums nackte Überleben erneut beginnt. George Talbot ist der dritte Sohn eines wohlhabenden eurasischen Industriellen Shanghais. Als Mischling gehört er zu einer wenig geachteten Bevölkerungsschicht. Sein Vater, der Zeit seines Lebens unter der Missachtung der Europäer und Asiaten litt, versucht seinem Sohn George über eine unbeugsam strenge Erziehung das Rüstzeug für sein späteres Leben zu geben, vermittelt ihm aber auch Werte. Als Agrapinas und Georges Wege sich kreuzen und sie sich verlieben, müssen sich die beiden jungen Menschen mit Vorurteilen in ihrer Familie, ihren Wurzeln und Traditionen auseinandersetzen. Während dessen führen beide aber auch ihren alltäglichen Kampf im politischen Hexenkessel Shanghai Anfang der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts...
Julian Lees erzählt uns die Geschichte seiner Großeltern von der russischen Revolution bis zu den Dreißigerjahren in Shanghai so, dass er als Erzählerstimme fast vollständig verschwindet. Er erzählt unaufdringlich, mal temporeich, lebendig und laut, mal malerisch, sensibel und leise, mal mit leisem Humor. Er findet immer die richtigen Worte, um seine Charaktere, deren Handeln und Denken fühl- und erlebbar zu machen und auch parallel vorhandene widerstreitende Emotionen zum Ausdruck zu bringen. George und Agrapina sind Charaktere, die ihre Stärken und Schwächen haben, die gut sind, aber auch böse sein können.
„So fern wie der Himmel“ von Julian Lees ist eine fesselnde Familiensaga vor dem Hintergrund der russischen Revolution bis hin zu den Dreißiger Jahren in Schanghai. Das Buch mag wie geschaffen sein für lange Winterabende – ich konnte es schon im Sommer nach wenigen Seiten nicht mehr zur Seite legen, bis es beendet war. Da die geschichtlichen Ereignisse im China Anfang des 20. Jahrhunderts sicher noch einige Schwierigkeiten für George und Agrapina bereit hielten, hoffe ich sehr, dass uns Julian Lees die Geschichte seiner Großeltern weiter erzählt, nachdem er mit seinem Debüt schon gezeigt hat, welch hohe Erzählbegabung er hat. Wer „Die russische Konkubine“ von Kate Furnivall mit Freude gelesen hat, wird „So fern wie der Himmel“ von Julian Lees mit mindestens eben solchem Vergnügen lesen.