Titel: Alice oder die Sintflut
Autorin: Jutta Mülich
Verlag: Donat
Erschienen: Oktober 2006
Seitenzahl: 383
ISBN: 3938275200
Preis: 18.80 EUR
Die Autorin:
Jutta Mülich begann ihre schriftstellerische Laufbahn mit einem Opernlibretto für den Komponisten Jens-Peter Ostendorf. 1998 und 1999 folgten ihre Romane „Mein Mittwochsmann“ und „Pauls versammelte Briefe“. Außerdem veröffentlichte sie Erzählungen und Kurzgeschichten in verschiedenen Anthologien. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Lunestedt, einem kleinen Dorf nahe der Seestadt Bremerhaven.
Worum geht es?
Auf der Suche nach einer Verwandten reist die junge Alice Goldberg an die Nordseeküste. Eine dörfliche Idylle, die es längst nicht mehr gibt. Eine andere Welt tut sich auf, eine Welt des Grauens, der Skrupellosigkeit und der Rohheit. Vor dem Hintergrund fremdenfeindlicher Übergriffe treffen vier Frauen aufeinander, bestrebt, den Abgründen zu entrinnen. Ein mitreißender Roman, angesiedelt im Spannungsfeld von Vergangenheitsbewältigung und Erinnern für die Zukunft, von Mitgefühl und Menschenverachtung, von Hass und Liebe. So beschreibt der Klappentext dieses Buch.
Meine Meinung:
Jutta Mülich hat es geschafft, das, was von vielen so romantisch verklärt wird, ins, im wahrsten Sinne des Wortes, rechte Licht zu rücken: Das Dorf! Sie verschweigt nichts und zieht dieser biederen, spießigen, kleinbürgerlichen Gartenzwergidylle die Maske vom Gesicht. Hinter diese Maske verbirgt sich nichts anderes als tumbe Deutschtümelei und Ausländerfeindlichkeit. Selbstgerechtigkeit ist offenbar Programm und Triebfeder vieler Handlungen. Alles ist irgendwie mit allem verbandelt und die Dorfgemeinschaft ist eine in sich verschworene Gemeinschaft, deren Fäulnisprozess aber kaum unter dem Deckel zu halten ist.
Die verschiedenen Charaktere haben klare Konturen ohne überzeichnet zu sein. Ihre Sprache ist klar und sie benennt die Dinge so wie sie sind. Sie ist der unbestechliche Beobachter dieser dörflichen Lebensgemeinschaft und nichts und niemand wird von ihr mit Worten umschmeichelt. Sehr gut passen sich die Blicke zurück in den Lauf der Geschichte ein und stören nicht den Fluss dieses Buches. Die Geschichte ist rund, kompakt ohne aber glattgebügelt zu sein,.
Viel bleibt nicht übrig von der angeblich liebenswerten Rauhheit der norddeutschen Küstenbewohner. Ob an der Küste oder irgendwo hoch in den Bergen, die landsmannschaftlichen Legendenbildungen finden hier in diesem Roman keine Fortsetzung. Es sind Menschen die hier handeln, Menschen wie sie überall in diesem Lande leben könnten, und nichts ist ihnen so fremd, wie die ihnen angeblich anhaftende landsmannschaftliche Lebensart.
Es ist ein Buch mit 383 Seiten, und als unsichtbare Überschrift über jeder Seite steht: Langeweile verboten! Und an dieses Verbot hat sich Jutta Mülich konsequent gehalten. Sie erzählt spannend und kurzweilig, eine wirkliche Vollbluterzählerin. Für mich war nach Beendigung dieses Buches klar, dass auch beiden anderen Mülich-Romane bald in meinem Bücherregal stehen werden.
Das Buch zwingt den Leser aber auch zur Beantwortung der Frage: Sehen wir zu oft weg? Sind wir nicht in Wirklichkeit auf dem rechten Auge blind und nicht wie uns immer wieder suggeriert wird, nur auf dem linken Auge? Ist dieses dort geschilderte fiktive Dorf in Wirklichkeit nicht nur die Fiktion für sehr viele in diesem Land existierende Dörfer?
Jutta Mülich gilt der Dank, dass wir immer wieder gezwungen werden, Stellung zu beziehen. Auch dieses Buch war wieder ein Anstoß dafür, Zivilcourage zu zeigen und nicht alles hinzunehmen.
Nachdenklich macht der Vorspruch zu diesem Buch:
„Alle Personen des Romans wie auch das erwähnte Dorf sind frei erfunden. Wer sich dennoch in Heinrich Schierling oder Krakow, in den Bulls oder in der schweigenden Bevölkerung wiederzuerkennen glaubt, wird hoffentlich vor sich selbst erschrecken“.
Dem ist wahrlich nichts mehr hinzuzufügen.