Englischer Originaltitel: "The Great Stink"
Kurzbeschreibung
Ein stinkendes, Kloaken artiges, brüchiges und marodes Abfluss-System unter dem London des Jahres 1855, das ist der deprimierend und düstere Handlungs- und Tatort eines ungemein fesselnden und mitreißenden Thrillers. In der beklemmenden Welt der Kanalspüler geschieht ein grausiger Mord. In Verdacht gerät der sympathische Vermesser William May.
Ja, keine Frage, das Buch erinnert an Patrick Süskinds Das Parfum, ganz ähnlich hier die Eindringlichkeit, die Plastizität der Geschehnisse, die stark sinnlichen Beschreibungen, das alles geht heftig an Niere und Nase gleichermaßen, ist schauerlich und gruselig, düster und eines noch: wahnsinnig spannend!
William May, Ingenieur und Vermesser, ist aus dem Krim-Krieg zurückgekehrt nach London, der Krieg hat ihm seelisch zugesetzt, immer öfter sucht er aus innerer Verzweiflung und der Sucht zur Selbstverstümmelung die unterirdischen, von Ratten bewohnten Kanäle auf. "...hier unten in der völligen Dunkelheit..., wo er knietief in den Ausscheidungen der größten Stadt auf Erden stand, fand Williams seine Freiheit." May erhält einen guten Job, wird mit verantwortlich für ein Mammut-Projekt der Stadt, es soll ein modernes Abwassersystem entstehen. Eine junge Familie hat er, allmählich lassen auch die Kriegsfolgen nach. Aber dann: Intrigen reißen alte Wunden wieder auf, treiben May an den Rand der Verzweiflung. Erneut flüchtet er,geistig verwirrt in die dunklen Kanäle. Hier geschieht ein bestialischer Mord und alle Spuren weisen auf ihn.
Neben der Geschichte, in die man wie unter Zwang seine Nase schnell und tief hineinsteckt, bietet der Roman auch höchst anschauliche Bilder des desolaten London zu jenen Tagen: immer wieder wütet die Cholera, Armut und Bitterkeit beherrschen den Alltag, "Und über allem lag der üble Fäkaliengestank des Flusses... Er schlüpfte durch alle Hemdfasern und drang durch die Poren der Haut." Ein historischer Roman, der schaurige Visionen und gespenstische Bilder im Kopf gleich mit liefert!
Die Ereignisse seien authentisch und einige der Personen hätten wirklich existiert, schreibt die studierte Historikerin Clare Clark, gebürtige Londonerin. Nicht nur also eine beeindruckende und offenbar leidenschaftliche Recherche in den Annalen der heutigen Weltstadt, sondern auch von Umsetzung, Sprache, Aufbau und einem ausgeprägten Gespür für Spannung und Dramatik her ein ausgefallenes und bemerkenswertes Erstlingswerk!
Über die Autorin
Clare Clark, geboren 1967 in London, studierte Geschichte am Trinity College in Cambridge. Die lebt nach einem mehrjährigen USA-Aufenthalt heute in London. Ihr erster Roman „Der Vermesser“ wurde in England kurz nach dem Erscheinen für den Orange Prize nominiert.
Meine Meinung
Obwohl das Buch auch als Thriller angepriesen wird, packe ich es mal in die historische Ecke, denn einen wirklichen Thriller kann ich in dem Buch nicht entdecken. Wieder mal ein Klappentext, der eine falsche Erwartungshaltung schürt.
Es fällt mir schwer, das Buch zu bewerten. Denn Clare Clark erzählt keine schöne Geschichte, mit der man sich gemütlich aufs Sofa zurückzieht, um darin einzutauchen. Ihre Personen sind an der Seele versehrte Geschöpfe, die zudem noch in der schmutzigen und stinkenden Unterwelt Londons zu tun haben.
William May kommt traumatisiert aus dem Krimkrieg zurück und findet nicht mehr zurück in seine alte Welt. Seine so hoffnungsvoll gegründete Familie erlebt nur vordergründig eine glückliche Zeit. Von Wahnvorstellungen geplagt, zieht sich May auf seinen Vermessungswegen durch die Londoner Kanalisation zurück und findet kurzfristige Erlösung seiner Qual durch seine Messer, mit denen er sich schneidet.
Parallel wird die Geschichte um Tom erzählt, der ebenfalls durch die Kanäle zieht auf der Suche nach dort verlorengegangen Schätzen und nach Ratten, die er an Hundekampfveranstalter verkauft. Er hat seine kleine traurige Nische der Existens gefunden und sich dort eingerichtet. Kein Platz für Hoffung und Träume.
Die Autorin gibt William und Tom Tiefe und Plastizität, ohne sie messerscharf zu charakterisieren. Sie sind Produkte ihrer Umwelt. Tom musste so lange nach den Regeln der Straße leben, das er nicht merkt, das eine menschliche gefühlvolle Seite erwacht, als ihm ein ganz besonderer Hund zuläuft.
William muss sich Arme und Beine zerschneiden, um seiner verwundeten Seele Herr zu werden.
Später im Buch geschieht dann ein Mord, es geht um die Sanierung des maroden Londoner Untergrundsystems, Korruption und dunkle Geschäfte. William gerät unter Verdacht. Das Buch entwickelt sich aber nicht zum Thriller, zudem eigentlich sofort die Umstände des Mordes klar sind.
Das, was aber die größte Rolle spielt in dem Buch, ist der Schmutz. Dreck, Exkrement, Gestank, davon handelt das Buch. William und Tom wandern durch die Kanäle und die Autorin erzählt genau, wodurch sie waten, womit sie sich beschmutzen und wonach es riecht. Und das bemerkenswert plastisch. Es geht um Elend und Unehrlichkeit. Es passiert nicht viel schönes in dem Buch. Williams anfängliche Beziehung zu seiner Frau Polly mag dazu zählen, und Toms Beziehung zu seinem Hund.
Das Buch ist sehr komplex, sehr gut geschrieben und sehr plastisch. Auch der Handlungsort ist originell. Im Nachwort betont die Autorin, das die historischen Ereignisse authentisch sind und einige Personen auch gelebt haben. Trotzdem fällt es mir schwer, das Buch als wirklich gut zu bewerten, einfach weil ich es nicht gerne gelesen habe.
Zu Anfang wollte ich mehr über William erfahren, später dann nervten mich seine Wahnattacken etwas, und ich neigte mich mehr Tom zu, den ich zu Anfang als Charakter gar nicht einordnen konnte. Es interessierte mich schon sehr, was aus den beiden wurde. Muss William als Sündenbock herhalten? Wird Tom seinen Hund wiederbekommen?
Auch wenn mir bewußt ist, das unsere hygienischen Vorstellungen sich nicht decken mit denen unserer Vorfahren, fand ich diese expliziert vorgeführten Schmutzgeschichten doch schwer erträglich. Das ganze Buch ist durchzogen von den Dingen, die in einer Kanalisation zu finden sind. Es gibt kaum eine Seite, auf denen das nicht beschrieben ist. Man sollte also eine gewisse morbide Faszination für Unrat mitbringen, wenn man dieses Buch genießen will.
Fazit: ein auf eigenartige Weise faszinierendes Buch, sehr vielschichtig und gut geschrieben, mit eindringlichen Charakteren, das aber trotzdem nicht leicht zu lesen (und zu ertragen) ist.