Das Erdbeerfeld - Renate Dorrestein

  • Originaltitel: Het duister dat ons scheidt (2003)
    Verlag: btb
    Seiten: 318
    Übersetzt von: Hanni Ehlers


    Die Autorin
    Renate Dorrestein, geboren 1954 in Amsterdam, wuchs in einer römisch-katholischen Familie auf. Ihre Jugend sei recht glücklich gewesen, sagt sie - das habe jedoch weniger an einer besonders harmonischen Familienatmosphäre als vielmehr an ihrer eigenen Fantasie gelegen, mit der sie ihrem Leben Farbe verlieh. Schon früh stand ihr Traum fest: Schriftstellerin werden. Heute ist die ehemalige Journalistin eine der holländischen Starautorinnen. Für ihre Romane, die u.a. sehr erfolgreich in Amerika, Großbritannien, Italien, Spanien, Finnland, Schweden und Frankreich erscheinen, wurde sie mehrfach ausgezeichnet.


    Inhalt
    Als Loes’ Mutter wegen Mordes zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt wird, ist die wilde, süße Kindheit der Sechsjährigen vorbei. Von allen geschnitten, von Scham und Schuldgefühlen geplagt, findet sie wider Willen das furchtbare Geheimnis der Mutter heraus. Aber ist ihre Mutter tatsächlich auch eine Mörderin? Jahre später, Loes ist inzwischen eine junge Frau, holt die Vergangenheit sie noch einmal ein, und sie bekommt die Chance auf ein befreites, glückliches Leben.


    Meine Meinung
    Vorab: Ich habe dieses Buch trotz der Bezeichung "psychologischer Thriller" nicht unter Krimi/Thriller abgelegt. Der Mord spielt eine äußerst nebensächliche Rolle, es wird auch keiner von einem Mörder gejagd und der Kreis der Verdächtigen ist, wenn nicht zu Beginn schon klar, doch sehr eindeutig.


    Sehr viel mehr ist dieser Romane eine bedrückende und packende Geschichte um ein Mädchen, deren Leben aus der unglücklichen Verkettung diverser Situationen heraus zur Hölle wird. Das Schlimme daran ist, dass dieses Mädchen zu keiner Zeit eine Ahnung hat, was um sie herum passiert und warum sich die Dinge gegen sie wenden. Gleichzeitig portraitiert dieser Roman eine spießbürgerliche kleine Dorfgemeinschaft, deren darin lebenden Menschen sich bis zum tragischen Mord an einem Bewohner und Vater vollständig ändert. Situationen verschärfen sich leise köchelnd, Angst und Unsicherheit machen sich breit um letztendlich in blanken Haß auszuarten. Ein ganz klein wenig erinnert das Beschriebene stets an Rhues Roman "Die Welle".


    Eine bittere Stimme der Ironie, gänzlich frei von Pathos und aufgrund dessen sehr authentisch, zeichnet vor allem das erste Drittel, den Teil um die Menschen dieser holländischen Wohnsiedlung, aus. Sehr eindrucksvoll ist erst die naiv-kindliche Darstellung sämtlicher Familiensituationen mit dem fahlen Beigeschmack einer sich anbahnenden Tragödie geschildert; später dann auch die ebenso naiv-kindlichen Beschreibungen der Demütigungen an Loes, als ihre Mutter wegen Mordes in Haft kommt. Fast beiläufig und so unschuldig werden die Erniedrigungen, manchmal schon Folterungen, die sie über sich ergehen lassen muss und stur erträgt, erwähnt. Immer aus Sicht der Kinder, die ihr dieses antun (in der Wir-Form).


    Ab dem zweiten Drittel wechselt die Autorin die Erzählperspektive und lässt Loes alleine sprechen - mittlerweile 12 Jahre alt.
    Loes' Mutter wird frühzeitig entlassen und die Situation im Dorf eskaliert vollends. Sie entschließen sich wegzuziehen und alles hinter sich zu lassen. Wie Loes dies erlebt, wie sie im weiteren Verlauf mit der dominierenden Distanz zu ihrer Mutter umgeht und wie sie lernt, sich wieder mit gleichaltrigen Kindern zu umgeben und immer wieder daran scheitert, ist Bestandteil dieses Teils.


    Das letzte Drittel, Loes ist mittlerweile 18 Jahre alt, schließt sich lückenlos und glaubwürdig an die vorherigen Erzählstrange an. Loes' wagt sich an die verschwiegene Vergangenheit und gewinnt damit wiederum eine Lebensqualität und vor allem Freiheit, die sie eigentlich schon verloren glaubte. Ein letzter Versuch sich dem Leben zu stellen. Wie sie es meistert, bleibt offen.


    Mit Spannung, im Sinne von nägelzerkauend oder nervenzerreibend, hat diese Geschichte nicht viel zu tun. Viele Abschnitte sind viel zu wertvoll als das sie im Schnellflug gelesen werden wollen. Die Ironie der Sätze will vor allem zu Beginn langsam aufgenommen werden. Im zweiten Drittel sogar stellt sich eine Ruhe ein, die eventuell als Langatmigkeit bezeichnet werden könnte, oder auch als intensive Entwicklung einer Atmosphäre. Je nachdem... Unabhängig davon aber, folgen immerzu geheimnisvolle Anmerkungen und Gedanken, die die Geschichte vorantreiben und auf einen spannenden Abschluss hinweisen, der dann auch eintritt.


    Fazit: Ein beeindruckender und bedrückender und teilweise sarkastischer Roman über völlig verquere Vorstellungen, unverdaute Gefühle, gebrochenes kindliches Vertrauen, seelische Erniedrigungen und die sich daraus ergebenden Kettenreaktionen. Sehr leise, zu keiner Zeit blutig brutal, aber umso stärker in seiner nachhaltigen Wirkung.


    Edit: Ein letzter Satz noch :grin
    Ich wünsche dem Roman viele Leser/innen, da die Autorin auf eine außergewöhnliche Art und Weise thematisch sensibilisiert und wachrüttelt und dabei einen originellen Stil verwendet.

  • Danke, deine Rezi kommt mir gerade recht. Ich habe das Buch gestern bei ebay ersteigert weil mir der Titel so gut gefallen hat. :-]
    Hört sich schon mal gut an und wird sicher nicht lange auf meinem SUB liegen.

    LG, Uhu :katze


    Bücher bergen mehr Schätze als jede Piratenbeute auf einer Schatzinsel... und das Beste daran ist, daß man diese Reichtümer an jedem Tag im Leben aufs neue genießen kann. (Disney, Walt)

  • Sue Towns Rezi kann man eigentlich gar nicht mehr allzuviel hinzufügen - sie hat schon alle wesentlichen Details ganz wunderbar eingefangen. Ein aufwühlendes Buch ist es, das die Autorin da geschrieben hat.


    Das Buch beginnt wie eine nette kleine Geschichte, die sich in jedem x-beliebigen kleinen Vorort zutragen könnte. Doch von Seite zu Seite läßt die Beschaulichkeit nach und die Abgründe treten zutage.


    Loes' kann einem eigentlich leid tun, denn sie ist das eigentliche Opfer. Um sie herum passieren schlimme Dinge, die sie mit ihren 6 Jahren noch nicht so recht erfassen kann - was wirklich passiert, bekommt sie erst viel später heraus - doch sie muß mit den schlimmen Folgen leben. Eigentlich ist sie das wahre Opfer des Buches.


    Eine leise Geschichte wird hier erzählt, dennoch eine sehr erschütternde. Über lange Strecken erfährt man selbst auch keine Details, doch kann man hier und da ein Puzzleteil aufschnappen und setzt sich so nach und nach zusammen, was wirklich passierte.


    Erschreckend!


    Das Buch ist, wie SueTown schon erwähnte, eigentlich kein Thriller. Dazu ist das Buch letztendlich trotz allem zu unblutig und es wird auch nicht allzu lange nach einem Täter gefahndet. Eine Gänsehaut hatte ich dennoch oft beim Lesen - wenn auch aus anderen Gründen.


    Ich kann nicht sagen, daß ich mich bei der Lektüre "gut unterhalten" hätte - dazu ist es doch zu gemein. Aber lesenswert finde ich es auf jeden Fall. Es wird bestimmt auch nicht das letzte Buch dieser Autorin sein, das ich gelesen habe.

    Lieben Gruß,


    Batcat


    Ein Buch ist wie ein Garten, den man in der Tasche trägt (aus Arabien)

  • Ich habe das Buch gekauft, weil ich den Titel einfach schön finde.


    Irgendwie hatte ich zunächst mehr Krimi erwartet und mußte mich erstmal auf etwas anderes einlassen.


    Mich hat es berührt zu lesen, wie wenig Einfluss Loes auf den negativen Verlauf ihres eigenen Lebens hat, obwohl alles sehr positiv beginnt. Beklemmend vorstellbar.