Mein Bruder, mein Bruder - Raya Harnik (ab 12 J.)

  • OT: Achi, Achi 1994


    An diesem Buch ist einiges ungewöhnlich. Das Thema, der Tod eines Geschwisterkinds, der Erzähler, der Jüngste der Familie und der Ort der Handlung. Die Geschichte spielt nämlich in Israel.


    Alles beginnt mit dem Unglück. Der ca. 12jährige Ronen wird von der Schule nach Hause geschickt, weil die Nachricht kam, daß sein ältester Bruder Giora bei einem Militäreinsatz an der Grenze zum Libanon gefallen ist. Ronen kann es nicht fassen, Giora war sein Lieblingsbruder. Die ganze Familie steht unter Schock, die Eltern, Hila, die zwölf Jahre ältere Schwester, die in Tel Aviv studiert, Eitan, der ältere Bruder, der knapp vor der Einberufung zum Militär steht.
    Im Lauf der Monate verfällt die Mutter zunehmend in Passivität, emotionalen Kontakt hält sie nur zu Hila, Eitan steigert sich in den Wunsch, schleunigst zur Armee zu gehen, um sozusagen dort zu siegen, wo Giora starb, der Vater hat nur noch seinen Streit mit dem Verteidigungsministerium im Sinn, denn er gibt die Schuld am Tod seines Ältesten dem verantwortlichen Offizier. Ronen ist allein.
    In dieser Situation durchläuft er alle Stadien zwischen Unverständnis, Wut, Selbstmitleid, Trotz, Angst und vor allem Trauer. In seiner Suche nach Orientierung in dieser allumfassenden Krise durchmißt er Welten. Er beobachtet die Eltern, die Geschwister, die Welt der Erwachsenen. Auseinandersetzen muß er sich auch mit der Frage nach Gott. Es gibt nämlich einen zweiten gefallenen Soldaten und dessen Familie lebt in einem der wenigen religiösen Kibbuzim. Ihr Glaube scheint dieser Familie Stärken zu geben, die Ronen bei seinen Eltern vermißt. Als er im Kibbuz auch noch Chamutal kennenlernt, die gleichaltrige Schwester des Gefallenen, ist eine erste Liebe unvermeidlich. Unvermeidlich sind auch die Probleme, die sich daraus ergeben, streng religiöse und weniger streng religiöse Juden leben in recht unterschiedlichen Welten.


    Die Geschichte ist wunderbar erzählt, sie ist voller überraschender Einsichten und Wendungen. Der Autorin gelingt es, eine recht fremde Welt, wie es die Gesellschaft in Israel tatsächlich für uns ist, anschaulich zu beschreiben, sie mit ihren eigenen Brüchen und Schwierigkeiten sichtbar zu machen. Dabei wird auch ganz verhalten Kritik geäußert, am Militärstaat ebenso wie an Menschen, die glauben, wenn man ein gutes Bürgerleben führt, geschieht einem nichts Böses oder Menschen, die glauben, wenn man ein Leben strikt nach Gottes Geboten führt, schütze einen das vor den Anforderungen der Welt.
    Der Blick auf die Menschen ist immer der Blick eines etwa 12jährigen Jungen, der die Widersprüchlichkeiten des Lebens erkennen muß und lernen, sie zu akzeptieren. Trauer durchleiden zu lernen, ist ein Kernthema des Buchs, der Umgang mit Trauer im Privaten wie im Öffentlichen, mit den im Krieg Gefallenen wie mit den Toten der Shoa, mit dem persönlichen Leid wie mit von Staatswegen verordnetem Abfeiern.


    Die Sprache ist schlicht, die Ausdrucksweise sehr sorgfältig, hin und wieder unvermutet innig und poetisch. Ronens Beschreibung eines Wintertags in Jerusalem muß man unter die wirklich schönen Beschreibungen von Winter nicht nur in Jugendbüchern zählen.
    Die Handlung spielt im Verlauf eines Jahres, von Jom Kippur (September/Oktober) des einen bis Jom Kippur des folgenden Jahres. Am Ende ist alles anders geworden für Ronen.


    In einem vierseitigen Anhang werden die Begriffe aus der jüdischen Religion erklärt, der Artikel ‚Militär’ ist bei weitem unkritischer als die Autorin. Aber er stammt ja auch aus der deutschen Redaktion. Trotzdem kann ich das Buch nur empfehlen.


    Die Autorin Raya Harnik wurde 1933 in Berlin geboren und lebt seit 1938 in Palästina. Sie ist Soziologin und Pädagogin und arbeitete für den israelischen Rundfunk. Sie veröffentlichte u.a. drei Bände mit Lyrik und sechs Kinderbücher. Für Mein Bruder, mein Bruder erhielt sie den sehr angesehenen Jugendbuchpreis Ze’ev.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Aufgrund dieser sehr informativen Rezi wird wohl kein Weg am Kauf des Buches vorbeiführen. Wie kommst du eigentlich auf diesen wirklich guten Jugendbücher?

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • So wie Du auf Deinen tollen Romane kommst.
    Kopfüber hinein und lesen.


    :lache


    Die Jokers-Restbestände sind zu Zeiten übrigens eine wahre Goldgrube.



    Und falls jetzt noch einer wissen will, wie ich auf Jugendbüchwer kam:


    Das geschah vor ca. zehn Jahren, als ich am Bücherangebot vor allem deutscher AutorInnen und Autoren verzweifelt bin. Entweder es war vertrackt-intellektuell oder Unterhaltungs-Einheitsbrei.


    Und nun hänge ich am Haken. :cry

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Zitat

    Original von magali
    Die Jokers-Restbestände sind zu Zeiten übrigens eine wahre Goldgrube.


    Ich ahne, daß wir in der nächsten Zeit ein paar Rezis zu denselben Titeln schreiben werden. :lache

    Lieben Gruß,


    Batcat


    Ein Buch ist wie ein Garten, den man in der Tasche trägt (aus Arabien)