'Leben, um davon zu erzählen' - Kapitel 1 - 2

  • Zitat

    Original von Eli
    Jose Felix, Fuenmayor´s Vater vertrat die Ansicht, dass die inhaltlichen Unterschiede zwischen Leben und Literatur auf formalen Fehlern beruhten….
    Was sagt ihr dazu?


    So ganz genau weiß ich zwar nicht, was Jose Felix mit formalen Fehlern meint, aber meinen Meinung dazu:


    Der Unterschied von Leben und Literatur kann vielfältig sein.
    Geht man davon aus, dass Literatur möglichst genau das Leben abbilden möchte, ist es doch immer nur eine Seite, die gezeigt wird. Viele verschiedene Perspektiven in Büchern können das abmildern.
    Das eigentliche Leben setzt sich aus so vielen komplexen Einzelteilen und Wechselwirkungen zusammen, die nicht alle auf einmal wiedergegeben werden können. Daher ist der Schriftsteller, der ja "nur" mit Worten arbeitet (ein armseliges Werkzeug eigentlich), so eingeschränkt. Er müsste seine Schilderungen am besten noch durch Gemälde ergänzen, oder die Gefühle seiner Erzählung durch Musik ausdrücken.
    Der ideale Autor müsste ein Universalgenie sein. Da es solche Wundertiere in der Regel nicht gibt, begnügt sich der Leser mit einer Form und meine Bewunderung für Schriftsteller, die dann doch möglichst viel ausdrücken, ist grenzenlos.
    Literaturverfilmungen und Hörbuchversionen sind Formen, die die Literatur ergänzen können. Doch da spielen wieder fremde Interpretationen hinein, so dass das auch keine adäquaten Mittel sind.


    Doh die Literatur hat auch Vorteile dem Leben gegenüber. (Ich spreche da nicht von Erbauungsliteratur, das ist nur eine Selbsttäuschung.)
    Das menschliche Gehirn ist gut darin, seine Besitzer und ggf. dessen Leser zu täuschen. Schmerzhafte Erinnerungen werden verdrängt oder sogar durch falsche ersetzt. Darum geht es ja auch in diesem Buch.
    Die wahrhaft erinnerte Literatur kann diese Erinerungen festhalten, vorm vergessen bewahren, vertiefen und Schlußfolgerungen möglich machen. Ein Ideal! In den meisten Fällen muss man sich mit einer Annäherung zufrieden geben, aber meine Bewertung eines autobiographischen Buches hängt stark davon ab.




    Verrückt nach Kafka. Noch so eine interessante Empfehlung. Das hat gerade noch gefehlt. seufz!
    Darin geht es auch um Bücher, um Erinnerungen und um das frühe Greenich Village in New York kurz nach dem zweiten Weltkrieg. Der Autor war zudem Vorbild für Philip Roth genialen Roman Der menschliche Makel.
    Bitte schreibe mir anschließend deine Meinung darüber. Ich werde es mir fast sicher auch besorgen.

  • Erst mal Hallo an alle.


    Wenn auf Grund gesundheitlicher Probleme zwar etwas verspätet -aber besser spät als nie- habe ich jetzt endlich auch angefangen. Ich hatte ja die ersten beiden Kapitel schon im März gelesen und wollte sie jetzt einfach nur noch mal querlesen, aber das habe ich dann doch nicht geschafft. Ich musste es einfach wieder konzentriert lesen und bin deshalb erst auf S. 25, dennoch möchte ich schon mal ein paar Zeilen loswerden.


    Schön Herr Palomar, dass du das Zitat genannt hast, sonst hätte ich es einfach „nur“ gelesen. Ich bin auch der Meinung, dass man nach einiger Zeit viele Dinge mit anderen Augen sieht und so schreibt es der Autor dann auch nieder. Ich denke grundsätzlich hält er sich schon an Fakten. Wenn er allerdings etwas mit Kinderaugen (Großvater erzählt von der Bananenplantage) betrachtet, dann wird er manche Geschehnisse vielleicht noch gar nicht recht deuten können.


    Die Karte finde ich auch sehr hilfreich. Zum Glück ist in meinem Buch eine. :-)


    Ich hatte mir übrigens ursprünglich mal das Buch in der Bibliothek ausgeliehen, 2x verlängert und leider erst dann mit Lesen angefangen. Da nach mir einer das Buch vorgemerkt hatte, musste ich es zurückgeben bevor ich es hätte fertig lesen können, aber zum Glück habe ich es mir bei Tauschticket ertauschen können.


    Die Sprache ist so bildlich, ich denke immer ich sitze selbst im Zug und schaue aus dem Fenster.


    Ich kann mir übrigens sehr gut vorstellen, dass sich Marquez’ Eltern Sorgen machen, weil der Junge sein Studium abgebrochen hat. Mutig war das schon. Ist im Nachhinein ja wirklich supergut für ihn gelaufen, aber das wusste er damals ja noch nicht. Und die Mutter (ich stelle sie mir als kleines Mütterchen vor) muss die Mittlerrolle zwischen Vater und Sohn übernehmen.


    Nett fand ich wie M. seiner Mutter erzählt, dass 2 Hemden und 2 Unterhosen völlig ausreichten, eine auf dem Leib, die andere auf der Leine. Was braucht man mehr? Mit dem wäre er nach seinem Erfolg jetzt wohl auch nicht mehr zufrieden.


    Die Ermordung von zig Tagelöhnern auf der Bananenplantage ist sehr erschreckend, aber dieses Thema wird, wie ich glaube, nach ein paar Seiten noch einmal aufgegriffen.


    Ich weiß zwar nicht warum, aber ich muss immer wieder mal an Allendes Geisterhaus denken.


    Wo kommt eigentlich der Name Gabito her?

  • Zitat

    Original von Patricia_k34
    Wenn auf Grund gesundheitlicher Probleme zwar etwas verspätet -aber besser spät als nie- habe ich jetzt endlich auch angefangen.


    Hoffentlich geht es dir wieder gut. ich bin auch schon fast das ganze Jahre immer wieder mal Krank. Eine Erkältung jagt die andere.


    Zitat

    Original von Patricia_k34
    Ich bin auch der Meinung, dass man nach einiger Zeit viele Dinge mit anderen Augen sieht und so schreibt es der Autor dann auch nieder. Ich denke grundsätzlich hält er sich schon an Fakten. Wenn er allerdings etwas mit Kinderaugen (Großvater erzählt von der Bananenplantage) betrachtet, dann wird er manche Geschehnisse vielleicht noch gar nicht recht deuten können.


    Ich denke inzwischen auch, dass Garcia Marquez gut mit dieser Schwierigkeit umgeht.
    Eigentlich ist ja auch schon die Existenz des Zitats ein Hinweis, dass der Autor sich der Problematik des Erinnerns
    bewusst ist. Andere Autobiografien themnatisieren das nicht und verkaufen jeden Schwank aus ihrem Leben für bare Münze.


    Zitat

    Original von Patricia_k34
    Die Karte finde ich auch sehr hilfreich. Zum Glück ist in meinem Buch eine. :-)


    Ich lese die "derClub"-Ausgabe ohne Karte. In der KiWi-Ausgabe, die ich mir jetzt aus der Bibliothek ausgeliehen habe, ist die Karte enthalten.
    Wirklich sehr gute Karten. :-)
    Ich hatte die KiWi-Ausgabe schon einmal für die Kapiteleinteilung ausgeliehen gehabt, aber die Karte ist mir da gar nicht so aufgefallen.


    Zitat

    Original von Patricia_k34
    Erst mal Hallo an alle.
    Die Sprache ist so bildlich, ich denke immer ich sitze selbst im Zug und schaue aus dem Fenster.


    Ich finde Garcia Marquez Sprache auch immer schön. In dieser Autobiographie kommt sie zwar nicht immer voll zur Geltung, aber doch blitzen hier und da geniale Sätze auf.



    Zum Namen Gabito:
    Ich könnte mir vorstellen, das Gabito vielleicht eine Verkleinerungs- bzw. Verniedlichungsform von Gabriel ist. Eigentlich wird er meistens Gabo genannt. Zumindestens laut der Zeitschrift Bücher wird er heute in der ganzen spanischsprechenden Welt respektvoll-zärtlich Gabo genannt.
    Seine Zeitungskolumnen signierte er lange Zeit mit "Gabo"

  • So, endlich dabei. Hallo.


    Stichwort Erinnerung: ich interpretiere den vorangestellten Spruch so, dass nicht nur die nackten, von jedem Beobachter aufzählbaren Fakten ein Leben bestimmen, sondern die Gedanken und Gefühle des jeweiligen Lebenden, die Gerüche und Farben, an die er sich erinnert, er selbst eben. Und ich weiß, das Erinnerungen oft mehr sind, als dass, was wir selbst uns zu erinnern glauben, sondern Erzählungen der Familie oder anderer Personen, oder Träume, die irgendwann in die eigene Erinnerung integriert werden und mit ihr zu einem neuen verschwimmt, ohne, dass man selbst es bemerkt und rational trennen kann. Ähnlich wie Eli es schon schrieb, wie ich gerade gelesen habe. Und SiCollier auch.


    Stichwort Beweihräuscherung: dem kann ich auch nicht viel abgewinnen, aber vielleicht kommt es auch auf die Art an, wie der entsprechende Autor es schildert. Marquez zum Beispiel geht auf mögliche eigene Fehler erstmal nicht ein, schildert einfach, wie es war und was er tat. Seine Mutter ist jene, vielleicht auch sein Vater, die ihm die Fehler vorhält. Damit kann er sie auf literarisch elegante Art von sich weisen oder auch zulassen. Ich bin gespannt, was das Buch weiter davon zu berichten weiß.


    Skeptisch bin ich immer, wenn jemand sagt, schon als Kind, quasi noch im Mutterleib, beschloss er/sie schon Schriftsteller/in zu werden. Dass klingt nach dem Bedürfnis, etwas Besonderes zu sein. Reichen nicht die eigenen Werke als Beweis aus? Marquez jedenfall hat, wie Palomar schon bemerkt, von Anfang an den Willen, Schriftsteller zu werden. Sehr schön die Stelle, als seine Mutter sich davon überzeigen lässt. Nicht durch die Beharrlichkeit des Sohnes, sondern durch die Führspache des Apothekers.


    Im Moment gefällt mir die Art von Marquez, bildlich gesprochen, einen Weg entlang zu gehen (Reise zum Haus), und ab und an in Form kleiner Geschichten und Erinnerungen Abstecher zu machen (Großvater, Mangodiebstahl), sehr gut. Noch habe ich den Überblick.


    Seine Wortwahl finde ich sehr gut, die glühende Hitze, das Ruckeln des Bootes, die Personen und ihr Äußeres, ich kann sie mir lebhaft vorstellen, als betrachte ich Bilder.


    Herr Palomar, kannst du ein paar Worte zum magischen Realismus schreiben, nur damit ich einen ungefähren Begriff davon bekomme, anhand welcher Elemente man solchen erkennen kann? Ich wäre dir sehr dankbar.

  • Und weiter:


    Zu den Erinnerungen: ich kenne einen Menschen, der sich sehr wohl an die Unwahrscheinlichsten weil frühesten Dinge seiner Kindheit erinnern kann und seine Familie damit in Erstaunen versetzt. Ob Marquez ähnliches vollbringt kann ich nicht beurteilen. Ich schüttle bei seiner Bemerkung vorerst milde den Kopf.


    Mir gefällt die Stelle, als Marquez seine Dickköpfigkeit mit der seiner Mutter in Bezug auf deren Hochzeit vergleicht. Überhaupt gefällt mir diese Frau, mit ihrer Ruhe und Kraft, ihrer Strenge und gleichzeitigen Liebe zu ihrem Sohn. Sie scheint so unverletzlich. Ich glaube auch, dass er sie tief und innig liebt.


    Gelesen habe ich schon: 100 Jahre Einsamkeit, erinnere mich aber an zu wenig um zu vergleichen. Immerhin, es trägt den Vermerk: unbedingt nochmal lese. Zu diesem Buch hier mitbestellt habe ich gleich die Liebe in Zeiten der Colera.


    taki32
    Ich sage nur Ulysses und werde rot, weil ich immer noch nicht zu Ende damit bin, der Jahrestag nähert sich. Aber wenn ich ab und an dort noch mal was schreibe und es antwortet noch jemand, dann freu ich mich.

  • Zitat

    Liesbett
    Herr Palomar, kannst du ein paar Worte zum magischen Realismus schreiben, nur damit ich einen ungefähren Begriff davon bekomme, anhand welcher Elemente man solchen erkennen kann? Ich wäre dir sehr dankbar.


    Darf ich mich diesem Wunsch in aller Bescheidenheit anschließen?

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Zitat

    Original von Liesbett
    Ich sage nur Ulysses...


    Im nächsten Abschnitt kommt noch eine Stelle, wo Garcia Marquez vom Ulysses schreibt und wie ihn das Buch bewegt und als Schriftsteller geholfen hat.
    Er gibt aber auch zu, den Ulysses beim ersten mal Lesen noch nicht vollständig erfasst zu haben. Das macht ihn mir sehr sympathisch. :kumpel



    Zitat

    Original von Liesbett
    Herr Palomar, kannst du ein paar Worte zum magischen Realismus schreiben, nur damit ich einen ungefähren Begriff davon bekomme, anhand welcher Elemente man solchen erkennen kann? Ich wäre dir sehr dankbar.


    Die Frage habe ich schon befürchtet. Ich muss zugeben, ich kann den lateinamerikanischen magischen Realismus nicht eindeutig definieren.


    Es hat mit Mythen und Sagen zu tun, die im lateinamerikanischen Alltag von der Bevölkerung gespürt und als normal angenommen werden.


    Für mich ist der magische Realismus auch etwas, was man mehr fühlt als erklärt. Aber, erschwerend kommt hinzu, dass es angeblich für Europäer nicht möglich sein soll, diesen magischen Realismus zu spüren, da Europäer zu aufgeklärt sind. :beleidigt


    Nach Alejo Carpentier ist "dem Europäer" die Fähigkeit des Erlebens des wunderbar Wirklichen durch die Aufklärung verloren gegangen, während Mythen- und Geisterglaube in Lateinamerika noch immer natürlich im Alltag integriert sind. (Wikipedia)


    Die meisten Schriftsteller benutzen eine Bilderflut aus Worten großen Klanges um diesen magischen Realismus symbolisch einzubringen.


    Am besten kenne ich den Magischen Realismus auch aus vielen anderen, meist amerikanischen Romanen, die eine eigene Art Magischen Realismus nach südamerikanischen Vorbild benutzen. Dort bricht die Magie in den normalen Alltag in verschiedenen Formen ein. Natürlich auch symbolisch, um damit einen unbewussten Zustand auszudrücken.
    Ich denke z.B. an Schriftsteller wie Sean Stewart, bei dem der magische Realismus zu realer Magie wird.


    Ich hoffe, jemand hat noch einen anderen Definitionsansatz.

  • Ein ganz einfache Erläuterung, die ich gerade gelesen habe:


    Bücher-Magazin Ausgabe 2/2007 definiert Magischen Realismus so:


    Geister, fliegende Teppiche, Affen, die sich in den Bäuchen verwunschener Menschen vermehren – all das ist im Marquez-Kosmos ganz natürlich. Der Zauber bricht nicht unverhofft in die Welt ein, sondern ist selbstverständlich.

  • @ Herr Palomar


    Danke für die Erklärung; zumindest ich kann damit was anfangen.


    Würde man mir die zitierte Definition vorlegen und fragen, auf wen das zutrifft, würde ich ohne zu zögern Cornelia Funke sagen. Denn genau das habe ich bei ihren Büchern emfpunden, obwohl die nun doch sehr Europäerin ist! Also so ganz unmöglich kann es für uns "aufgeklärte" denn doch nicht sein!


    Auf jeden Fall ist das eine Definition für eine Art Literatur, die mir sehr entspricht. Da werde ich wohl doch tiefer eintauchen müssen.


    So hat sich diese Leserunde jetzt schon für mich gelohnt :-)


    (Tagüber bin ich ja mit meiner Tochter in einer anderen Leserunde, so daß ich derzeit nur abends weiterlesen kann. Drum wohl erst morgen hier wieder mehr von mir.)

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Zitat

    Original von Herr Palomar
    ..... ist der Schriftsteller, der ja "nur" mit Worten arbeitet (ein armseliges Werkzeug eigentlich), so eingeschränkt.


    ...Oder ein Meister des Wortes!
    Wirkt vielleicht eindimensional, ist letztendlich von der Fantasie und dem Vorstellungsvermögen des Lesers abhängig und natürlich nur, wenn der Meister seine Klaviatur beherrscht.
    Die Bilder, die Gefühle, die Farben, die Musik entstehen dann im Kopf des Lesers und können aus einfachen Wörtern ein ganzes Leben entstehen lassen.


    Herr Palomar,
    was meinst du mit Erbauungsliteratur?


    Mittlerweile bin ich ganz unglücklich über die im Buch gedruckte „Karte“, die mir viel zu ungenau ist.
    Gibt es vielleicht eine übersichtliche und für unsere Zwecke brauchbare Karte im Netz? Habe bisher noch nicht die Richtige gefunden. Sonst werde mir einen Taschenatlas zulegen – wer weiß, wohin uns die Reise in der nächsten Leserunde führen wird. :lache


    patricia
    Ich kann mir die Mutter auch sehr gut vorstellen, eine stolze, starke Frau mit viel Kraft, klein gewachsen, dunkel, lockiges Haar und eine liebevolle Mutter, die sich allerdings in erster Linie nach dem Vater richten muss.


    Beim Zurückblättern habe ich versucht ein paar Stellen als Bsp. für magischen Realismus zu finden:
    …„im Haus der Großeltern hatte jeder Heilige sein Zimmer, jedes Zimmer seinen Toten“
    (Die Toten sind erst dann wirklich gestorben, wenn niemand mehr an sie denkt)
    …„Beim Austreiben der Dämonen „wand sich Nana in einem schweren Kramf, worauf ein Vogel in Größe eines Huhns und mit schimmernden Federn aus den Betttüchern aufflatterte“


    Für uns nüchterne Europäer liest sich das eher merkwürdig, in Lateinamerika gehört das zum Leben dazu und wird auch so empfunden.

  • Palomar Danke. Ich kann es mir schon besser vorstellen. Es ist der Glaube an Geister und Magie, der immer mitschwebt ohne erklärt werden zu müssen. Ich glaube diese Art des Schreibens oder mehr des Empfindens auch in dem Buch von Arundhati Roy "Der Gott der kleinen Dinge" gefunden zu haben.


    Und Ulysses: ja, sehr sympathisch. Ich denke ja, dies ist ein Buch, an dem man mehrere Jahre herumlaborieren kann. Aber das gehört in einen anderen Thread.


    Zu den nächsten 50 Seiten Merquez heute Abend mehr. Versprochen.

  • Zitat

    Original von Eli
    Herr Palomar,
    was meinst du mit Erbauungsliteratur?


    Es gibt im Bereich der Unterhaltungsliteratur inzwischen vielfältige, auch niveauvolle Romane.
    Da der Begriff Erbauungsliteratur negativ belegt ist, habe ich deswegen ihn als Beispiel für schlichte Unterhaltungsliteratur gewählt. Gemeint sind also klischeebehaftete Schmöker, die "nur" den Anspruch haben, auf leichte Art zu unterhalten und dabei den Wirklichkeitsanspruch einer Wunschabbildung unterordnen, die dem vom Leser (angeblich gewünschte) heile Welt vermitteln.

  • Manchmal finde ich die teilweise gehobene Sprache des Autors auch anstrengend. :lache Ständig will ich Begriffe nachschlagen („Sie wurden von Chon – ein zärtlicher Diminutiv für Encarnación begleitet,...)oder Daguerreotypie, oder, oder,... Macht ja Spaß, aber es dauert. :licht


    Die Erinnerung wird wohl auch freien Raum für Phantasie haben.

    Zitat

    Original von Eli
    Köstlich auch der 100jährige Papagei, der Parolen gegen Spanien rief und Lieder aus dem Unabhängigkeitskrieg sang.


    Das lass ich vielleicht noch als mögliche Realität gelten, aber dass der Papagei schreit: „Der Stier, der Stier! Da kommt der Stier!“ Und dann kam der Stier wirklich, das glaube ich NICHT. :rotekarte


    Die Vielweiberei scheint in diesem Land ja „gang und gäbe“ zu sein. Über den Satz ...“stattliche Summe von Kindern, Enkeln und Urenkeln – nicht gezählt die, von denen man nie erfahren hat..“ könnte ich mich köstlich amüsieren.


    Wusstet ihr, dass die „United fruit company“ heute den Namen Chiquita tragen soll. Siehe den Artikel hier..........


    Zitat

    Original von Liesbett


    .... Und ich weiß, das Erinnerungen oft mehr sind, als dass, was wir selbst uns zu erinnern glauben, sondern Erzählungen der Familie oder anderer Personen, oder Träume, die irgendwann in die eigene Erinnerung integriert werden und mit ihr zu einem neuen verschwimmt, ohne, dass man selbst es bemerkt und rational trennen kann.


    Wenn die anderen was erzählen, dann nennt der Autor das m.M.n. "falsche Erinnerung". Z.B. jemand anderes erzählt eine Geschichte so bildlich, dass es einem vorkommt, man erlebt es selbst. Nach einigen Jahren erinnert man sich an die Geschichte, die man selbst gar nicht erlebt hat und das ist dann die „falsche Erinnerung“. Habe ich das richtig verstanden?

  • Patricia_k34
    Meinen Gedankengang? Ja, ungefähr so habe ich es gemeint. Mittlerweile habe ich sogar davon gehört, dass es körperliche Schädigungen gibt, die zu falschen Erinnerungen führen können. Eigentlich faszinierend.


    Was mich über das Buch noch so nachdenken lässt ist diese selbstverständliche Mischung aus Notwehr, Rache und Lynchjustiz, die in den Zeiten und an den Orten des Autors herrschen. Etwas, was mir Unsicherheit und Angst vermittelt, wird so lapidar geschildert, scheint für die Bewohner so alltäglich zu sein. Das macht die Hinwendung zu magischen Glauben und Praktiken für mich fast schon logisch.


    Faszinierend finde ich die bunte Mischung der Nationalitäten. Als Anhängerin des Toleranzdenken kann ich mich aber den damit auftretenden Problemen nicht entziehen. Es herrscht Armut, gepaart mit Kastenwesen und Fremdeln, Sklaventum und Bevölkerungsreichtum (mit Frauenüberschuss?). Eine explosive Mischung.


    Das turbulente Familienleben dagegen ist so geschildert, dass es mir fast gefallen könnte, trotz der offensichtlichen ehelichen Untreue und der "Vielweiberei." Für den Autor scheint es so selbstverständlich zu sein, dass die Frauen die unehelichen Kinder ihrer Männer akzeptieren. Hat es nicht trotzdem das eine oder andere Probleme damit gegeben? Davon würde ich gerne mehr erfahren.


    Die Szene des Jungen und den praktischen herausnehmbaren Zähnen der Großmutter hat mir sehr gefallen. Ich mag diese Einfachheit der Kinder, wenn sie sich die Welt gerne passend machen würden. :grin

  • Hier noch Stellen, die mir besonders aufgefallen sind:


    S. 54 Der Großvater verreist mit Familie und kann unter deren Augen mit einer Zufallsliebe eine Tochter zeugen. Den Begriff Zufallsliebe finde ich dabei bemerkenswert, weil er nichts negativ wertendes hat. Steht das für die Selbstverständlichkeit dieser Vorgänge?


    S. 58 + 83 Das Fremdfühlen der Großeltern. Erinnert mich so an die Vertriebenen auf der Welt oder an freiwillig Auswandernde. Dieses Nie-ankommen und Zurück-wollen ist ein universelles Problem das wohl nie vergehen wird. Manchmal glaube ich, die Heimat trägt man im Herzen mit sich rum. Sie lässt sich nicht immer einfach austauschen.


    S. 64 Die Geschichte des Juventino Trillo, der heute wohl als Stalker bezeichnet und in seine Grenzen verwiesen werden dürfte. Und sie erhört ihn trotzdem. Das menschliche Miteinander ist eine verworrene Sache. Manchmal.


    S. 66 Ledige Frauen und lockere Männer. Siehe oben.


    S. 68 Das promiskutive Leben (falls man das so bezeichnet) als dürrste Form der Einsamkeit. Sehr schöne Wortwahl. Ob ich damit übereinstimme kann ich gar nicht klar sagen. :wow


    S. 78 + 82 Die falschen Erinnerungen des jungen Marquez an die Zimmer des Flitterwochenhauses und den Helm. Dies nehme ich als Beleg für meine These zum Eingangsspruch.


    S. 89 Die Aufteilung des Körpers der Gebärenden unter den Frauen. Die Beschreibung hat mir zugesagt, vielleicht der Pragmatismus der dahinter steckt. Vielleicht blitzt hier auch der Humor von Marquez auf.


    S. 93 Die ledige Tante Mama gefällt mir sehr. Ihre Selbstverständlichkeit.


    S. 96 Ein erschossener Mensch und kein Drama drum herum. In diesem Buch liegen geboren werden, lieben und sterben so eng nebeneinander und werden so undramatisch beschrieben. Ist das der Stil des Autors?

  • Zitat

    Original von Liesbett
    ...diese selbstverständliche Mischung aus Notwehr, Rache und Lynchjustiz, die in den Zeiten und an den Orten des Autors herrschen.


    Ja, viele Leute besitzen eine Waffe. Die Beschaffung bzw. der Besitz scheinen kein Problem darzustellen. Mich schockt das auch immer wieder in dem Buch.


    Zitat

    Original von Liesbett
    Für den Autor scheint es so selbstverständlich zu sein, dass die Frauen die unehelichen Kinder ihrer Männer akzeptieren. Hat es nicht trotzdem das eine oder andere Probleme damit gegeben? Davon würde ich gerne mehr erfahren.


    Oder will Márquez sich an die Streitereien nicht erinnern?


    Zitat

    Original von Liesbett
    Die Szene des Jungen und den praktischen herausnehmbaren Zähnen der Großmutter hat mir sehr gefallen. Ich mag diese Einfachheit der Kinder, wenn sie sich die Welt gerne passend machen würden. :grin


    Die ist so köstlich, ich könnte mich darüber kaputt lachen. Zwar nicht ganz so gut, aber auch recht amüsant fand ich die Szene in der Kirche als M. die Glocke nach reiner Eingebung läutete und der Pfarrer ihm dann schroff befahl, nicht mehr zu läuten. :lache


    Zitat

    Original von Liesbett



    S. 54 Der Großvater verreist mit Familie und kann unter deren Augen mit einer Zufallsliebe eine Tochter zeugen. Den Begriff Zufallsliebe finde ich dabei bemerkenswert, weil er nichts negativ wertendes hat. Steht das für die Selbstverständlichkeit dieser Vorgänge?


    Wenn sich die Eltern deshalb gestritten hätten, dann wahrscheinlich eher nicht vor den Kindern.


    Zitat

    Original von Liesbett
    S. 89 Die Aufteilung des Körpers der Gebärenden unter den Frauen. Die Beschreibung hat mir zugesagt, vielleicht der Pragmatismus der dahinter steckt. Vielleicht blitzt hier auch der Humor von Marquez auf.


    Ich dachte mir immer, oh nein, Kind, du kannst da nicht zusehen.

  • Zitat

    Original von Liesbett
    In diesem Buch liegen geboren werden, lieben und sterben so eng nebeneinander und werden so undramatisch beschrieben. Ist das der Stil des Autors?


    Das hast du sehr schön geschrieben! :-)
    Ob das der Stil des Autors ist, kann ich nicht sagen, für mich ist jedenfalls genau das der Grund, das Buch zu lesen.

  • Bin jetzt auch durch mit Kapitel zwei und hier meine Eindrücke:


    Marquez legt einen gewissen Witz, ein Augenzwinkern an den Tag, der sich in den kleinen lapidaren Zusätzen zeigt. Hier mal eine Bemerkung, dort wieder. Es bringt mich zum Schmunzeln.


    Was mir nicht ganz so behagt sind die Übertreibungen, die er präsentiert. Natürlich muss man in Lebensbeschreibungen über sich schreiben und natürlich kann man sich nicht nur schlecht machen oder arg bescheiden präsentieren. Für meinen Geschmack wäre der Mittelweg der Beste, aber das sind nur meine Wünsche. Darüberhinaus ist es durchaus auszuhalten. Vielleicht bin ich nur in meckriger Stimmung? Hat der Autor sich schon mal ausserliterarisch zu solchen Dingen irgendwo geäußert?


    Auffällig ist die Suche nach dem Ursprung seines Talentes, das Marquez in Kapitel zwei mehrmals bewegt. (S. 107, S. 111 - Kino, S. 115 - Lexikon). Kann man seine Talente überhaupt in der Kindheit schon finden, bzw. kann man die Anzeichen nicht immer erst hinterher entdecken?


    Ich habe zudem einen Schreibfehler auf Seite 115 entdeckt: Enteselungswerk. Gerade eben aber kommt mir der Gedanke, dass es als Wort für Lexikon durchaus zutreffend ist. Während des Lesens habe ich Enträtselungswerk daraus gemacht.


    Kapitel zwei bietet mehr Familiengeschichte, und ist so schön episodenhaft. Hier und da mal eine neue Person, deren Wesen mit ein paar schnellen Sätzen skiziert wurde. Erst am Ende wird es stark autobiographisch, hier wirft der Autor mit Namen anderer Schriftsteller und Journalisten seines Bekanntenkreises nur so um sich. Vielleicht stoße ich auf den ein oder anderen im Laufe meines weiteren Leselebens.


    Die Sache mit den vielen Geliebten beschäftigt mich nach wie vor sehr stark.


    Nocheinmal zum Thema Krieg: dieser ist für das Kind nur nebensächlich, ein Ereigniss, der das normale Leben ein wenig bunter macht, nicht mehr, nicht weniger. Er scheint nicht mitten im Schlachtfeld gestanden zu haben, dürfte das meiste aus Erzählung, der oralen Familiengeschichte kennen. Auf jeden Fall legt er keine "Betroffenheitsliteratur" vor.


    Bisher bin ich mit dem Buch sehr zufrieden.