'Leben, um davon zu erzählen' - Kapitel 1 - 2

  • Hier noch meine im Buch angemerkten Stellen:


    S. 103 Der Machismo in der matriarchalischen Gesellschaft. Das ist die passende Stelle zu meinen vorherigen Überlegungen von Kapitel eins.


    S. 103 Die Lügen der Kinder als Talent. Eine Interessante Aussage. Der Name Barboza lässt mich schmunzeln, obwohl der Piratenchef Barbossa mit dem lieben Doktor herzlich wenig gemein haben dürfte.


    S. 107 Das oben schon erwähnte Glockenläut-problem.


    S. 111 Der Großvater sieht die Welt mit seinem Horizont, das Kind neben ihm sieht sie in seiner Augenhöhe. Ein wunderbarer Satz.


    S. 113 Die Geliebten des Großvaters und das Kind als Vorwand. Wie Patricia schon schrieb.


    S. 118 Der Patriotismus und die einsetztende Spendenbereitschaft. Wurde oben glaube ich auch schon erwähnt.


    S. 127 Die Dutz-sitten, siehe Patricia.


    S. 152 Er schützt sich mit Listen davor etwas anderes zu werden als Schriftsteller. Interessante Aussage. Ich mag solche Sätze.


    So, jetzt stürze ich mich auf die nächsten Seiten.

  • Da ich vor einigen Tagen mit diesem Buch angefangen habe, hänge ich mich einfach mal hinten dran. :grin


    Zitat

    Original von Herr Palomar
    Nicht was wir gelebt haben, ist das Leben,
    sondern das, was wir erinnern und wie wir es
    erinnern, um davon zu erzählen.


    Nach Márquez bechreibt "Leben" unsere jeweilige Realität, die jeder von uns sich aus unseren Erlebnissen "erschafft" -- nicht die dürren Fakten.
    Das Motiv findet sich schon bei Goethe, der seine autobiographischen Schriften mit Dichtung und Wahrheit übertitelt (und mit "Wahrheit" nicht bloße Faktizität meint!).


    Aber wenn man es genau nimmt, hat schon Aristoteles in seiner Poetik die Sache auf den Punkt gebracht, denn er schreibt, Fakten zu sammeln und wiederzugeben sei Aufgabe des Historikers, während die des Dichters darin bestehe, Ereignisse in einen logischen Zusammenhang zu bringen, der durch den Charakter der handelnden Figuren bestimmt wird.
    und genau das tun wir beim Erinnern: Wir bringen die "Fakten" in einen logischen Zusammenhang, um sie zu verstehen und für uns deuten und einordnen zu können -- und dieses geistige Verarbeiten der Fakten wird bestimmt durch unsere Persönlichkeit, unseren Charakter. Dadurch färben wir die Erlebnisse, machen sie zu "unseren" Erlebnissen.


    Wenn man nach einem Unfall zehn Leute nach dem Hergang fragt, wird man zehn unterschiedliche Schilderungen erhalten, weil jeder zwar dasselbe wahrnimmt, aber aufgrund der individuellen Persönlichkeit aus dieser "äußeren" Wirklichkeit sich eine "innere" Realität erschafft.


    Das vorangestellte Motto ist kein Freifahrtschein, sondern die Anerkennung einer Tatsache.



    Was frühkindliche Erinnerungen angeht: Davon habe ich auch etliche, die allesamt auszeichnet, dass sie non-verbal sind, nur aus sinnlichen Wahrnehmungen bestehen zu scheinen. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob ich diese Erinnerungen wirklich aus den jeweiligen Erlebnissen selbst geschaffen habe, oder ob sie sie sich aus Erzählungen z.B. meiner Verwandten verselbständigt haben. Dazu habe ich einen agnostischen Standpunkt. =)



    Zitat

    Original von Herr Palomar
    Für mich ist der magische Realismus auch etwas, was man mehr fühlt als erklärt. Aber, erschwerend kommt hinzu, dass es angeblich für Europäer nicht möglich sein soll, diesen magischen Realismus zu spüren, da Europäer zu aufgeklärt sind. :beleidigt


    Das Wort "aufgeklärt" stößt mir hier gewaltig auf ...
    Es gibt eine Bedeutungsebene von "aufgeklärt" die besagt, dass sich jemand "aufgeklärt" wähnt, weil er nur glaubt, was er mit eigenen Augen gesehen hat.
    Das Problem ist: Wie kann so jemand die Erkenntnisse der Theoretischen Physik anerkennen, wenn man doch Atome, Quarks etc. nicht sehen, sondern nur Wirkungen durch Messgeräte erkennbar machen kann und daraus bestimmte Schlüsse zieht?
    So eine Haltung nennt man eher ignorant oder besser noch borniert. Und das gibt es schlicht überall in der Welt: Es beschreibt den Charakterzug, alles zu leugnen, was sich außerhalb des eigenen, durch klima, Kultur, Bildung etc. bestimmten Erlebnishorizonts befindet.


    "Aufgeklärt" wäre nach Kant das exakte Gegenteil dieser Haltung. :grin


    Ich behaupte nicht, dass es Dämonen, im Bauch sich fortpflanzende Affen tatsächlich gibt. Das sind nur Deutungen von Wahrnehmungen, Ereignissen, Erlebnissen.
    Ich verweise mal auf Saint-Exupérys Kleinen Prinzen, im Besonderen auf das Bild, das die Silhouette eines Huts ebenso gut repräsentiert wie einen von einer Riesenschlange verschluckten Elefanten :grin Was so witzig klingt, beschreibt präzise die Problematik der Gegenstandswahrnehmung: Da wir aus Einzelwahrnehmungen auf den Gegenstand schließen, können wir uns durchaus irren.


    Die magische Komponente kommt schlichtweg aus dem anderen kulturellen Umfeld, in dem magische Vorstellungen (d.h. die Deutung von Erlebnissen durch magische Kräfte) lebendig sind. So manche Erkenntnisse der modernen Theoretischen Physik erfüllen durchaus sämtliche Kriterien magischer Vorstellungen, kleiden sich jedoch in das Gewand einer allgemein anerkannten Logik -- diese gilt allerdings immer nur auf der jeweiligen sozio-kulturellen Basis! ;-)


    Márquez schildert die Dinge so, wie sie den Personen seiner Bücher real erscheinen, die oft ein magisches Weltbild haben -- uns erscheint das surreal, fremd (sicherlich auch dem erwachsenen, gebildeten Márquez, dem dieses Weltbild allerdings aus seiner Kindheit vertraut ist. :-)



    Zitat

    Original von Liesbett
    S. 54 Der Großvater verreist mit Familie und kann unter deren Augen mit einer Zufallsliebe eine Tochter zeugen. Den Begriff Zufallsliebe finde ich dabei bemerkenswert, weil er nichts negativ wertendes hat. Steht das für die Selbstverständlichkeit dieser Vorgänge?
    [...]
    S. 68 Das promiskutive Leben (falls man das so bezeichnet) als dürrste Form der Einsamkeit. Sehr schöne Wortwahl. Ob ich damit übereinstimme kann ich gar nicht klar sagen. :wow


    Wahrscheinlich stoßen wir hier an die Grenzen der (deutschen?) Sprache. "Liebe" bezeichnet eine Fülle an einander teilweise sogar widersprechenden Phänomenen und Sachverhalten.
    In diesen Fällen würde ich von Éros sprechen, und zwar von einem aufs Leibliche beschränkten, sexuell fixierten Éros. Ein Drang, der begehrt, besitzen will, aber sobald er besitzt, was er beghrt, erlischt. Da er nur auf die Erfüllung der eigenen Begierde aus ist, erkennt man den anderen beim "Liebes"akt nicht, sondern benutzt ihn nur.
    Und diese Haltung ist zutiefst einsam, weil der Begehrende jedesmal auf sich selbst zurückgeworfen wird.


    Ähnlich werden auch in der modernen Psychologie Sexsucht und Stalkertum mit erklärt (nicht nur, aber auch).

  • Hallo, Iris,
    wie schön, dass du etwas zu dem Buch schreibst. :-]


    In der Leserunde war der Gesamteindruck überwiegend durchwachsen.
    Ich bin gespannt, wie du den literarischen Wert der Biographie bewerten wirst und ob dir einige von Garcia Marquez Beschreibungen des Werdegangs zum Schriftsteller schon aus beruflichen Erfahrungen her zusagen.


    Zitat

    Original von Iris
    Das vorangestellte Motto ist kein Freifahrtschein, sondern die Anerkennung einer Tatsache.


    Diesen Gedanken an den Freifahrtschein habe ich schon nach wenigen Kapiteln komplett aufgegeben. Man spürt schnell, wie der Autor das meint und das geht konform mit deinen Ausführungen.


    Zitat

    Original von Iris
    ...
    Ich verweise mal auf Saint-Exupérys Kleinen Prinzen, im Besonderen auf das Bild, das die Silhouette eines Huts ebenso gut repräsentiert wie einen von einer Riesenschlange verschluckten Elefanten :grin Was so witzig klingt, beschreibt präzise die Problematik der Gegenstandswahrnehmung: Da wir aus Einzelwahrnehmungen auf den Gegenstand schließen, können wir uns durchaus irren.


    Klingt einleuchtend.
    Aber bei dem kleinen Prinzen (auch mal vor langer Zeit gelesen, das Bild dazu im Buch sollte man sich ansehen) war die Schlußfolgerung, keine Hüte mehr zu malen (Also das Ende einer vielleicht großen Karriere :grin)
    Das zeigt, wie gefährlich der Umgang mit Wahrnehmungen sein kann.
    Bei der Lektüre von Garcia Marquez Buch war ich immer versucht, seine Erinnerungen auf eventuelle Wahrnehmungsprobleme hin anzuzweifeln.
    Das hat meinen Genuß beim Lesen manchmal eingeschränkt.
    Einer der Gründe, warum ich meistens Romane lieber als Biographien lese.

  • Zitat

    Original von Herr Palomar
    Aber bei dem kleinen Prinzen (auch mal vor langer Zeit gelesen, das Bild dazu im Buch sollte man sich ansehen) war die Schlußfolgerung, keine Hüte mehr zu malen (Also das Ende einer vielleicht großen Karriere :grin)


    Naja, wenn man die Stelle genau liest, dann findet man gerade in der "Abkehr von der (falschen) Kunst" eine gehörige Portion Ironie. ;-)


    Zitat

    Das zeigt, wie gefährlich der Umgang mit Wahrnehmungen sein kann.
    Bei der Lektüre von Garcia Marquez Buch war ich immer versucht, seine Erinnerungen auf eventuelle Wahrnehmungsprobleme hin anzuzweifeln.
    Das hat meinen Genuß beim Lesen manchmal eingeschränkt.


    Das verstehe ich jetzt nicht. :gruebel

  • Zitat

    Original von Iris


    Naja, wenn man die Stelle genau liest, dann findet man gerade in der "Abkehr von der (falschen) Kunst" eine gehörige Portion Ironie. ;-)


    ich glaube schon, dass ich die Stelle genau gelesen habe,. Der kleine Prinz meinte das ironisch, deswegen hatte auch ich einen Smilie gesetzt.

  • Zitat

    Original von Iris
    Wahrscheinlich stoßen wir hier an die Grenzen der (deutschen?) Sprache. "Liebe" bezeichnet eine Fülle an einander teilweise sogar widersprechenden Phänomenen und Sachverhalten.
    In diesen Fällen würde ich von Éros sprechen, und zwar von einem aufs Leibliche beschränkten, sexuell fixierten Éros. Ein Drang, der begehrt, besitzen will, aber sobald er besitzt, was er beghrt, erlischt. Da er nur auf die Erfüllung der eigenen Begierde aus ist, erkennt man den anderen beim "Liebes"akt nicht, sondern benutzt ihn nur.
    Und diese Haltung ist zutiefst einsam, weil der Begehrende jedesmal auf sich selbst zurückgeworfen wird. Ähnlich werden auch in der modernen Psychologie Sexsucht und Stalkertum mit erklärt (nicht nur, aber auch).


    Hallo Iris,


    wie schön, von dir zu lesen. Und dann gleich solch gewichtige Beiträge, die mein Verstand nach einer Woche Urlaub nur bedingt begreifen will, aber im Prinzip denke ich: ja, du hast recht. Und: Wow, was ein Wissen. :grin


    Und zum Eros: Die eine Seite, die männliche, hätten wir dann ja geklärt.
    Aber was ist mit den Frauen, die sich solchen Begierden nicht nachgeben, die Früchte aber ernten und in ihre Familien integrieren. Ist das nicht schmerzhaft fürs Gefühlsleben und inwieweit kann man mit der Zeit lernen, mit solch einer "Schwäche" des Partners zu leben. Allein das Wissen, dass es sich nicht um Liebe sondern um Sex bzw. bloßes Begehren handelt, kann dies ausreichend trösten? Ist dies (m)ein europäisch-monogames Problem? Gibt es einen guten Roman zu diesem Thema? Ich wundere mich immer wieder über die Stärke der Frauen aus Marquez' Umfeld, denn als solche interpretiere ich sie.

  • So, habe endlich mal ein bisschen Zeit, Beiträge aufzuarbeiten. :-)


    Zitat

    Original von Liesbett
    Und zum Eros: Die eine Seite, die männliche, hätten wir dann ja geklärt.


    Ich würde das nicht als "männlich" beschränken. Es kommen ja auch einige Frauen vor, die promisk sind. ;)


    Zitat

    Aber was ist mit den Frauen, die sich solchen Begierden nicht nachgeben, die Früchte aber ernten und in ihre Familien integrieren. Ist das nicht schmerzhaft fürs Gefühlsleben und inwieweit kann man mit der Zeit lernen, mit solch einer "Schwäche" des Partners zu leben.


    Dieses Thema spart Márquez bislang aus.


    Zitat

    Ich wundere mich immer wieder über die Stärke der Frauen aus Marquez' Umfeld, denn als solche interpretiere ich sie.


    Was mich beeindruckt, ist, dass er die Stärke als solche auch schildert, sie zeigt und damit anerkennt, ihr Denkmäler setzt, neben denen die Flatterhaftigkeit vor allem der Männer nicht sonderlich gut aussieht.

  • Oh ja, beim Vorurteil erwischt. :grin
    Meine Ausrede: die jungfräulichen Tanten bilden das Gramm in der Schale, aber wenn ich so nachdenke, ja, da gab es wohl die Dame ohne Mann aber mit Kind und später die Eine, deren Ehemann viele Hörner besitzt.


    Zum letzten Satz: ich wage die These, das Denkmal gilt vor allem seiner Mutter. Ferner denke ich, er selbst ist kein Vertreter des Machismo, ist somit nicht an deren Verhaltensweisen gebunden und kann die Frauen auf andere Art schildern.

  • Zitat

    Original von Liesbett
    Ferner denke ich, er selbst ist kein Vertreter des Machismo, ist somit nicht an deren Verhaltensweisen gebunden und kann die Frauen auf andere Art schildern.


    Och, wo ich bin, vertritt er genau den dionysischen Machismo seines Herrn Papa -- nur ohne dessen an Vater Zeus erinnernde Zeugungsgewalt auszutoben. :lache