Das gestohlene Kind, Keith Donohue, Originaltitel "The Stolen Child", Übersetz. Sabine Herting, C. Bertelsmann Verlag, München, 2007, ISBN 3-570-00936-9, 19,95 €
Zum Autor: lt. Klappentext
Keith Donohue lebt mit seiner Familie in der Nähe von Washington D. C. Er war lange für die nationale Kulturstiftung der Vereinigten Staaten tätig, bevor er freier Schriftsteller wurde. Das gestohlene Kind ist sein erster Roman, eine Verfilmung ist in Vorbereitung.
Meine Meinung:
In seinem Debütroman “Das gestohlene Kind”, im Original unter dem Titel “The Stolen Child” erschienen, verknüpft Keith Donohue die reale Welt Mitte des 20. Jahrhunderts mit einer mythischen, märchenhaften Parallelwelt, um seinen Lesern die Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens, die Bedeutung von Identität und den Verlust der Kindheit vor Augen zu führen.
Eines nachmittags läuft der siebenjährige Henry von zu Hause fort, weil er sich von seiner Mutter, die noch zwei jüngere Zwillingsmädchen zu versorgen hat, nicht ausreichend beachtet fühlt. Abends wird er in einem hohlen Baum gefunden. Die überglücklichen Eltern bemerken gar nicht, dass nicht dasselbe Kind heimgekehrt ist. Kobolde, geheimnisvolle alterslose Waldbewohner, haben Henry ausgetauscht. Zwar gleicht er äußerlich vollkommen dem echten Sohn, in Wahrheit ist er aber ein vor langer Zeit gestohlenes Menschenkind, ein Kobold, der nun aus der Schattenwelt als Wechselbalg zu den Menschen zurückkehrt und muss sich sensibel in die ihm fremde Familie einfinden. Lediglich Henrys Vater hat gelegentliche Verdachtsmomente, die er sich aber nicht erklären kann. Der wirkliche Henry, lebt nun unter dem Namen Aniday bei den Waldwesen und muss lernen sich bei Ihnen einzuleben. Henry und Aniday wachsen in ihre Welten hinein und die Bilder der Vergangenheit schwinden zusehends. Tief im Inneren sind jedoch bei beiden Erinnerungen an die Vergangenheit vorhanden. Bei Henry bringt die Musik eine unbekannte Saite in ihm zum Klingen und erweckt eine unstillbare Sehnsucht nach etwas für ihn nicht Greifbarem. Bei Aniday sind es Verlustgefühle, die ihn in Träumen verfolgen, die ihn nach seiner Vergangenheit forschen lassen und ihn sein Leben und seine Geschichte aufschreiben lassen. Mit der Zeit rücken die Welten von Henry und Aniday immer näher zusammen und irgendwann trennt sie nur noch ein dünner Vorhang...
Keith Donohue läßt Henry und Aniday abwechselnd selbst ihre Geschichte erzählen. Obwohl Henry sich entwickelt, erwachsen und älter wird, hat er ebenso mit seinem Leben und seinen Erfahrungen zu kämpfen wie Aniday, der äußerlich nicht mehr altert und gewissermaßen in der Kindheit, die Henry ihm gestohlen hat, gefangen ist. So sind die Geschichten von Henry und Aniday in ihrer Parallelität verknüpft und verschlungen wie ein keltischer Knoten, zu dem es weder Anfang noch Ende gibt. Beide müssen sich letztlich mit ihrem Umfeld arrangieren, um ihren Weg zu gehen und ein Stück Lebensglück und Liebe im Leben zu finden.
Hat mich zunächst die Entwicklung beider Figuren gefangen genommen und atemlos weiter lesen lassen, empfand ich nach einiger Zeit die Darstellung von Henrys Leben in der realen Welt als deutlich stärker. Keith Donohues Sprache und Dialoge sind schlicht, aber dennoch greifbar und realistisch und lassen Henrys Leben in den fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts in Amerika vor den Augen des Lesers wie ein Film vorüberziehen. Einige Passagen zeigen dabei deutlich die irischen Wurzeln des amerikanischen Autors Keith Donohue. Deutlich schwächer schien mir da immer mehr die Darstellung des Lebens der Kobolde im 20. Jahrhundert, die gar nicht in der Lage sind, ihr Leben im Wald unabhängig von den Menschen zu bewältigen sondern gezwungen sind, sich immer wieder in die Siedlungen der Menschen zu begeben, um Nahrung, Kleidung und sonstige Annehmlichkeiten zu stehlen. Dennoch ist die eine Geschichte ohne die andere nicht denkbar. Die unausweichliche Begegnung der beiden Protagonisten zum Ende ist leider für mich nicht zum Höhepunkt des Buches geworden und das abschließende Ende, erscheint mir ein wenig kitschig.
Der von einem Gedicht von William Butler Yeats inspirierte Roman „Das gestohlene Kind“ erzählt vom Drang nach Unabhängigkeit und Erwachsenseins eines Kindes und von der Suche nach der verlorenen Kindheit und der eigenen Identität eines in gesellschaftlichen Restriktionen verhafteten Erwachsenen. Der Autor spielt mit dem Einsatz des Wechselbalg-Mythos mit menschlichen Urängsten, er nutzt die traditionellen Legenden, um die Eigenheiten des menschlichen Lebens herauszuarbeiten.
Keith Donohues Entwicklungsroman „Das gestohlene Kind“ beruht zweifellos auf einer interessanten Idee, ist durch den Einsatz literarischer Phantasie originell gestaltet und kann mit seiner schlichten, aber eindringlichen Sprache schnell fesseln. Leider hat die insbesondere zur Mitte hin starke Faszination bei mir zum Ende hin immer mehr nachgelassen, was bei mir aber vor allem daran lag, dass mich die weitere Entwicklung der beiden Protagonisten einfach nicht mehr so interessiert hat, was aber weniger an der Ausführung des Romans durch den Autor lag als am Thema des Romans.