Schattenfuchs-Sjon

  • amazon Kurzbeschreibung
    Island im Winter 1883. Abba wird zu Grabe getragen, aber nicht sie, sondern Steine liegen im Sarg. Fridrik beerdigt die Leiche lieber im eigenen Garten, als sie Pastor Baldur zu überlassen. Denn der hütet ein dunkles Geheimnis. In einer poetisch klaren Sprache ertastet Sjón den schmalen Grat von Mensch und Natur und entführt uns in eine mythische Zwischenwelt am Rande des Polarkreises, wo an den existentiellen Abgründen der Mensch zeigt, wer er wirklich ist.


    Über den Autor
    Sjón (Sigurjón B. Sigurdsson), geboren 1962, schreibt Gedichte, Songtexte, Romane und Drehbücher (seine Texte für Lars von Triers Film »Dancer in the Dark« wurden für den Oscar nominiert). Für »Schattenfuchs« erhielt er den Literaturpreis des Nordischen Rates 2005.


    meine Meinung
    Ein überaus seltsames Buch, dessen Botschaft sich mir erst nach längerem Grübeln einigermaßen erschlossen hat.
    Das Buch beginnt und endet mit einer Fuchsjagd, die zunächst die Thematik des Kampfes Mensch gegen Natur, Jäger gegen Tier aufzunehmen scheint, angereichert mit einem Schuss isländischer Mystik.
    Zwischendurch wird die Geschichte von Abba erzählt, eine ziemlich düstere Geschichte, die aber dennoch an einigen Stellen mit dem typisch isländischen, etwas derben Humor gewürzt ist.
    Zum Glück geht es nicht, wie eine Rezension des Klappentextes nahelegt, um die Gewalt der Natur (auch wenn der Jäger diese gewaltig zu spüren bekommt), sondern letztlich um Schuld und Sühne. In Bilder des isländischen Volksglaubens verpackt, durch surrealistische Szenen verfremdet und manchmal richtig witzig, wird so die Verbindung zwischen Abbas Schicksal und dem Jäger hergestellt.


    Das mystische Element erschien mir manchmal beim Lesen etwas dick aufgetragen, es wird aber immer im rechten Augenblick durch surrealistische Einschübe oder ironische Anmerkungen relativiert. Obwohl Sjon nach eigenem Bekunden, von den sechsbändigen isländischen Volkssagen seiner Großmutter geprägt wurde, kann er diese alten Geschichten durchaus mit Abstand betrachten und sie deshalb als Stilmittel für seine Geschichte verwenden, ohne in "Wurzelesoterik" abzurutschen.

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)

  • stimmt, bo, oder gleich Björk (von der meine Mann hoffte, dass Sjon die zur Lesung mitbringen würde. Hat er nicht, und ob es ihm gelungen wäre, sie abzuschleppen, steht noch auf einem ganz anderen Blatt :lache)

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)

  • Schattenfuchs - Sjön


    S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2007
    Gebunden, 126 Seiten,
    Aus dem Isländischen von Betty Wahl


    Meine Meinung:
    Dieses schmale Buch mit 4 Teilen ist wegen seiner unglaublich wuchtig wirkenden Sprache ungewöhnlich. man liest es mit Faszination. Ein Pfarrer im Island Mitte des 19. Jahrhundert begibt sich auf Fuchsjagd. Mitten in Eis und Schnee kommt es zu einem Zweikampf zwischen Mensch und dem fliehenden Tier sowie der Auseinandersetzung mit der Natur. Der Jäger hat mit dem Einsinken in Schnee und mit Lawinen sowie Gletscherspalten zu kämpfen. In Halluzinationen kommt es zum Gespräch zwischen Mensch und Tier sowie zur Verwandlung. In knappen Sätzen gehalten hat es eine starke Wirkung. Dazwischen gesetzt ist eine Passage, die sich um ein Mädchen mit Downsyndrom dreht, das missbraucht wird und dann später doch noch eine Art Heimat findet. In dieser vergangenen Zeit wurden Menschen mit Downsyndrom schon oft kurz nach der Geburt
    erstickt, die überlebten wurden als Schwachsinnige behandelt.


    .Das Buch endet mit einem Brief, das die beiden Handlungsebenen noch einmal aus anderer Sicht wertet. Mitleid mit dem Mädchen und Verachtung für den Pfarrer, der nur aus Geldgier das Risiko des Jagens mitten im Winter einging.


    Fast ist es schwer zu urteilen, ob dieser kurze Roman wirklich gelungen ist, die Absicht des Autors bleibt etwas in der Schwebe, aber viele Passagen sind schon beeindruckend.

  • Für jemand, der nicht dauernd isländische Mythen liest, liest sich das Buch- ungewöhnlich. Ich habe eine Zeitlang gebraucht mich einzulesen und fand es letztlich sehr interessant mich mit diesem Buch auseinanderzusetzen, mit diesem völlig von dem was ich sonst zu lesen gewohnt bin auch etwas zu ringen um ein wirklich beeindruckendes Leseerlebnis abzuschliessen.

  • Stimmt, beo, du warst ja damals auch auf der Lesung und ich hatte mich, da dieses Buch ja nicht unbedingt deinen Lesegewohnheiten entsprechen dürfte, sogar gefragt, wie dir das Buch gefallen würde. Nun weiß ich es ja :wave

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)

  • Ich lese gerne mal über den Tellerrand hinaus- das gibt dann manchmal den sprichwörtlichen Griff ins Klo, oft eine langweilige Quälerei, machmal einen polierten Siberquaich und seltener eine Perle- für mich war dieses Buch vorletzteres.

  • Sjón: Schattenfuchs
    S. Fischer, 2007


    Durch diesen Thread bin ich auf das Buch aufmerksam geworden (danke, Herr Palomar! :-) ). Nicht nur thematisch interessierte es mich sofort, sondern auch weil ich bislang kaum zeitgenössische isländische Literatur kenne. (Der von mir sehr geschätzte Kristof Magnusson schreibt und publiziert meines Wissens von vornherein in deutscher Sprache und zählt daher nicht dazu, denke ich.)



    Inhalt:
    Winter 1883. Pfarrer Baldur Skuggason begibt sich auf die Jagd nach einer seltenen „erdschwarzen“ Füchsin, welche ihn mitten in einen Schneesturm hineinführt. Tags zuvor hat er Hafdís Jónsdóttir, genannt „Abba“, beerdigt, ein Mädchen mit Down-Syndrom – in deren Sarg sich in Wahrheit Kuhdung, morsches Holz und ein Schafsgerippe befanden. Fridrik B. Fridjónsson, Botaniker und Ziehvater von „Abba“, begräbt das Mädchen bei Mondschein eigenhändig an einem „würdigeren“ Platz als dem vom Gletscherwasser regelmäßig über- und abgeschwemmten Kirchhof.
    Bis ganz zuletzt ist weder Baldur Skuggason noch dem Leser eindeutig klar, ob es eine Wiederkehr von seiner gefahrvollen Pirsch geben wird. Zum Schluß hin überlappen und durchdringen phantastisch-surreales und mutmaßlich wirkliches Erleben des Jägers sowie seiner Beute einander, um eine nicht ganz unerwartete, durchaus willkommen-kuriose Wendung zu nehmen.
    Das allerletzte Wort hat wiederum „Pflanzen-Fridrik“ – in Form eines Briefes, in welchem die beiden verschiedenen Handlungsstränge („Abba“/Fuchsjagd) hintergründig zusammengeführt werden und das „dunkle Geheimnis“ des „Skugga-Baldur“, wie auch der Originaltitel des Buches lautet, gelüftet wird.



    Meine Meinung:
    Auf der Innenseite des Umschlags wird Sjón (alias Sigurjón B. Sigurdsson) als „der innovativste und aufregendste Autor Islands“ bezeichnet. Besonders der erste Teil des Werks ist von einer knappen, lakonischen Sprache geprägt; und gelegentlich beginnen Sätze mit „Nun“, deren Tempus abrupt ins Präsens wechselt. Dies beides ist auch typisch für die altnordischen Sagatexte, womit sich Schattenfuchs eher in eine fast tausend Jahre alte Tradition einzureihen scheint, als eine ausgeprägte Innovativität aufzuweisen.


    Sjón ist ein großer Autor – sowohl was die formale Ebene angeht, als auch im Hinblick auf den Inhalt. Beschreibungen einfacher Tätigkeiten und Alltagshandlungen, etwa wenn Fridrik Tee aufgießt oder Pfeife raucht, gelingen ihm ebenso eindrücklich wie Momentaufnahmen von Landschaften oder Wetterphänomenen während Baldurs Jagd, zumal wenn diese auch satztechnisch isoliert stehen. (Die Abschnitte im ersten Teil sind überwiegend sehr kurz, manchmal befindet sich auf einer ganzen Seite nur ein Satz, etwa: „Die Nacht war kalt und nahm kein Ende.“ [S. 18])
    Neben – stellenweise – schlicht atemberaubend zu nennenden Metaphern (z. B. diejenige, mit der das Nordlicht umschrieben wird) schafft Sjón es zudem, durch unerwartete Verknüpfungen oder Folgerungen Überraschung zu schaffen und das, was Literatur im Grunde ausmacht: daß sich im Geiste des Lesers unvermittelt Horizonte öffnen. So beispielsweise mit fast schon unverschämter Lakonie, als der Fuchsjäger verwundet daliegt, Aaskrähen auf ihn einhacken, er sie mit Rufen verscheucht und sie davonfliegen: „Plötzlich waren sie schön.“ (S. 93)


    Rein formal ist dem Autor anzumerken, daß ihm auch andere literarische Gattungen nicht fremd sind. Als Leser fühlt man sich unwillkürlich an den Refrain eines Liedes erinnert, wenn der komplette erste Abschnitt kurz vor Ende des ersten Teils, wörtlich übereinstimmend, wiederholt wird (S. 7 und 36).
    Stilistisch fällt außerdem manchmal eine sehr plötzliche, trocken-kühle Ironie auf, die mir persönlich nicht immer ganz passend schien; so etwa, wenn Fridrik, der gerade eine Art Sarg zusammensetzt, mitten im Erzähltext als „unser Rätselmeister“ bezeichnet wird (S. 67). Trotzdem ist die Lektüre durchweg ein Genuß!


    So leicht sich das Bändchen gewissermaßen „wegliest“ (ich habe ca. eine Stunde dafür gebraucht), desto schwerer wiegt sein Inhalt – auch wenn ich persönlich seine Wirkung nicht als „wuchtig“ bezeichnen würde (wie ein Kritiker in der SZ), sondern eher als äußerst eindringlich. Nicht zuletzt die immer wieder überraschenden literarischen Bilder sowie die meisterlich beherrschte Kunst schriftstellerischen Handwerks, welche Sjón beweist, lassen den Leser oftmals mitten in, aber auch nach der Lektüre nachdenklich, zufrieden, staunend und zutiefst berührt zurück.



    Fazit:
    Eine Jagd, ein Tod und das rauhe Island des 19. Jahrhunderts: Sjón erzählt in knapper Saga-Tradition eine kleine Geschichte, die sich im Kopf des Lesers zu und mit großer, ja grandioser Wirkung entfaltet. „Meisterwerk“ wäre kaum zuviel gesagt!



    Gesamtwertung: 5 von 5 Sternen bzw. 9 von 10 Punkten! :fingerhoch