• Ich hofe sehr, dass diese Geschichte besser gefällt:


    D A V I D


    "Ihr habt es mir versprochen!" Mit diesem Satz hatte er seine Eltern endlich überzeugt. Sie waren es, die ihm gelehrt hatten, ein Versprechen auch zu halten. Trotzdem war David dann überrascht, als seine Eltern nachgaben.


    Schließlich, was konnte schon geschehen? Bis zur Tante Emmi waren es nur vier Kilometer. Keine unmögliche Strecke für einen aufgeweckten Fünfjährigen, der es gewohnt war auf sich aufzupassen. Für David aber waren es vier Kilometer in seinem Leben, die er zum erstenmal ganz alleine gehen durfte.


    Seine Tante Emmi und das bei ihr abzuholende Geburtstagsgeschenk waren jetzt nicht mehr sein größter Wunsch für diesen Tag. Aber vier Kilometer weit gehen ohne elterliche Aufsicht, ohne Ermahnungen, die sein Trödeln betrafen, weil er immer etwas entdeckte, das aufregender als alles andere war, diese vier Kilometer waren nun sein schönstes Geburtstagsgeschenk.


    Seine Mutter gab ihm einen Beutel mit zwei selbstgebackenen Laib Brot für die Tante. Sein Vater drückte ihm den Wanderstab in die Hand. Noch eine letzte Ermahnung, trödel nicht so, die Tante wird warten, dann marschierte er los.


    Auf den ersten Metern konnte er sein Glück noch überhaupt nicht richtig fassen. Er blieb stehen, drehte sich kurz um und winkte den Eltern noch einmal zu. Sie winkten zurück. David ging mit schnellen Schritten weiter. Erst als er um die Wegbiegung herum und damit aus dem Blickkontakt der Eltern war, sprang er vor Freude einmal in die Luft. Ausgerechnet heute musste eine Kuh kalben. Aus dem anfänglichen Ärgernis war nun ein zusätzliches Geburtstagsgeschenk geworden.





    David marschierte munter immer am Straßenrand entlang. Vier Kilometer sind für einen kleinen Jungen eine große Strecke.


    Lange genug, um Schlachten zu schlagen, Abenteuer zu erleben und neue Kontinente zu entdecken. Die beiden Brotlaibe waren sein Proviant, der Wanderstab sein Schwert. David, der Unbesiegbare, auf seinem Kreuzzug gegen Unterdrückung und Unrecht.


    Er sah die Welt um sich herum mit den Augen des Kindes. Niemand konnte ihm heute seine Tagträume zerstören. Wenn er seine Männer zum Angriff auf die Burg anfeuerte, rief keine Stimme mahnend, er solle nicht herumtrödeln und das wäre doch keine Burg sondern nur eine alte Scheune. Heute konnte er die Welt so sehen, wie er sie sehen wollte.


    Nach vielen Kämpfen und Siegen näherte er sich langsam einer Stelle, an der sein Vater immer sagte, dort an dem Zaun wenn wir sind, haben wir die Hälfte geschafft. Er wusste es genau, denn aus Spaß war er die Strecke einmal mit stechenden Schritten abgegangen. Von der Haustüre bis zu dem zerfallenen Zaun waren es genau zwei Kilometer und von dort bis zur Tante auch. Danach hatte Vater drei Tage lang Schmerzen in den Fersen gehabt. Auch darauf wies er David und seine Mutter jedes Mal hin, wenn sie die Tante besuchten.


    Für David war der Platz aber mehr. Aus dem morschen Zaun, der eigentlich gar kein Zaun mehr war, sondern nur noch einige Bretter und Balken die von rostigen Nägeln gehindert wurden ganz zusammenzufallen, wurde für David jedes Mal der Palisadenschutz von Robinson Crusoe.


    David war jetzt Robinson. Er stellte sich mit dem Rücken zu dem wackligen Gebilde. Seine linke Hand stützte er auf den Stab, die rechte Hand streckte er lässig in die Hosentasche. Ernst sah er hinaus auf den Strand, ob denn niemand kommen würde, um ihn aus seiner Einsamkeit zu befreien. Da, was war das?



    In der Ferne bewegte sich etwas. Dort kam jemand. Freitag, dachte er, das muss Freitag sein, auf der Flucht vor den Kannibalen.


    Eine schwarze Gestalt kam immer näher. Aufgeregt hob er den Stab. "Hierher," rief er.


    "David," rief die Gestalt und sein Name brachte ihn wieder zurück in die Wirklichkeit. Es war seine Tante, in schwarzen Kleidern gehüllt, die da auf ihn zukam.


    David begriff nur sehr langsam. Doch genau in dem Augenblick, als seine Tante sich niederbeugte, ihn umarmte und an sich drückte, begann er zu weinen. "Was ist denn los, David?" Die Tante strich ihm liebevoll über das Haar. Und aus dem Scherbenhaufen zusammengefallener Zeiten und Welten presste er schluchzend die Worte heraus: "Du hast mir zwei Kilometer gestohlen."

    Schon der weise Adifuzius sagte: "Das Leben ist wie eine Losbude, wenn Du als Niete gezogen wurdest, kannst Du kein Hauptgewinn werden.":chen

  • Hallo Marlowe,


    eine wirklich wunderschöne Geschichte ist Dir hier gelungen. Ich finde Du hast ganz toll die Sicht eines Kindes und seine Fantasien rüber bringen können. Einfach großartig. Ich war wirklich gerührt... :knuddel1

    "Nicht wer Zeit hat, liest Bücher, sondern wer Lust hat, Bücher zu lesen, der liest, ob er viel Zeit hat oder wenig."

    - Ernst Reinhold Hauschka

    Zitat

  • gefällt mir gut, obwohl ich die Eltern, die ihren 5 jährigen alleine 4 km laufen lassen erstmal sehen will....


    aber sonst find ich das ganze toll...

  • Zitat

    Original von Babyjane
    gefällt mir gut, obwohl ich die Eltern, die ihren 5 jährigen alleine 4 km laufen lassen erstmal sehen will....


    aber sonst find ich das ganze toll...


    Wieso? Das waren durchaus vorausschauende Eltern. Zwei Laib Brot sind doch schon mal was. Wenn seine Eltern ihm Hänsel und Gretel vorgelesen haben, weiß er auch, dass das mit dem Ausstreuen eine Mistidee ist und wenn alle Stricke reißen, könntest du das als Grundlage für die nächste Mittwochsgeschichte nehmen. :grin

  • Na ja, ich meine, auf dem Land sind vier Kilometer durchaus überschaubar und einem aufgeweckten Fünfjährigen zumutbar. Andererseits schadet es der Geschichte nicht, wenn ich einen Siebenjährigen daraus mache, oder was wäre Euer Vorschlag?

    Schon der weise Adifuzius sagte: "Das Leben ist wie eine Losbude, wenn Du als Niete gezogen wurdest, kannst Du kein Hauptgewinn werden.":chen

  • Zitat

    Original von Marlowe
    Na ja, ich meine, auf dem Land sind vier Kilometer durchaus überschaubar und einem aufgeweckten Fünfjährigen zumutbar. Andererseits schadet es der Geschichte nicht, wenn ich einen Siebenjährigen daraus mache, oder was wäre Euer Vorschlag?


    Oder Du machst einen 17jährigen draus, der sich auf halber Strecke mit seiner Flamme trifft. :-) Danach kannst Du dem Ganzen eine, sagen wir mal "erwachsenere" Richtung verpassen - immerhin sind sie ja weit und breit alleine im Wald. :-)


    Oder Du machst halt einfach einen Siebenjährigen draus. ;-)


    Gruss,


    Doc