Uwe Johnson: Jahrestage

  • Johnson hat für den Roman 15 Jahre gebraucht, wobei eine zehnjährige Schreibblockade mit einberechnet ist. Auch das Lesen des Buchs ist ein Ausdauerleistung. Ich möchte an dieser Stelle die ermutigen, die zwar bereit sind, Zeit zu investieren, aber noch zweifeln, ob sich die Mühe lohnt. Sie lohnt sich!


    Johnson verfugt übergangslos zwei Zeitebenen ineinander: Das New York von 1968 und das Mecklenburg-Vorpommern der Dreißiger- und Vierzigerjahre. Die Übergänge sind nahtlos, sie erfolgen abrupt von einem Absatz zum nächsten. Nur aus dem Kontext ist zu erkennen, auf welcher Zeitebene man sich gerade befindet. Da dieses Prinzip aber konsequent und sauber durchgehalten wird, ist die zeitliche Orientierung das geringste Lesehemmnis.


    Ein größere Barriere stellt die Detailfülle dar, und die damit einhergehende Handlungsarmut, besonders auf der New Yorker Zeitebene, wo es nichts weiteres zu berichten gibt, als den Alltag der Angestellten Gesine Cresspahl und ihrer zehnjährigen Tochter.


    Dies ist kein Spannungsroman, sondern eine Gesellschaftsstudie. Erst wenn man mit dieser Erwartungshaltung an das Buch herantritt, wird man ihm gerecht. Wir lesen hier eine literarisches Modell aller wichtigen Staatsformen des zwanzigstens Jahrhunderts: Faschismus, Kommunismus und Kapitalismus. Dieser gesellschaftpolitische Hintergrund nimmt einen weitaus breiteren Raum ein, als die Geschichte selbst. Die Geschichte, das sind Kindheit und Jugend der Gesine Cresspahl im mecklenburgischen Kleinstädtchen Jerichow. Das ist darüber hinaus die Cresspahlsche Familiengeschichte und viele weitere Einzelschicksale.


    Ein Unzahl von Biographien wird geschildert. Ihr Verlauf wird vor, während und nach dem zweiten Weltkrieg, bis in die Erzählergegenwart der 68-er hinein ausgebreitet. Johnson schafft das, was große Epen ausmacht: Er spannt den Bogen über eine ganze Epoche, entwirft das Gesamtbild einer und legt einen geschlossenen erzählerischen Rahmen um die Einzelschicksale aller seiner Figuren. In dieser Hinsicht ist dieser Roman gelungen. Er bricht nicht auseinander, scheitert nicht an seinem großen Umfang, enthält keine Stilbrüche, keine (jedenfalls keine mir erkenntlichen) Inkonsequenzen oder Schwankungen.


    Das erzählerische Konzept ist komplex, aber exakt definiert und wird konsequent durchgehalten: 365 Einträge, einer für jeden Tag vom 19. August 1967 bis zum 20. August 1968. Der Autor grenzt sein Format explizit ab gegen die Tagebuchform. Die einzelnen Abschnitte sind ihrem Wesen nach nicht Tagebucheinträge, sondern gehen darüber hinaus. Zwar beziehen sie sich auf den Kalendertag und zitieren oft aus der Tagespresse, enthalten aber auch stets Rückblicke in die Vergangenheit. Es sind "Einträge für den täglichen Tag", oder eben "Jahrestage".


    Die Erzählperspektive ist nicht einfach diejenige Gesine Cresspahls, sondern es spricht die Erinnerungsstimme Gesines durch die Feder eines mit ihr befreundeten Autors, der nicht näher benannt und beschrieben wird. Gesine hat mit diesem Schriftsteller, der wohl Johnson heißen könnte, ein Abkommen getroffen: Er soll ihr Leben innerhalb eines Jahres in dieser Form zu Papier bringen.


    Die Rückblicke in Gesines Kindheit erhalten ihren Rahmen dadurch, dass Gesine im Verlaufe des Jahres ihre gesamte Kindheit der Tochter Marie berichtet. Der Autor Johnson zeichnet diese Berichte auf. Wir haben also eine Dreieckssituation: Gesines Tochter ist die Zuhörerin. Gesine selbst ist die Sprecherin. Der Autor agiert als Protokollant im Auftrag und nach der Vorstellung Gesine Cresspahl. Er ist lediglich das ausführende Organ für die sprachliche Manifestation des Ganzen.


    Warum kompliziert Johnson die Erzählperspektive, indem er einen auktorialen Erzähler hinzufügt? Warum beschränkt er sich nicht völlig auf die Perspektive Gesines, wo doch einzig ihr Erinnerungsmaterial und ihre Gegenwart Gegenstand sind? Der Text wirkt dadurch objektiver, glaubwürdiger! Johnson hat den Anspruch, eine Gesamtschau mehrerer Gesellschaftsformen abzuliefern. Das erfordert erzählerische Authorität. Diese Authorität würde leiden, spräche lediglich die kleine Angestelle Gesine Cresspahl über weltpolitische Ereignisse. Kurz: Der Erzähler im Hintergrund bewirkt eine Distanzierung von und eine Objektivierung der Protagonistin.


    Genauso übergangslos wie zwischen den Zeitebenen wechselt der Text von der Ich-Form in die dritte Person, je nachdem ob das Subjekt Gesine Cresspahl oder der imaginäre Schriftsteller das Wort führt.


    Damit wird das über mehrere Zeitebenen reichende gesellschaftliches Panorama erlebbar und fühlbar, ohne zur trockenen Sozialstudie zu verkommen. Gesine Cresspahls Erinnerung ist das emotionale Fluidum, welches dem Text das Leben einhaucht. Ohne sie hätten wir es mit einem trockenen Konvolut aus Einzelepisoden zu tun, dem der dichterischen Fluß fehlen würde.


    Es gibt noch weitere solcher verbindender Elemente. Zu Beispiel ist Gesine Cresspahl akribische Leserin der Tageszeitung "New York Times.". Dort findet sie die tagesaktuellen Nachrichten, die ihr Anlass geben, über ihre Gegenwart zu reflektieren. Von dort schlägt sie den Bogen zu ihrer Vergangenheit, und weil wir durch die raffinierte Erzählweise an ihrer Erinnerung teilnehmen, nimmt sie den Leser mit auf eine Zeitreise und schlägt ihn in ihren Bann.


    Johnsons Recherchen müssen akribisch gewesen sein. Das spiegelt sich in der Detailgenauigkeit wieder, mit der die gesellschaftlichen Verhältnisse in Gesines Heimatort Jerichow geschildert werden, und zar bis hinein in die lokalpolitischen Hahnenkämpfe. Wenn man sich darauf einlässt und die nötige Geduld und Ausdauer mitbringt, dann wird das Lesen irgendwann (nach ein paar hundert Seiten) zu einem berauschenden Erlebnis. Wer durchhält, dem wird klar: Hier hat einer Wirklichkeit in Sprache gefasst. Das Ganze ist so vielfältig, dass es in ein paar feuilletonistischen Absätzen nicht vollständig erfasst werden kann.



    Siehe auch
    Uwe Johnsons Jahrestage


    und
    Mitleser gesucht: Uwe Johnson: Jahrestage, vorschlagsweise ab Februar?

  • Vielen Dank für diese ausführliche und sehr gute Rezension. Ich habe das Buch vor Jahren gelesen. Anhand deiner Buchbesprechung kam die Erinnerung an den Text wieder hoch und ich finde wirklich, besser kann man dieses umfangreiche Werk wohl kaum umreißen und auf den Punkt bringen!


    Beste Grüße
    Corinna

  • Ich habe mich in den letzten Wochen durch eine sehr späte TV-Ausstrahlung des Vierteilers gequält. Gequält wegen der späten Stunde, die Geschichte und die Schauspieler gefielen mir. Aber mir fehlt ein Stück am Anfang des 4. Teils. So weiß ich nicht, was mit Gesines Vater und der Mutter ihres Jakob geschah.
    Kann jemand aushelfen? Danke. (Lesen möchte ich das Buch derzeit nicht)
    :wave

    “Lieblose Kritik ist ein Schwert, das scheinbar den anderen, in Wirklichkeit aber den eigenen Herrn verstümmelt.”Christian Morgenstern (1871 – 1914)

  • "Kann leider nicht helfen, aber vielleicht ist jetzt nach dem heißen Wochenende eine kluge Büro-Eule da"

    Mögen wir uns auf der Lichtung am Ende des Pfades wiedersehen, wenn alle Welten enden. (Der Turm, S. King)


    Wir fächern die Zeit auf, so gut wir können, aber letztlich nimmt die Welt sie wieder ganz zurück. (Wolfsmond, S. King)


    Roland Deschain