Einordnung:
In der Jura gibt es Gesetzestexte und daneben eine "herrschende Meinung" der Rechtsprechung, die diese Gesetzestexte interpretiert und in die Nähe des Anwendungsfalles rückt, ohne jedoch Einzelfälle zu beschreiben.
Vergleichbar dazu gibt es in den christlichen Konfessionen die Bibel als Grundlage und dazu einen "Katechismus", der die biblische Lehre im Sinne einer "herrschenden Meinung" innerhalb dieser Konfession übersetzt. Während die Bibel in der Gegenwartskultur als festgeschrieben gelten kann, reflektiert der Katechismus den gegenwärtigen Stand der Dinge und wandelt sich daher im Laufe der Zeit.
Der derzeit gültige Katechismus ist für die katholische Kirche aus mehreren Gründen von besonderer Relevanz:
Er wurde nach dem Vaticanum II geschrieben, was bedeutet, dass er die wegweisenden Beschlüsse dieses Konzils aufnimmt. Er ist vergleichsweise jung, wodurch ein Bezug zu aktuellen Fragen der Weltkirche gegeben ist. Zudem wurde er unter Federführung von Kardinal Ratzinger verfasst, der heute als Papst Benedikt XVI. der Kirche vorsteht. Es darf also davon ausgegangen werden, dass die im Katechismus entwickelten Gedanken nahezu vollständig die Auffassungen des amtierenden Pontifex widerspiegeln und damit die Amtskirche in noch stärkerer Weise prägen, als das ein Katechismus an sich schon täte.
Inhalt:
Der Katechismus ist kein Missionsbuch in dem Sinne, dass er versucht, den Ungläubigen zu überzeugen. Vielmehr wird die Wahrheit des christlichen Glaubens als Konsensannahme vorausgesetzt.
Die Interpretation und Anwendung dieses Glaubens erfolgt in vier großen Abschnitten:
"Das Glaubensbekenntnis"
Hier wird die römisch-katholische Interpretation des christlichen Glaubens ausgebreitet. Es wird beschrieben, was gemeint ist, wenn man sagt: "Ich glaube an den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist".
"Die Sakramente des Glaubens"
Hier wird aus den Postulaten des Glaubens sozusagen die Daseinsberechtigung der Kirche als Institution abgeleitet. Die Bedeutung der Liturgie und insbesondere der Sakramente der Kirche wird erläutert.
"Das Leben aus dem Glauben"
Hier geht es um die praktische Anwendung des Glaubens im persönlichen Leben. Dieser Abschnitt fußt auf den zwei Geboten des Neuen Bundes und den zehn Geboten des Alten Bundes. Von diesen Geboten ausgehend wird letztlich eine Empfehlung zu einer Lebensführung gegeben, die als Ziel die "Glückseligkeit" sowohl im irdischen als auch im nach-irdischen Leben angibt.
"Das Gebet im Glaubensleben"
Hier geht es zunächst um die Bedeutung der direkten Beziehung zwischen Gläubigem und Gott, dann spezieller um das Gebet des Herrn, das Vaterunser.
Der Text ist insgesamt weit weniger theoretisch, als man zunächst vermuten mag. Das Sakrament der "Krankensalbung" etwa wird als Ausgangspunkt genutzt, um über das Phänomen "Krankheit" als solchem zu reflektieren und auch generell den Umgang mit, das Verhältnis zu kranken Mitmenschen zu thematisieren.
Eigene Meinung:
Der Katechismus ist aus meiner Sicht die beste Grundlage für Diskussionen über den Glauben der römisch-katholischen Kirche. Zwar wird kaum ein Katholik ihm in jedem Detail zustimmen - das ist auch nicht gewünscht, vielmehr wird die "loyale Opposition" zum Glaubenswerk im Sinne des Erkenntnisfortschritts und der Weiterentwicklung begrüßt. Dennoch gibt er die Grundströmung der größten Bewegung der Menschheit wider und mag vielleicht verstehen helfen, warum diese so erfolgreich ist.
Da die Glaubenssätze nicht nur verkündet, sondern von der Bibel ausgehend ausführlich hergeleitet werden, ermöglicht der Katechismus zudem eine Reflexion der eigenen Überzeugungen - mögen sie nun übereinstimmen oder in Opposition stehen.
Der Katechismus ist auch der Text, an dem überprüft werden kann, ob Positionen, die man vom Hörensagen als "römisch-katholisch" annimmt, dies wirklich sind oder ob es sich lediglich um Mindermeinungen, spezielle Anwendung im deutschen Kontext oder Verkürzungen der Mediendarstellung handelt. Beispielsweise erkennt der Katechismus an, dass eine "weltliche Ehescheidung" in manchen Situationen ein segensreicher Weg sein kann - die Problematik mit dem Ehesakrament tritt nämlich nicht bei der Scheidung, sondern erst bei der Wiederverheiratung mit einem anderen Partner auf.
Die thematische Auswahl des Katechismus offenbart auch, welche Fragen für die Weltkirche Relevanz haben, an die man als Mitteleuropäer aber gar nicht denkt - etwa Vorschriften dazu, wie sich ein Mann, der vor seiner Taufe in Polygamie lebte, gegenüber seinen Exfrauen und gegebenenfalls seinen mit ihnen gezeugten Kindern zu verhalten habe.
Zusammenfassung:
Ein gut lesbarer Text, der beinahe unverzichtbar für Diskussionen über den römisch-katholischen Glauben in seiner Gesamtheit ist, sofern sie über oberflächliches Geplänkel hinausgehen sollen - sei es unter Katholiken, sei es im ökumenischen Dialog, sei es im interreligiösen Gespräch oder in der wissenschaftlichen Analyse der größten Glaubensgemeinschaft der Gegenwart.
Oder, um es mit Yoda aus Star Wars zu sagen: "Look at the source, Luke!"
Edit:
Ich sehe gerade, dass meine Ausgabe nicht mehr erhätlich ist - es dürfte aber eine Menge anderer, inhaltlich identischer Ausgaben geben.