Schreibwettbewerb Juli 2007 - Thema: "Frei"

  • von Nudelsuppe



    „Welchen Aufwand an Leben man betreiben muss, um nur einen halbwegs gelungenen Satz schreiben zu können“, sagte Jana.
    „Du bist erst Zwanzig“, sagte ich.
    „Wird das später besser?“
    „Nein, schlimmer. Viel schlimmer.“
    „Kannst du mal ziehen?“ Sie beugte sich über den Tisch und bot mir ihr Ohr an.
    „Am Ohr?“
    „Am Ohrstecker. Ich bekomme den linken nicht raus.“
    „Seit wann?“
    „Was für ein Tag ist heute?“ fragte sie.
    „Mittwoch.“
    „Schön.“ Sie wackelte kurz mit dem Ohr. „Nun mach schon“
    „Mach noch mal.“
    Jana wackelte wieder mit dem Ohr. Es war ein ungewöhnlich hübsches Ohr, wie ich jetzt feststellte. Ich griff zu.
    „Aua. Grobian.“
    Ich lächelte.
    Sie zog die Nase kraus, nahm aber den Ohrstecker an sich, den ich ihr reichte.
    „Warum möchtest du unbedingt schreiben?“ fragte ich.
    „Weil ich so viele Gedanken im Kopf habe, die da drin gefangen sind. Wie Tiere im Zoo. Ich mache dann die Käfigtüren auf, die Elefanten mit den riesigen Schlappohren überfallen Bäckereien, Strauße laufen um die Wette den Kudamm hoch und runter und Krokodile fressen Männer, die einen enttäuschen.“
    „Dann bleiben nicht viele Männer übrig. Was ist mit den Frauen, die einen enttäuschen?“
    „Bestellst du mir noch etwas zu trinken?“
    „Wieder ein Sex on the Beach?“
    „Findest du mich hübsch?“
    „Wie Apfelmus.“
    Sie wackelte wieder mit den Ohren.
    „Kannst du das auch?“
    Ich versuchte es.
    „Warum schreibst du? Du kannst nicht mal mit den Ohren wackeln. Du bist ja ganz nett, aber mit Ohren, da solltest du dich etwas besser auskennen.“
    Ich nickte. „Werde ich jetzt von einem Krokodil gefressen?“ fragte ich.
    „Das überlege ich mir noch.“
    „Ich würde gern noch ein bisschen am Leben bleibe.“
    „Und dann?“
    „Bestelle ich dir einen Sex on the Beach.“
    Jana wackelte mit den Ohren. Ich kräuselte die Nase. Sie lachte. Ich sah, wie die Käfigtür sich vor mir öffnete.
    Gleich morgen würde ich eine Bäckerei überfallen, den Kudamm hoch und runter rennen, und alle Frauen fressen, die mich jemals enttäuscht haben.

  • von Sinela



    Verzweifelt umrundete sie das Haus. Es musste doch eine Möglichkeit geben, dort hinein zu kommen. Es regnete seit Tagen in Strömen und obwohl es laut Kalender Hochsommer war, dümpelte die Temperatur nahe dem einstelligen Bereich herum. Das war selbst für England entschieden zu kalt! Sie fror erbärmlich. Außerdem könnte sie ein ganzes Pferd verspeisen, so hungrig wie sie war. Durch Zufall hatte sie dieses Gebäude entdeckt, als sie Ausschau nach einem trockenen, warmen Platz und etwas zum essen hielt. Schlagartig unterbrach sie ihre Suche und starrte voller Begierde in das Fenster hinein. Der Küchentisch bog sich unter den Speisen, die da standen. Das musste das Schlaraffenland sein, von dem ihr ihre Mutter immer erzählt hatte! Verlockende Düfte hingen in der Luft, ließen ihren Geruchssinn erbeben. Düfte? Das Fenster musste offen sein, sonst würde sie diese herrlichen Sachen nicht riechen können! Und tatsächlich, das Fenster war nur gekippt, sodass sie nach mehreren Anläufen einen Weg ins Innere des Hauses fand. Sie ließ sich auf einem Stuhl am Tisch nieder, schaute voller Begierde auf die verlockenden Dinge, die dort standen: Braten, Hühnchen, Kartoffeln, verschiedene Obst- und Gemüsesorten, mehrere Desserts – womit sollte sie ihren abartigen Hunger zuerst stillen? Lange überlegte sie nicht, dazu war das Loch in ihrem Magen zu groß. Sie begann einfach mit dem Essen, welches ihr am nächsten stand. Sie vergaß ihre Umgebung, nur die Nahrung zählte, und zu ihrem Glück betrat keiner der Hausbewohner die Küche, während sie sich dort gütlich tat.


    Die Morgensonne schien hell in das Zimmer, in dem sie nach ihrem ausgiebigen Mahl Zuflucht gesucht und die Nacht verbracht hatte. Nachdem sie aus ihrem Versteck gekrochen war, wollte sie das Haus schnellstmöglich verlassen. Doch sowohl das Fenster als auch die Tür des Raumes waren verschlossen. Sie hatte Durst, brauchte dringend etwas zum trinken, sonst würde sie den Tag nicht überstehen. Voller Verzweiflung rumste sie gegen das Glas, immer und immer wieder. Ihr Blick fiel nach oben: War das Fenster nicht doch gekippt? Sie versuchte nach oben zu kommen, aber irgendetwas hielt sie erbarmungslos fest. Der Schreck fuhr ihr in alle Glieder, als sie sah, worin sie fest hing. Sie zappelte mit aller Kraft, aber es gab kein Entkommen mehr für sie. Sie würde nie wieder frei sein. Hilflos hing die kleine Stubenfliege im Netz und schaute voller Grauen hinauf zu der großen schwarzen Spinne, die mit eiligen Schritten auf sie zukam.....

  • von Tom



    „Als ich das Geräusch hörte, ein kreischendes Donnern, wie damals, als mir an der Ampel ein schlafender LKW-Fahrer ins Heck gekracht war, nur viel, viel lauter, und ein Rütteln durch die Maschine ging, da wusste ich: Jetzt ist es vorbei. Ich saß direkt am Fenster, kurz hinter der Tragfläche, und ich konnte auch sehen, was geschehen war. Ein Stück fehlte, ungefähr vier Meter Flügel, und die Turbine war abgerissen. Keine Ahnung, was uns da getroffen hatte. Sofort setzte Geschrei ein, die Fluggäste brüllten, weinten, rüttelten an den Sitzlehnen, einige sprangen auf, andere schlugen auf die Gäste ein, die am Fenster saßen, um selbst etwas sehen zu können. Seltsam war, dass der Himmel in einem stählernen, fast klinisch sauberen Blau strahlte; man erwartet in solchen Situationen immer Blitz und Gewitter. Es war, als würde uns jemand verspotten. Schließlich knackte es in den Lautsprechern, so laut, dass es das Geschrei und das röhrende Geräusch von draußen übertönte. Der Pilot klang hysterisch. „Die Maschine ist getroffen und stark beschädigt. Wir werden abstürzen. In etwa vierzig Sekunden lan ... treffen wir auf. Gott sei mit Ihnen.“ Ich sah zur Decke, in Spielfilmen fallen in solchen Momenten die Sauerstoffmasken heraus, aber nichts dergleichen geschah, vermutlich hatten wir schlicht keinen Druckverlust. Ich wunderte mich einen Moment lang über meine klaren Gedanken, dann wurde mir bewusst: Ich werde in vierzig Sekunden sterben! Aus dem Röhren war ein knatterndes Pfeifen geworden, die Maschine zitterte, drehte sich aber nicht, die Erde kam in mein Sichtfeld, da waren keine Wolken, und der Horizont schien uns entgegen zu kippen. Wie würde ich den Tod empfinden? Würde ich noch wahrnehmen, wie sich der viele Stahl, das Gerüst der Sitze, was auch immer, in mich hineinbohrt? Würde ich Schmerz empfinden, noch miterleben, wie es mir die Arme abreißen, den Brustkorb eindrücken, die Knie zerschmettern würde? Oder wäre einfach alles in Sekundenbruchteilen vorbei?
    Ich hatte kaum einen Blick für das Chaos in der Maschine, vermutlich waren einige zu den Notausgängen gestürmt, direkt im Gang neben mir lag jemand und schrie, während andere über ihn hinwegtrampelten. Ich nahm die Kotztüte aus der Tasche und einen Kugelschreiber aus der Jacke, noch zwanzig Sekunden vielleicht, möglicherweise nur noch zehn, aber mir fiel nichts ein, das ich als Abschied hätte schreiben können. Also legte ich die Hände auf die Knie, sah aus dem Fenster, ignorierte den Krach, das animalische Geschehen um mich herum, und wartete auf meinen Tod. Seltsamerweise spürte ich keine Angst.
    An dieser Stelle erwache ich meistens.“


    „Und wie oft haben Sie diesen Traum?“


    „Nacht für Nacht.“


    „Seit wann?“


    „Seit wir die Reise gebucht haben.“


    Die Therapeutin nickte, dann notierte sie etwas auf dem Klemmbrett.


    „Es gibt einige Therapieansätze bei Aviophobie.“ Sie zog die Stirn kraus und nickte wieder. „Ich könnte Sie wahrscheinlich davon befreien.“ Sie zögerte. „Aber - wäre es nicht einfacher, eine Busreise zu unternehmen? Sie sind zweiundachtzig.“


    „Ich will einmal fliegen, bevor ich sterbe.“


    „Warum?“


    „Um einmal dieses Gefühl zu haben, ich hatte es noch nie. Kennen Sie Reinhard Mey?“