Michel Onfray: "Wir brauchen keinen Gott"

  • Leserunde:
    Im Moment kann ich mir nicht vorstellen, was eine Leserunde zu diesem Buch bringen würde. Es werden nur wieder jene Stellungen bezogen und (Schein)argumentationen beiderseits hin- und herfliegen, die wir bereits aus drölfundfuffzich Glaubens/Nichtglaubens-Threads kennen. Zum Buch und Autor, seiner Schreibe wird dabei nicht viel rumkommen, weil wieder alle damit beschäftigt sein werden Fehler im jeweils anderen Denkmodell aufzuzeigen, wo doch dies, das und jenes nicht sein kann, nicht sein darf.


    Flexible Mitte:
    Ja, wäre schön, wenn es die beidseitig geben würde. Allein mir fehlt der Glaube daran. ;-)
    Ist vielleicht ein bisschen wie mit Schwangerschaften. Da gibt es die Nichtschwangeren, die auch Kinder nicht mögen. Dann gibt es die Nichtschwangeren, die vielleicht gerne mal Kinder hätten oder sich sogar bewusst dagegen entschieden haben. Dann diejenigen Nichtschwangeren, die gerne eins haben würden, aber ums Verrecken keins bekommen. Und schon sind wir bei den Schwangeren, die vielleicht besser kein Kind bekommen sollten. Dann sind da die Schwangeren, die ganz entspannt damit umgehen und normale Menschen bleiben. Und dann haben wir noch die Schwangeren, die total austicken, nur noch schwanger sind und alle Welt mit ihrer Schwangerschaft beglücken müssen.


    Die flexiblen Nichtschwangeren und Schwangeren sind da schwer auszumachen, obgleich sie bestimmt zu finden sind. Hoffentlich.


    Gruss,


    Doc, immer noch unentschlossen - aber vielleicht sollte ich auch erst das Jesus-Buch von Ratzinger lesen, damit ich gestählt Onfray gegenübertreten kann. :-)

  • Zitat

    Babyjane
    Jane, die wartet daß jemand aus der flexiblen Mitte das Buch liest und sagt, was er dazu denkt!


    Ob ich zur "flexiblen Mitte" gehöre, weiß ich nicht. Jedenfalls habe ich mir nach langem Überlegen und "schweren inneren Kämpfen" heute früh das Buch bestellt und werde mich dann hier äußern, wenn ich es gelesen habe.

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Zitat

    Original von Doc Hollywood


    Doc, immer noch unentschlossen - aber vielleicht sollte ich auch erst das Jesus-Buch von Ratzinger lesen, damit ich gestählt Onfray gegenübertreten kann. :-)


    Hm, ich fürchte, dass dir Ratzinger da wenig weiterhelfen kann. Er greift nämlich seinerseits die historisch-kritische Bibelauslegung an und bevorzugt eine Jesus-Betrachtung, mit der ich, der ich in der zweiten Hälfte der 80er Jahre studiert habe, an einigen Stellen ernsthafte Probleme habe... . Fang lieber mit dem unten stehenden Jesus-Buch an.


    Zur Leserunde: Ich habe an anderer Stelle ja bereits beschrieben, warum ich gezögert habe, dieses Buch (als erster) zu rezensieren: Nämlich aus der Befürchtung heraus, dass es in dem Thread dann nicht um Inhalte des Buchs geht, sondern die immer wiederkehrenden Aussagen eine neue Plattform finden. Auf der anderen Seite war ich nach Toms Rezension natürlich "gezwungen", auch zu rezensieren. Das Buch, wohlgemerkt. Eine Leserunde halte ich aktuell für sehr schwierig. Ich habe schon bei der Reaktion auf die beiden vorliegenden Rezensionen den Eindruck, dass die Inhalte derselben kaum eine Rolle spielen. Die sogenannte "flexible Mitte" würde ich gerne mal sehen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie sie in diesem Zusammenhang positioniert ist. Umgekehrt halte ich die in den Rezensionen aufscheinenden Positionen bei weitem nicht für Einstellungen, die an irgendeinem Rand zu finden sind. Besonders gilt dies natürlich für meine ;-)

    „Streite niemals mit dummen Leuten. Sie werden dich auf ihr Level runterziehen und dich dort mit Erfahrung schlagen.“ (Mark Twain)

  • Habe gerade gesehen, dass das Gnilka-Buch im Juli als gebundene Sonderausgabe bei Herder für 16,90.- erscheint. In jedem Fall lesenswert!

    „Streite niemals mit dummen Leuten. Sie werden dich auf ihr Level runterziehen und dich dort mit Erfahrung schlagen.“ (Mark Twain)

  • Zitat

    Original von churchill


    Hm, ich fürchte, dass dir Ratzinger da wenig weiterhelfen kann. Er greift nämlich seinerseits die historisch-kritische Bibelauslegung an und bevorzugt eine Jesus-Betrachtung, mit der ich, der ich in der zweiten Hälfte der 80er Jahre studiert habe, an einigen Stellen ernsthafte Probleme habe... . Fang lieber mit dem unten stehenden Jesus-Buch an.


    zu dem buch ein sehr interessanter artikel bei spon:


    [URL=http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,479636,00.html]"Eine peinliche Entgleisung"[/URL]


    Wer war Jesus von Nazareth? Gottes Sohn, wie ihn die Evangelien zeigen, behauptet Benedikt XVI. in seinem Jesus-Buch. Irrtum!, meint der Göttinger Theologie-Professor Gerd Lüdemann. Er rechnet auf SPIEGEL ONLINE mit dem Werk des Papstes ab.

  • @ tom


    Nein, ich gehöre weniger zur flexiblen Mitte, dazu habe ich einen zu großen Groll gegen die Kirche als Institution und einige ihrer "scheinheiligen" Anhänger..... 5 Jahre Heilig Geist Gymnasium sind da ziemlich prägend.


    Ich meinte eigentlich mehr eine Eule, die in ihrer Argumentation nicht so festgefahren ist, wie ich dich und auch Churchill (übrigens amüsiere ich mich immer wieder über die englische Übersetzung dieses Namens "Kirche krank"..... :chen ) empfinde, einfach eine etwas objektivere Meinung.


    Jajaaaaaa, Meinungen sind nie objektiv, aber ihr beide vertretet für mich jeweils das andere Extrem und genauso empfinde ich auch eure Rezis.


    Was das Hinterfragen angeht, nun ich bin in meinen 5 Schuljahren quasi geimpft worden, braver kleiner Gotteskrieger hätte ich werden sollen. :grin
    Ich habe mich also lange genug mit der Thematik auseinander gesetzt, ich brauche keine Beweise, warum ich nicht an die Kirche glaube, ich brauche auch mit niemandem zu diskutieren, ob es wichtig ist zu glauben, ich weiß, daß ich es nicht tue. (PUNKT!)
    Von dem Buch verspreche ich mir lediglich ein wenig erhellende Bestätigung, die ich einfach durch die Diskussion hier, ob Tacitus nun ein Klatschmaul war oder nicht, nicht erhalte.


    Grundsätzlich fehlt mir allerdings der Eifer und die Wut, die hier einige bei dem Thema an den Tag legen. Religion ist für mich ohne jegliche Emotion, ich rege mich nicht darüber auf, wenn jemand etwas anderes glaubt als ich, ich bin auch nicht beleidigt, wenn er sagt, mein Glaube sei Schwachsinn oder dumm. Es ist mir egal, denn ich glaube so oder so, was ich will.
    Aus diesem Grund belächel ich hier so manchen Diskussionsteilnehmer und kann ihn auch auf anderen Gebieten nicht mehr ernst nehmen.
    Aber das führt schon wieder vom Buch weg..... :wave



    @ Sicollier
    Ich warte gespannt, du erscheinst mir zumindest mittiger der gemilderter, als Tom und Church :lache


  • Hallo BJ, ich glaube, ich werde meinen nick endlich ändern müssen. Schreibt sich dann zwar komplizierter, wird aber richtiger churchchill heißen ...


    Ich muss dir etwas wirdersprechen: Eine Extremposition nehme ich sicherlich in diesem Bereich nicht ein. Natürlich bin ich als Diplomtheologe und Pastoralreferent nicht "unparteiisch", tatsächlich wirst du aber in fast allen Glaubensthreads weit extremere Positionen lesen als meine. Deshalb würde ich mich auch über weitere Rezis bezüglich Onfray freuen, weil ich dann automatisch in die Mitte gespült werde ;-)

    „Streite niemals mit dummen Leuten. Sie werden dich auf ihr Level runterziehen und dich dort mit Erfahrung schlagen.“ (Mark Twain)

  • @ Church
    :grin


    Das Belächeln, war weniger auf dich oder Tom gemünzt, ich dachte das dürfte klar sein :wow



    Für mich nimmst du schon eine Extremposition ein, wenn du sie auch nicht so vehement und rücksichtslos vertrittst, wie andere hier....

  • Hallo, BJ.


    Zitat

    Für mich nimmst du schon eine Extremposition ein, wenn du sie auch nicht so vehement und rücksichtslos vertrittst, wie andere hier....


    Ich verstehe, ehrlich gesagt, nicht, was Du mit "Extremposition" meinst. Churchill scheint, das liegt in der Natur der Sache, insbesondere seines beruflichen Hintergrunds, davon überzeugt zu sein, daß es "Gott" gibt, aber das hält ihn ja keineswegs davon ab, ganz im Gegenteil, sich mit den Hintergründen, Widersprüchen, sogar direkt ablehnenden Haltungen zu beschäftigen. Wie Doc schon schrieb, bei solchen Schwarz-Weiß-Entscheidungen, was das ganze nicht werten soll, gibt es kein "Vielleicht". Auch diejenigen, die ein bißchen wachsweich zwar die Kirche ablehnen, sich aber dennoch für jemanden halten, der an eine wie auch immer geartete göttliche Kraft glaubt, haben eigentlich eine klare Entscheidung dafür getroffen. Und die anderen, zu dehnen ich mich zählen muß, denke ich mal, lehnen das ganze von A bis Z ab. Die ganzen Erklärungsmodelle, Schriften, philosophischen Konzepte usw. usf. sind in der Hauptsache dafür gedacht, die eine oder andere Position zu stützen. Wenn man ehrlich ist, gibt es keinen relativierenden Atheismus, wie es auch keinen naturalistischen Theismus gibt oder so - beides stellt nur ein argumentatives Aufweichen der Position dar, um sie gleichzeitig zu stützen, weil sie nichtsdestotrotz feststeht wie das Amen in der Kirche. Bis auf weiteres jedenfalls. Ich bin nicht davor gefeit, daß sich Gott mir offenbart, fürchte ich, und wenn die Physiker jene letzte, alles zusammenhaltende Kraft entdeckt haben, wird möglicherweise der Versuch enden, auf jener klapprigen, mechanischen Schreibmaschine, die sich Theismus nennt, jene hochkomplexe Software laufen zu lassen, die man als "Erkenntnis" bezeichnen könnte. Oder einfach: Leben.


    Was Du finden könntest, das sind Leute, die sich mit dieser Frage bisher nur emotional und nicht "wissenschaftlich" befaßt haben. Aber auch bei denen dürfte sich, fürchte ich, durch keine Lektüre dieser Welt die Grundhaltung ändern.

  • Tom, mir führt das zu weit, für einen Austausch in einem Rezithread....


    Du mußt mir aber doch zustimmen, daß es etwas anderes ist, ob du als jemand, der das ganze von A-Z ablehnst oder Churchill als jemand, der sich ganz klar für die Kirche allein schon durch seine Berufswahl entschieden hat, dieses Buch rezensierst.
    Ihr beide vertretet für mich jeweils halt die jeweils gegensätzliche Auffassung, ob das nun extrem ist oder nicht, lasse ich mal dahin gestellt.


    Daher würde ich mich freuen, wenn es eine Rezi von jemandem gäbe, der sich eben einstellungsmäßig irgendwo zwischen euch befindet....
    Mit der Fähigkeit sachlich mit dem Thema umzugehen oder aber einen Diskurs zu zu lassen hatte meine Aussage nichts zu tun, lediglich mit den äußeren Umständen, die gerade bei dieser Rezi wohl eine große Rolle spielen.

  • @curchill

    Zitat

    Wenn diese Feststellung nahezu zeitgleich mit meiner Rezension erschienen wäre, könnte ich das ja verstehen, aber eine Dreiviertelstunde danach müsstest du gemerkt haben, dass mindestens zwei Personen das Buch gelesen haben.


    Entschludigung, aber da ich ein bißchen empfindlich auf den zum Teil doch harten Schlagabtausch reagiere, hatte ich, fürchte ich, gar nicht so weit gelesen, sondern einfach zwischendrin gepostet.
    Habe ich aber nun schleunigst nachgeholt und deine Rezi bestätigt den Entschluss es auf der Wunschliste zu belassen.


    Tom
    Wie deine Pinguin und Eisbär - Anekdote zeigt, man muss sich auch für die Hintergründe interessieren. Nicht alle was man hört stimmt.

  • @BJ: Zustimmung. Aber ich fürchte, und darauf wollte ich hinaus, daß Du niemanden finden würdest, der keine klare Position in dieser Sache hat.


    Joschi : Die Hintergründe? :wow Die erste Fassung der Erzählung stammte aus erster Hand, quasi. Aber das bedeutet mitnichten, daß sie auch stimmte. Vielleicht war schon die Behinderung der Kinder dazuerfunden, vielleicht war es kein kleiner Pinguin, sondern nur eine Ente. Möglicherweise hatte sich das ganze nicht im Zoo zugetragen, sondern nur in irgendeinem Neuköllner Stadtpark. Und vielleicht gab es überhaupt keine Geschichte. Jedenfalls keine authentische. Sondern nur den Wunsch, etwas zu erzählen, sich wichtig zu machen, zu beeindrucken, eine Pointe loszuwerden, zu manipulieren, Eindruck zu schinden. Wer will das wissen?

  • Tom
    Oje, ich wußte schon beim schreiben, dass das Wort "Hintergründe" unglücklich gewählt ist. (Leide manchmal unter Wortfindungsstörungen :cry!)

    Zitat

    Sondern nur den Wunsch, etwas zu erzählen, sich wichtig zu machen, zu beeindrucken, eine Pointe loszuwerden, zu manipulieren, Eindruck zu schinden.


    Genauso hatte ich das verstanden!

  • Mit diesem Buch bin ich nicht glücklich geworden.
    Onfray läßt keinen Stein auf dem andern, das ist völlig richtig, nur reißt er vornehmlich Mauern nieder, die ohnehin nicht mehr stehen und hat auch eine Vorliebe dafür, zielsicher die Türen einzurennen, die sperrangelweit offenstehen.
    Es ist ein Rundumschlag und dabei trifft der Autor nicht selten sich selbst. Ich habe auch kaum ein Fettnäpfchen gefunden, in dem seine großen Füße nicht landen. Das Ganze ist unsystematisch, in der Fragestellung wie in der Ausführung, ein wild zusammengefügtes Sammelsurium zu den drei Religionen Christentum, Judentum und Islam. Richtiges steht fröhlich neben Halbrichtigem und völlig Falschem. Es ist emotional, stürmisch, überschwenglich, polemisch. Es ist engagiert, aber eher im Sinn eines blinden Aktionismus.
    Onfray räumt gründlich auf mit den guten Ansichten über die Religionen. Das Durcheinander, das er dabei hinterläßt, ist der Sache leider nicht hilfreich.


    Der Autor ist Philosoph. Er hat auch eine eigene philosophische Richtung entwickelt, den von ihm so genanten Hedonismus. Das ist wichtig zu wissen bei der Lektüre, weil sich daraus ein wesentliche Argumentationsstrang ergibt gegen die Körperfeindlichkeit und das, was Onfray (unhinterfragt) den ‚Todestrieb’ der drei monotheistischen Religionen nennt. Diese Kapitel sind auch recht interessant zu lesen. Die Trennung des Jenseits vom Diesseits, ein dem Diesseits zugewandtes Leben ist eine wichtige Forderung.


    Eine weitere Grundforderung Onfrays besteht darin, daß man sich der Vernunft bedienen soll. Das ist alles schön und gut, nur definiert er ‚Vernunft’ an keiner Stelle. Im Gegenteil wird das Wort im weiteren Verlauf des Texts synonym mit ‚Verstand’ und ‚Intelligenz’ gebraucht. Das macht das Lesen nicht gerade einfach. Es macht seine Einsichten auch nicht überzeugend, denn es spricht allgemein und recht vage eine ‚vernünftige’ LeserInnenschaft an. Wer möchte sich nicht gern darin wiederfinden?
    Ähnlich ist es mit dem ‚Fortschritt’. Die Religionen sind irgendwie dagegen, sie sind wissens - und wissenschaftsfeindlich. Das stimmt nur zum Teil, hier müßte man die Machtfrage schärfer formulieren. Und ‚Fortschritt’ definieren.
    Auch hier, leider, nur der Appell an ein unbestimmtes Fortschrittsdenken.


    Zu den Religionen:
    Onfray weist sehr zurecht, ziemlich überzeugend und eingängig auf den eklatanten Unterschied zwischen den Forderungen gerade des Christentums in puncto Menschlichkeit und der Praxis hin. Er schildert die jahrhundertlange kriegerische, verbrecherische, blutige Geschichte des organisierten christlichen Glaubens. Glaubwürdigkeit hat dieses System keine mehr. Alles richtig.
    Er verweist auf den Schaden dieser Glaubensform für den Menschen, den Haß auf Denken und den Körper, auf die Frauen. Richtig. Originell ist daran nichts.


    Er nimmt die Überlieferung auseinander, all das ist nicht neu. Einiges daran aber ist extrem störend. Ich verstehe einfach nicht, wie man sich auf 15 Seiten über eine als ‚hysterisch’ deklarierte Befindlichkeit eines einzelnen Mannes, der wahrscheinlich vor 1900 Jahren lebte, auslassen kann - wodurch man sich übrigens als Interpret selber in die nicht minder ‚religiös’ behaftete Schule Freuds begibt. Die Frage lautet tatsächlich nicht, ob Paulus einen Klaps hatte oder nicht, die Frage eines kritischen Verstands muß lauten: wie konnte es geschehen, daß sich die zu einem Gutteil menschen - und körperfeindliche Ideologie eines Einzelnen ausbreiten konnte? Wo sind die Verbindungen zu damals existierenden Vorstellungen? Wie konnte sich der vom Autor proklamierte ‚Todestrieb’ solche Geltung verschaffen? Und wie kam es, daß sich so etwas über so viele hundert Jahre halten konnte?


    Schön und gelungen ist die Darstellung der Konstruktion eines ‚Jesus’. Polemisch formuliert, interessant zu lesen. Auch hier allerdings nervt der Ausdruck ‚Hysterie’ und damit die strenge Anbindung an Freud. Hier ist es Onfray, der gegenüber seiner klassischen Prägung als französischer Intellektueller, für die Freud seine spezifische philosophisch-psychologische Bedeutung hat - nicht kritisch genug ist.
    Daß es im Buch auch einen Seitenhieb gegen die Ikone der französischen Intellektuellen, Foucault, gibt, ist nur logisch. Die Söhne wehren sich gegen die Väter. :grin


    Weniger schön zu lesen sind die Bemühungen Onfrays, Religion und Faschismus zusammenzubringen. Alles, was ihm dazu einfällt, ist leider Hitler und somit wird die Sache mehr als schief. Da fehlt Wissen, da fehlen grundlegende Informationen über die Entwicklung des Antisemitismus in Deutschland. Wie über die höchst verzwickte Stellung der Kirchen zum Nationalsozialismus. Schön war das Verhalten des Vatikans nicht, aber zu behaupten, wie es der Autor tut, daß Katholiken in Deutschland während des Dritten Reichs nicht verfolgt wurden, ist einfach falsch. De facto hatten sie mit den Nazis und der äußerst zurückhaltenden eigenen Hierarchie zu kämpfen, die ihre Machterhaltung mittels der Konkordate im Auge hatte und der es egal war, wenn die Nazis katholische Schulen schlossen, Priester verunglimpften und einsperrten. Auf evangelischer Seite war es im übrigen kaum anders. Bonhoeffer, unser großer Held heutzutage, hatte schwere Probleme mit den eigenen Leuten. Wie gesagt, hier fehlt Wissen. Gewaltig.


    In Bezug auf Islam und Judentum hapert es ohnehin. Bei der Behandlung dieser Themenbereiche hörte bei mir der Spaß dann auch auf. Tatsächlich begann mein Unbehagen bereits mit dem sehr impressionistischen Vorwort. Eine Fahrt durch die ‚mauretanische Wüste’ regt Onfray zum Nachdenken an. Ich würde hier das Wort ‚denken’ nicht benutzen. Denn kaum fällt sein Philosophenauge auf eine kleine Familie, die mit ihren Kamelen dahinzieht, fällt ihm gleich Muhammad ein. Überhaupt ist seine Vorstellung vom Nahen Osten eher Wüstengeprägt. Stammt für ihn doch der Kern aller drei Religionen, Judentum, Islam, Christentum, aus der Wüste. Das ist Unsinn.
    Abraham kam aus Ur (Stadt), Muhammad aus Mekka (Stadt), der biblische Jesus aus Bethlehem (Stadt). Städte spielen in der Ausbreitung aller drei Religionen ein ganz wichtige Rolle.


    Ebenso unsinnig ist es, die muslimischen Paradiesvorstellungen aus dem Gegensatz zwischen Wüste und fruchtbarem Land abzuleiten. Richtig schlimm ist es schließlich, Selbstmordattentätern tutti quanti zu unterstellen, allein der Wunsch, in ein wie immer geartetes Paradies zu gelangen, triebe sie zu ihren Taten. (S. 143 - 147) Hier wird ein grundlegend politischer Konflikt zu einem religiösen reduziert. Hier werden bekannte west - und mitteleuropäische Vorurteile gegen Menschen aus arabischen Ländern offenbar: alles arme Kameltreiber.


    Das Wenige, das über die Juden im Buch steht, ist keinen Deut besser. Die Ermordung Yassins durch Sharon war kein Religionskonflikt. Warum wird Sharon an der Stelle als ‚Jude’ bezeichnet? Der Zionismus, eine weltliche, nationalistische, imperialistische Bewegung kommt kaum vor. Dafür werden die Jeschiwas auf ein verquer-verquaste Weise zu Schulungsstätten der kriegerischen Vergangenheit des Judentums hochstilisiert.
    Ich gebe zu, daß mir an diesen Stellen ein paar böse Bezeichnungen für westeuropäische Intellektuelle in den Sinn kamen.


    Brauchen wir dieses Buch? Nützt es etwas? Soll man es empfehlen?
    Ich müßte sagen ja. Denn das Buch ist so voller Fehler und Fehleinschätzungen in seiner völlig unpolitischen Herangehensweise, daß man jeden Satz, jede Behauptung des Autors überprüfen muß.
    Dabei kann man unendlich viel lernen, über die Texte der drei Religionen, über Geschichte, über Tradition, über die entsetzliche Verquickung von Staat und Religion, die so tödlich ist für Menschen.
    Zugleich ist es aber wegen der unstrukturierten, unpolitischen Herangehensweise nicht wirklich brauchbar in einer Auseinandersetzung mit den Religionen. Nicht im Kampf gegen die Kirchen hierzulande, nicht gegen eine neu erwachende Religiosität, nicht gegen Fundamentalismus in jeder Form. Es bietet keine Analysen, kein Lösungen.
    Die Debatte, um mit den Worten Onfrays zu sprechen, gewinnt damit an Farbe, aber nicht an Qualität.


    edit: Tipfehler

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von magali ()

  • Oh je, was kann ich nach Magalis klasse Rezension noch schreiben?


    Ich habe mein Buch heute erst bekommen, und bin bis jetzt auf Seite 77 angelangt. Mein erster Eindruck war: Großdruck, also Platz schinden. (Sorry, aber das war wirklich mein erster Gedanke.) Bisher ist mir nichts begegnet, was mein Weltbild ins Wanken bringen könnte. Onfray schmeißt mit vielen Namen um sich, um dabei zuzugeben, daß die Leute heute keiner mehr kennt. Seit Dan Brown bin ich vorsichtig mit solchen Angaben und werde, vor einer endgültigen Meinung, erst mal versuchen, ob sich da wenigstens sachlich hinsichtlich der Personen und deren Werke etwas finden und verifizieren läßt.


    Und etwas salopp ausgedrückt, glänzt das Buch bisher durch die Abwesenheit von Ernsthaftigkeit. Was ich gefunden habe, ist Häme, Haß, Polemik, Beleidigung. Was ich nicht gefunden habe, sind sachliche Argumente; nun, vielleicht kommen die ja noch.


    Also bisher bin ich sehr unzufrieden, weil auf einer sachlich-argumentativen Ebene bisher überhaupt nichts geboten wurde, und mir meine Zeit für reine Polemiken eigentlich zu schade ist. Doch nach den heftigen Diskussionen hier werde ich mich auf jeden Fall weiter durchkämpfen und zu späterem Zeitpunkt wieder melden.

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Coole Rezension, magali. :-)
    Vielleicht näher an der flexiblen Mitte, als Du selbst gedacht hast, was?


    Nach Deiner umfangreichen Buchbesprechung werde ich es also nicht kaufen, nicht lesen, nicht verschenken. Ich bin bereits ein kritisch denkender Mensch, zu hinterfragen muss ich nicht mehr lernen. Und so wie es aussieht von Onfray schon gar nicht.


    Gruss,


    Doc

  • @Doc


    wenn die Mitte neuerdings links zu finden ist, gehöre ich selbstverständlich zur Mitte.



    @SiColier


    Daß das Buch polemisch ist und auch in diesem Sinne gemeint, war eigentlich von vorneherein klar, damit wird ja auch vom Verlag geworben. Dem Autor eben diese Vorgehensweise vorzuwerfen, heißt eigentlich auch, eine offen Tür einzurennen :lache


    Was die Vorwürfe von 'Haß', 'Beleidigung' betrifft, liegt das im Auge von Leserin und Leser. Für jemanden, der, um ein Beispiel zu nennen, an den biblischen Jesus glaubt, ist eine Darlegung, warum es diesen biblischen Jesus im realen Leben nicht gegeben hat und warum der behauptete Wahrheitsgehalt z.B. seiner Wunder 'Schwachsinn' ist, sicher nicht leicht zu ertragen.


    Ich fürchte, mit dem Problem müssen Gläubige leben.
    Wir Ungläubigen haben auch welche ;-)


    Zu Onfray:


    man muß sich darüber im Klaren sein, daß sein 'Traité', also das vorliegende Buch hier, in den Rahmen seiner eigenen Philosophie einzuordnen ist.
    Fur uns Leserinnen und Leser hierzulande, die wir es einfach so vorgesetzt bekommen, fehlen einige Hintergründe und Zusammenhänge.


    Zudem hat sich der Verlag nicht die Mühe gemacht, Onfrays Angaben zu weiterführender Literatur an die deutsche LeserInnenschaft anzupassen. Die vorgeschlagenen Titel sind allesamt nur französisch.
    Das ist sehr sehr schade, weil einem so die Einordnung in hiesige Religions - und Kirchenkritik verschlossen bleibt. Das Buch schwebt sozusagen über allen Wassern, interessierte Leserinnen und Leser kommen erst mal nicht weiter.


    Dennoch kann ich auch zum Einstieg so manche Kapitel in diesem Traité empfehlen, Anregungen zum Nachschlagen und damit Nachdenken gibt es auch genug.
    Wer Polemisches mag, soll es ohnehin lesen, manchmal ist es einfach ein Genuß, Sätze zu lesen, die von jemandem stammen, der kein Blatt vor den Mund nimmt.
    Es muß ja nicht immer der Billig-Komödiant im Fernsehen sein, ein Philosoph darf das auch.


    Das Buch bleibt, bei aller Kritik an Onfrays Meinungen über Islam und Judentum auf jeden Fall in meinem Regal. Neben Deschner wird er sich sicher nicht unwohl fühlen.


    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus