Schreibwettbewerb Juni 2007 - Thema: "Sucht"

  • Thema Juni 2007:


    "Sucht"


    Vom 01. bis 20. Juni 2007 könnt Ihr uns Eure Beiträge für den Schreibwettbewerb Juni 2007 zu o.g. Thema per Email an webmistress@buechereule.de zukommen lassen. Euer Beitrag wird von uns dann anonym eingestellt.


    Den Ablauf und die Regeln könnt Ihr hier noch einmal nachlesen.


    Bitte achtet darauf, nicht mehr als 500 Wörter zu verwenden. Jeder Beitrag mit mehr als 500 Wörtern wird nicht zum Wettbewerb zugelassen!


    Nur für registrierte Mitglieder mit mindestens 50 Beiträgen!


    Eine Bitte: Schickt uns Eure Beiträge als .doc oder .rtf und sendet sie uns als Anhang in einer Mail. Damit kommen dann auch Zeilenumbrüche, etc. richtig bei uns an. In Word könnt ihr dann auch die Rechtschreibhilfe nutzen und unter „Extras“ habt ihr die Möglichkeit „Wörter zählen“.


    Wir wünschen Euch viel Spaß und viel Erfolg!

  • von Tom



    „Mein Name ist LeseSpaß und ich bin eulensüchtig.“
    Die anderen applaudieren höflich, LeseSpaß nimmt gequält lächelnd Platz und schaut aufmerksam in die Runde. Wolke nickt ihm aufmunternd zu und wendet sich an GastRedner.
    „Beim letzten Treffen haben wir über Dein Problem gesprochen, aber ich habe das Gefühl, daß Du noch etwas loswerden wolltest.“
    GastRedner legt die Heavy-Metal-Zeitschrift beiseite, zwinkert kurz Doc Hollywood zu, der ein Motorrad-Magazin liest, und erhebt sich dann von seinem Klappstuhl.
    „Mir ist das alles zu kindisch“, erklärt er und setzt sich wieder.
    Magali springt auf, aber bevor sie etwas sagen kann, ruft Tjorvensmum: „Kinder sind die Zukunft!“
    Waldlaeufer zieht melodramatisch die Augenbrauen hoch und blättert anschließend hektisch in einem Reclam-Heftchen.
    Magali läßt sich nicht beeindrucken: „Manchmal sind die Eulen wie ein Stummfilm mit Untertiteln.“ Sie lächelt etwas irr und setzt sich wieder.
    Doc Hollywood schlägt die Beine übereinander und murmelt: „Möge Euch der Saft niemals ausgehen. Doc, Entsafter.“
    „Darf ich auch etwas sagen?“ fragt Ikarus.
    Die Gruppe stöhnt.
    „Natürlich“, sagt Wolke und wirft einen warnenden Blick in die Runde.
    „Ich bin letztens Zeuge eines Gesprächs geworden, ganz unfreiwillig, und hätte gerne Eure Meinung dazu.“
    Churchill bekreuzt sich stumm, Bernard spricht ein stilles Gebet.
    „Möchte jemand eine Caipirinha?“ fragt Batcat. Im gleichen Augenblick öffnet sich die Tür und ein Sechzehnjähriger stolpert herein.
    „Bin ich hier richtig? Ich habe da ein ganz tolles Buch entdeckt, das im BoD-Verlag erschienen ...“
    Bevor der Neuling den Satz beenden kann, hat Tom ihn mit einem Handkantenschlag an die Kehle niedergestreckt. Doc und Beowulf applaudieren kurz verhalten, Ikarus kämpft offensichtlich gegen Tränen an, und Waldlaeufer hat endlich gefunden, wonach sie gesucht hat. In das Geklapper von Oemchenlis Stricknadeln deklamiert sie: „Actio recta non erit, nisi recta fuerit voluntas.“
    Voltaire blickt kurz auf, deutet ein Kopfschütteln an und versucht dann, den Neuankömmling wiederzubeleben. Er unterbricht das Schweigen der Runde, in dem er ad hoc das ihm unbekannte BoD-Buch des Neuankömmlings rezensiert. Seine Wiederbelebungsversuche allerdings bleiben vorläufig erfolglos.
    „Ich wollte eigentlich schweigen“, sagt Licht und sucht Blickkontakt mit jedem Anwesenden. „Und ich bin mehr denn je der Meinung, daß Schweigen jetzt geboten wäre.“ Er verschränkt die Arme und schließt die Augen.
    Tanzmaus schiebt die gewaltigen Buchstapel auseinander, die vor ihrem Stuhl aufgebaut sind, und fragt: „Sind wir schon fertig?“
    Babyjane kommt hereingestürmt. „Tschuldigung, aber ich mußte noch einen Mann verhaften, der draußen einen Striptease aufgeführt hat.“ Sie lächelt. „War übrigens ganz knackig. Batty, ist die Caipi fertig?“
    Batcat grinst und reicht BJ ein Glas.
    GastRedner protestiert: „Ich dachte, das wäre virtuell.“
    Lilli nickt zustimmend und stickt dann weiter an ihrer Robbie-Williams-Fandecke.
    Der Neuling hustet plötzlich und erhebt sich dann.
    „Ich würde Euch gerne ...“ Er ist kurzatmig und faßt sich an den Hals, wobei ihn Doc interessiert beobachtet. „Buchpartys. Das ist eine tolle Sache.“
    „Schade“, sagt Wolke, wobei sie auf die Uhr schaut. „Die Zeit ist vorbei. Wir treffen uns nächste Woche wieder. “
    Bis auf den Sechzehnjährigen sagen alle zu.

  • von Seestern



    „Die Musik bei einem Hochzeitszug erinnert mich immer an die Musik von Soldaten, die in den Krieg ziehen“, sage ich.
    „Keine Ahnung, wie Du auf solche Gedanken kommst, ich finde das jedenfalls schön“.
    Er beobachtet die Hochzeitsgesellschaft. Das Strahlen, das Herzen, die Unbeschwertheit.
    „Bedauerlicherweise stammt dieser Gedanke nicht von mir, sondern von Heine“.
    „Heine hätte so was bestimmt nicht gesagt.“
    Ich streife mit der Handfläche über seinen Nasenrücken.
    Er meint Wolfgang Heine, unseren ehemaligen Physiklehrer.
    „Was hältst Du davon, wir beide, irgendwann…?“
    Er bedenkt mich mit einem scheuen Seitenblick.
    „Lass uns später darüber reden, ich muss los“.
    Ich drücke ihm einen Kuss auf die Stirn, nehme seine Enttäuschung und seinen Schmerz wahr. Auch als bereits eine gewisse Distanz zwischen uns liegt, spüre ich seine Blicke wie winzige Nadelstiche im Rücken.
    Wenig später öffne ich die Wohnungstür und schließe Max in die Arme.
    „Eine kleine Überraschung für meine Muse“.
    Er reicht mir einen Umschlag.
    Ich setze mich in den Sessel am Fenster, öffne das Kuvert und lese Max’ Zeilen.
    Mein Lächeln spiegelt sich auf seinem Gesicht.

  • von Blaze



    Claire nahm einen Stapel Handtücher vom Wagen und wandte sich der nächsten Zimmertür zu. Sie arbeitete seit sie denken konnte in dem Hotel ihrer Eltern und wollte es später einmal übernehmen. Allein schon die Umgebung in der sich das Hotel befand war umwerfend und die Vorstellung, jemals aufzuwachen, ohne die Berge zu sehen wenn sie aus dem Fenster sah war unvorstellbar. Gestern war ein wahrer Ansturm neuer Gäste gekommen, darunter auch die reichen Stanfords. Der Mann besaß eine große Anwaltskanzlei in Amerika, hatte ihre Mutter ihr vor der Ankunft von ihm und seiner Frau erzählt. Ihr Herz klopfte bis zum Hals als sie die Hand hob und an die Zimmertür der Stanfords klopfen wollte. Ihre Mutter hatte ihr eingebläut sich korrekt zu verhalten und ja keinen Fehler zu machen.
    Doch jetzt hielt sie mitten in der Bewegung inne. Von der anderen Seite der Tür hörte sie eine laute Stimme. Ein Mann schrie und darin vernahm sie das schluchzen einer Frau. „Halt den Mund du undankbares Stück!“, schrie Mr. Stanford. „Oder ich bringe dir Manieren bei!“ Claire war wie gebannt und lauschte dem Streit, obwohl ihr Gewissen ihr riet, lieber ihren Vater zu holen.
    „Ich verlange ja nun wahrlich nicht viel von dir“, tobte Mr. Stanford. „Ich rackre mich ab für die Millionen die wir auf dem Konto haben und der Dank ist, dass ich zu Hause eine fette Kuh sitzen habe! Jedes Mal wenn ich dich sehe, stopfst du irgendwas in dich rein!“ Es schepperte erneut und dann stieß Mrs. Stanford einen kurzen Schrei aus. Ein Schmerzensschrei, da war sich Claire sicher. Das ging eindeutig zu weit. Sie klopfte heftig an die Tür, in der Hoffnung, er würde seine Frau in Ruhe lassen. Anscheinend half es, denn die Tür wurde aufgerissen und Mr. Stanford schaute sie aus wütenden Augen an.
    „Was?!“, blaffte er sie an.
    „Ich ... ich ...“, stotterte Claire.
    „Ach ist ja auch egal“, sagte er. „Ich muss sowieso noch mal weg.“ Und damit schnappte er sich sein Jackett vom Stuhl und stieß Claire zur Seite, als er an ihr vorbei lief. Ihr Blick fiel nun auf Mrs. Stanford, die zusammengesunken in einem Sessel saß und in ein Taschentuch weinte. Vor ihr auf dem Tisch lag eine leere Schachtel Pralinen. Zögernd trat Claire auf die Frau zu und kniete sich vor sie.
    „Ist mit Ihnen alles in Ordnung?“, fragte sie.
    Mrs. Stanford nickte, doch ihre Tränen schienen nicht versiegen zu wollen. „Mir ... mir geht es gut“, sagte sie und putzte sich die Nase. „Wissen Sie, er ... er ist eigentlich ein lieber Mensch. Es ist ... meine Schuld, wenn er wütend ist.“ Claire sah erst jetzt den roten Abdruck an der Wange von Mrs. Stanford, die der Hand ihres Mannes glich. „Ich esse einfach zuviel. Er mag keine dicken Frauen. Es ist meine Schuld, ich liebe ihn so sehr und bin so undankbar.“
    Claire fehlten die Worte. Diese Frau von mindestens einem Meter siebzig konnte nicht einmal 55 Kilo wiegen.

  • von Doc Hollywood



    Meistens schneide ich nur kleine Stückchen ab. Nicht zu viel, nicht zu wenig. Wenn es doch mal zu viel wird, dann nehme ich die Frischhaltebeutel mit dem Zipverschluss. Eigentlich wollte ich mir schon längst ein Vakuumfolienschweißgerät zulegen, ist bloß kein Platz mehr in der Küche. Es ist eine kleine Küche. Die Kühl-Gefrier-Kombination nimmt viel weg. Die Türen sehen aus wie polierter Edelstahl; kann aber keiner sein, sonst würden die Magnettiere nicht daran haften. Eine Schildkröte hält die Arzttermine fest, ein Krokodil das Rezept. Die Medikamente hätte ich längst von der Apotheke holen sollen. Vielleicht werde ich mir eine Notiz machen und unter die Giraffe daneben klemmen. Sollte ich wirklich tun, aber im Moment geht es mir gut. Die Stücke dürfen nur nicht zu groß sein.


    Mir fehlt die Erinnerung daran, wie es angefangen hat, warum es überhaupt angefangen hat. Ab und zu tauchen ein paar diffuse Bilder vom ersten Mal auf. Nach dem Hochgefühl ist mir schlecht geworden, die Seele habe ich mir rausgekotzt. Es hat ziemlich lange gedauert, bis das Verlangen wieder da war. Ich habe mich beobachtet. Es ist nicht so, dass ich mich nicht unter Kontrolle hätte. Keine Ausfallerscheinungen. Das Zucken am rechten Auge ist verschwunden, nachdem ich regelmäßig die Tabletten genommen habe; das Verlangen auch. In der Zeitung haben sie von einem Arzneimittelskandal berichtet, danach habe ich die Tabletten abgesetzt. Das soll man nicht tun, ohne den Arzt zu fragen, steht auf dem Beipackzettel. Ich habe nicht gefragt.


    Der Arzt hat gesagt, dass ich mir keine Sorgen machen soll. Tue ich auch nicht. Wenn die Stücke klein sind, ist alles in Ordnung. Ich kenne mich aus, ich war früher selbst Arzt. Anästhesie. Als das Zucken unübersehbar wurde, haben sie mich entlassen. Eigentlich ist mein Arzt kein richtiger Arzt; nicht so einer, wie ich es war. Ich weiß noch nicht, ob ich ihm vertrauen kann. Mein Magen knurrt, das Verlangen auch. Bevor ich rausgeschmissen wurde, habe ich sehr viel Material mitgehen lassen, hauptsächlich Carbostesin und Naropin. Außerhalb des Krankenhauses ist schwer an das Zeug ranzukommen. Seit einiger Zeit nehme ich davon so wenig wie möglich, nur kleine Stücke. Wie von mir.
    Irgendwann werde ich es nicht mehr verbergen können. Es wird immer schwerer, die Wunden verheilen von Mal zu Mal schlechter. Der Hunger wird größer, beharrlicher nach jedem Mahl. Wenn ich aus mir nichts mehr herausschneiden kann, brauche ich Alternativen. Alternativen haben bestimmt einen anderen Geschmack. Meine Nachbarin ist alleine, eine alleinstehende Alternative. Kleine Stücke, immer nur so viel, wie man essen kann.

  • von Smarana



    „Ich hab mich immer selbst um meine Tochter gekümmert. Es machte mir auch gar keine Mühe. Sie ist so ein liebes Kind.“ Ich war zum ersten Mal hier und sollte in Zukunft stundenweise auf ihr behindertes Kind aufpassen. Ihre sanften Augen sahen mich forschend an. Sie wollte herausfinden, ob ich vertrauenswürdig war; ob ich es schaffen würde mit diesem lebhaften Kind umzugehen.
    Ihr Mann saß neben ihr, eine Hand streichelte ihre Schulter. Sie wirkten sehr harmonisch und ein kurzes Lächeln blitzte von ihr zu ihm hinüber.
    Der kleine Irrwisch verlangte nach Aufmerksamkeit. Sie schnappte sich das Milchkännchen für meinen Kaffee und trank es aus. Triumphierend leuchteten die leicht schräg gestellten Augen. Der Vater schimpfte mit ihr und holte sie zu sich auf den Schoß. Entschuldigend lächelte mein Gegenüber: „Sie ist wirklich sehr anstrengend. Sie tut was sie will und man muss sehr bestimmt sein. Sonst tanzt sie einem auf dem Kopf herum.“
    Vor drei Monaten hatte sie die Diagnose Brustkrebs bekommen und wurde operiert. „Aber es ist nicht schlimm. Zuerst war ich schon sehr erschrocken. Vor allem wenn man denkt, sein Kind zurückzulassen. Aber es ist alles ganz leicht; ich hab die Operation gut überstanden und man kann gut damit fertig werden. Krebs ist nicht so schlimm, wie alle sagen.“
    Sie sieht mich mit hoffnungsvollem Gesicht an und natürlich stimme ich ihr zu. Ich erzähle ihr nichts von dem Brief, den ich vor einiger Zeit bekommen habe, in dem mir die Todesnachricht von einer Bekannten zugeschickt wurde; an Brustkrebs gestorben, nach fünf symptomfreien Jahren.
    Der Kleinen wird es langweilig und sie hüpft übermütig herum. Sie mag den Papa, gibt ihm einen dicken Kuss auf die Wange, zieht an seinen Haaren und dann schlägt sie ihm eher unabsichtlich auf die Nase. Der Vater wird wütend und holt mit der Hand aus. Mit einem Blick auf mich, hält er aber noch inne und schreit sie zornig an. Das Blut rinnt ihn über den Mundwinkel.
    „Sie hat`s ja nicht absichtlich gemacht, Komm, beruhig dich doch.“ Ihre sanfte Stimme hat sich nicht viel verändert. Sie nimmt ihr Kind und setzt es schützend auf die andere Seite. Nun ist die Kleine ganz still und sitzt mit gesenktem Kopf da. Sie hat schon gelernt, wann sie eher nicht mehr auffallen sollte. Seine Liebenswürdigkeit hat sich in Luft aufgelöst und nun schreit er auch seine Frau an. Den Tränen nahe, versucht sie ihn zu beruhigen. Als er im Bad seine blutende Nase versorgt, flüstert sie mir verschämt zu: „Er meint es ja auch nicht so, er ist wirklich ein guter Mensch. Sie ist halt wirklich sehr lebhaft und ungestüm, da verliert er halt die Nerven.“
    Ich nicke ihr verständnisvoll zu, doch hinter ihren Augen sehe ich besorgt ihre verzweifelte Sehnsucht nach Harmonie und wie viel sie dafür zu geben bereit ist.

  • von bartimaeus



    Ich war auf der Suche. Wonach? Das wusste ich selbst nicht so genau. Aber es war irgendetwas Wichtiges. Erinnerungen?
    Ich war alt und schlaksig, nahezu dürr, und mein Haar weiß und schütter. Ich war normal; jedenfalls ziemlich. Manchmal schien ich ein wenig abwesend, aber das war nicht auf mein hohes Alter zurückzuführen, das lag daran, dass ich beschäftigt war. Ich suchte.


    Ich musterte ein Esszimmer. Mein Esszimmer. Mein Blick wanderte zögerlich umher, über die karierte Tischdecke, die auf dem hölzernen Tisch ihr lächerliches Dasein fristete, die grellgelben Plastikblumen, und blieb am Knauf der Besteckschublade hängen. Hastig schritt ich darauf zu.


    Sucht! Sucht!


    Meine knochigen Finger kribbelten, wollten suchen, wollten kramen und mein ganzer Körper schmerzte vor Aufregung. Ich verlangsamte meine Schritte und fast zögerte ich, die Schublade zu öffnen. Doch dann zog ich sie mit einem Ruck heraus und tauchte juchzend ein in die Welt der Löffel, Gabeln, Messer und Serviettenringe, die ich in die Luft warf und auf den Boden regnen ließ, wo sie im Meer der Servietten untergingen. Nichts passierte.


    Nichts. Gar nichts.


    Ich ließ ab von der heillos verwüsteten Schublade und sank bedrückt zusammen.
    Eine Kommode rückte wie von selbst in mein Blickfeld. Es war keine schöne Kommode, sie war eher schlicht, doch meine grünen Augen begannen zu funkeln, unheimlich zu grinsen. Ich schlich mich an, als stellte das Kiefernmöbel eine Bedrohung dar, als könnten die metallenen Schubladengriffe nach mir beißen. Ich blieb stehen. Das Kribbeln in den Fingern wurde stärker und die Stimme in meinem Kopf wurde penetranter, marterte mein Gehirn.


    Sucht, meine Finger, SUCHT!


    Ich musste es tun. Ich MUSSTE suchen. So stürzte ich mich auf die Schubladen, riss sie heraus und verteilte ihre Inhalte auf dem Parkettboden. Flummis, Sockenpaare, Plastiktüten, Rechnungen und alte Einkaufslisten, Rätselhefte – ein Sammelsurium an Dingen fand den Weg in meine zuckenden Finger. Hastend durchforstete ich diese Vergangenheit nach Erinnerungen. Mir war eine Vergangenheit wichtig. Vielleicht lebte ich ohne Gegenwart.


    Sucht und findet, meine Finger! Stöbert!


    Ketten, Murmeln sowie Münzen längst vergessener Währungen rannen durch meine Finger, die immer noch nicht müde wurden, die immer noch nicht gefunden hatten, wonach sie sehnten. Endlich richtete ich mich kraftlos auf und betrachtete die Fotos auf der Kommode. Bilder einer glücklichen Familie, drei lächelnde Generationen auf einem Familienfest, freundliche Gesichter. Eine schöne Vergangenheit. Eine, mit der man leben kann. Meine Vergangenheit. MEINE!


    Zitternden Körpers trat ich auf die Kommode zu und näherte meine Hand einem der Fotos. Ich zögerte. Dann berührte ich das Bild. Der Juckreiz an meinen Fingern ließ ruckartig nach, als ich es in die Arme nahm, mich an ihm festhielt. Sie juckten nicht mehr! Ich hatte Ruhe, Ruhe vor der Gegenwart. War es nicht schön, eine Vergangenheit zu haben? Etwas, woran man sich festhalten konnte?


    Ich versank in einer Woge nie durchlebter Erinnerungen, einer neu entstehenden Gewissheit. Ich war glücklich – bis schließlich ein spitzer Schrei mein seliges Träumen durchbrach:
    “W-was tun Sie in meiner Wohnung? Verschwinden Sie!“

  • von flashfrog



    Schlag 12.
    Ich hatte gehofft, den Entzug allein durchzustehen. Zu peinlich, wenn die Leute in meiner Umgebung davon erfahren würden. Die halten mich für einen ganz normalen, pflichtbewussten, manchmal vielleicht etwas zerstreuten oder launenhaften, aber doch normalen Menschen. Die ahnen ja nichts.
    Die Abhängigen, das sind ja oft ganz normale Studenten und Hausfrauen, keine Verbrecher. Kranke Menschen.


    0:04
    Ich hatte gedacht, der Entzug würde mir leichter fallen, wenn ich keinen Stoff mehr im Haus habe. Und nun wühle ich seit über einer Stunde in den Kissen und kann nicht einschlafen.
    Ich registriere die ersten Symptome. Unruhe, Zittern, beginnende Krämpfe. Glaube eine leichte Verschiebung der Wahrnehmung festzustellen, aber das bilde ich mir vielleicht nur ein.
    Niemand, den ich um diese Uhrzeit noch anrufen könnte.
    Der Bahnhofskiosk und die Tanke sind jetzt jedenfalls geschlossen. (So tief bin ich zum Glück noch nie gesunken.) Bleibt noch Pepe als allerletzter Ausweg, wenn ich es nicht schaffe, diese Nacht zu überstehen. Mieser Stoff, miese Qualität, völlig überhöhte Preise, aber immerhin ein letzter Rettungsanker.


    0:37
    Hab versucht, mich mit dem Lesen eines alten Spiegels abzulenken, den ich hinter dem Schreibtisch gefunden habe. Hilft nicht. Erstens interessieren die News von vor 2 Monaten keine Sau mehr. Zweitens bringt die Substitution nur kurzzeitig etwas Erleichterung, weil sie die Wirkungsweise der Droge imitiert, aber in keinster Weise befriedigt. Im Gegenteil, die Zeitschrift wirkt bei mir eher als Trigger, Schlüsselreiz, und hinterlässt nur ein umso stärkeres bohrendes Verlangen und einen fahlen Geschmack im Mund, wie Altpapier auf der Zunge.


    1:26
    Internet gesurft. Erstaunlich, wie viele Schlaflose mein Leiden teilen. Habe ein Forum entdeckt, wo andere Süchtige nachts auf die selbe Art versuchen, sich Erleichterung zu verschaffen. Heißt Leseuhu, das Forum. Ich kann förmlich sehen, wie die Junkies dort zitternd und mit fiebrigen Augen vor ihren Rechnern hocken und danach lechzen, ihre Klauen und Schnäbel in das nächstbeste Buch zu schlagen.
    Dann durch diesen Scheißlink im Forum bei Amazon gelandet.
    Und bei Ebay die komplette SZ-Reihe ersteigert.
    Bin ein erbärmlicher Versager.


    1:42
    Ich kann nur noch an das eine denken.
    Der Tremor verstärkt sich unkontrollierbar.
    Ich packs nicht.
    Wieder nicht.
    Taxi zu Pepe. Preis egal.
    In dem schäbigen, dunklen, mit Gerümpel vollgestopften Hinterhof stapelt er seine Ware. Mit einer alten Taschenlampe fahre ich die Buchrücken entlang: Kistenweise zerfledderte Serien-Krimis, Herzschmerzromane, der neueste Harry Potter und Cornelia Funke für die Jüngsten unter den Junkies. Ich entscheide mich für einen Wälzer von Schätzing. Der dürfte mich die nächsten Nächte über Wasser halten, wenn ich ihn mir gut einteile. Ich verachte mich, bin aber auch wahnsinnig erleichtert.
    Die ersten Zeilen lese ich noch auf dem Heimweg.

  • von churchill



    Raus mit euch, ich will euch jetzt nicht sehen!
    Lasst mich doch in Ruhe, blöde Schwätzer!
    Schert euch endlich fort, ihr Messerwetzer!
    Ich bleib hier. Ich kann und will nicht gehen.


    Spart euch falsches Mitleid, Ihr Experten.
    Stoppt das Predigen, ich mag’s nicht hören.
    Warum müsst ihr meine Kreise stören?
    Was berechtigt euch, mich zu bewerten?


    Ihr wollt helfen? Ach, ihr seid betroffen?
    Retten wollt ihr mich vor dem Verderben?
    Mich bewahren vor zu frühem Sterben?
    Ja, schon bald hab ich mich tot gesoffen.


    Seid doch froh! Ich bring nur Schimpf und Schande
    über alle braven Anverwandten,
    über Spießeronkel , Heucheltanten.
    Kotzen möcht ich über diese Bande.


    Ich bin krank? Wer sagt’s? Die frommen Pfaffen,
    die geschickt und still und heimlich saufen?
    Seid ihr wieder mal zum Arzt gelaufen?
    Holt sie her, den Säufer zu begaffen!


    Ja, ich muss, wenn ich so trinke, weinen.
    Manchmal fang ich an, wie irr zu lachen.
    Nein, ich kann euch keine Ehre machen.
    Doch mit mir, mit mir bin ich im Reinen.


    Ganz verrückt? Ich neige zum Verrücken.
    Und ich bin auch nicht zu therapieren.
    Geht, Ihr werdet zu viel Zeit verlieren!
    Denkt dran, euren Unmut auszudrücken!


    Hängen muss ich. Hängen an der Flasche,
    nicht an euch und eurem miesen Leben.
    Klar, ihr dürft mir keinen Cognac geben.
    Lügt euch weiter brav in eure Tasche!


    Wenn ihr fort seid, will ich weiter schreiben.
    Ich will trinkend dichten, dichtend trinken.
    Sollt ich wirklich in die Erde sinken,
    werden die Gedichte leben bleiben.


    Raus mit euch, ich will euch nicht mehr sehen!
    Statt schon morgen in das Gras zu beißen,
    werd ich erst auf eure Werte scheißen.
    Wer ein Herz hat, wird mich wohl verstehen ...

  • von Clärschen



    Ich bin schon bei den Kleinanzeigen angelangt.
    Ich ziehe jedes Wort unendlich in die Länge und versuche einen interessierten Eindruck zu machen. Dann spähe ich unauffällig zu ihr hinüber. Sie scheint ganz von der Lektüre ihres Magazins eingenommen zu sein und manchmal lächelt sie amüsiert oder runzelt die Stirn. Ihre Mimik ist faszinierend.
    Um kein Aufsehen zu erregen, widme ich mich wieder den Kleinanzeigen. Hoffentlich fällt niemandem auf, dass ich nun schon viel zu lange lese. Eigentlich wäre ich schon vor einer Stunde gegangen, aber ich will nicht gehen bevor sie geht.
    Vor mir auf dem Tisch türmen sich die leeren Kaffeetassen.
    Das viele Koffein macht mich schon ganz nervös, aber durch ihre Anwesenheit wäre ich es wahrscheinlich ohnehin.
    Irre ich mich, oder müsste sie dieses dünne Heftchen schon lange durchgelesen haben?
    Auch auf ihrem Tisch türmen sich die Tassen.
    Hat sie da eben zu mir hinüber geschielt?

  • von Sinela



    Zerwühlte Lagen, nackte schweißbedeckte Körper, der Geruch nach Sex hing in der Luft und die Frage „war ich gut?“ schwebte noch im Raum. Wie immer hatte sie gelogen und „ja“ gesagt. Sie hatte keinen Orgasmus gehabt, keine Erfüllung gefunden. Dabei hatte sie so gehofft, dass es mit Andreas anders sein würde als bei den Männern vor ihm. Doch wieder einmal war sie enttäuscht worden. Laura stand vorsichtig auf, um ihn nicht zu wecken. Leise zog sie ihr Kleid und ihre Sandalen an. Mit einem letzten Blick auf den schlafenden Mann verließ sie die Wohnung.


    „Und, wie viele Männer hast du letzte Nacht gebumst?“
    „Verpiss dich, ich will schlafen!“
    „Das kann ich mir denken, bist ja erst im Morgengrauen nach Hause gekommen.“ „Und, was geht es dich an?“
    „Was es mich angeht, wenn sich meine Schwester wie eine Hure aufführt? Fragst du mich das allen Ernstes?“
    Ruckartig setzte sich Laura im Bett auf.
    „Ich bin keine 15 mehr, sondern erwachsen. Ich kann tun und lassen, was ich will!“ „Ist dir nicht klar, dass die Leute über dich reden? Ich will gar nicht darüber nachdenken, mit wie vielen Männern aus der Nachbarschaft du schon geschlafen hast. Du bist krank, brauchst dringend ärztliche Hilfe!“
    „Tickst du nicht mehr ganz richtig? Krank? So ein Blödsinn! Ich bin jung und will Spaß haben und dazu gehört nun mal auch Sex.“
    „Ja, aber nicht mit mehreren Männern am Tag. Du bist eine Nymphomanin, denkst Tag und Nacht nur an Sex.“
    Brigittes Stimme nahm einen bittenden Tonfall an: „Lass dir helfen! Um deiner selbst Willen!“
    „Mir gefällt es so wie es ist und nun hau endlich ab!“


    Laura sah den wirbelnden Wassern des Flusses zu, lässig eine Zigarette haltend. Hatte Brigitte Recht, war sie wirklich sexsüchtig? Hatten sich deshalb alle ihre Freundinnen von ihr abgewandt? War sie wirklich eine Hure, verdorben bis ins Mark? Ein lautes hartes Keuchen verließ ihren Mund. Nein, das war sie nicht. Entschlossen schnipste sie ihre halbgerauchte Zigarette weg. Sie wollte etwas erleben und keiner würde sie daran hindern. Was gingen sie die anderen Leute an?


    Vielfarbige Leuchtreklame erhellte die Luft, warf flackernde Bilder auf den nassen Boden. Leichtbekleidete Menschen gingen in dichten Trauben über die Gehsteige. Animateure riefen ihre ewig gleichen Sprüche in die schwüle Luft hinaus. Doch Laura ließ sich nicht beirren. Zielstrebig betrat sie ihre Lieblingskneipe, sondierte mit raschen Blicken das Terrain und setzte sich an die Bar.
    „Wie immer?“
    Sie lächelte.
    „Nein, bei dem Wetter lieber mal was anderes. Bring mir bitte einen Tequilla Sunrise.“
    „Kommt sofort.“
    Die junge Frau war etwas enttäuscht. Keiner der anwesenden Männer ließ ihr Innerstes schwingen. Sie wandte sich ihrem Getränk zu, zog an ihrem Strohhalm und stellte sich dabei vor, es wäre ein Mann, an dem sie mit ihrem Mund herumspielte. Sie war sich ganz sicher: Heute Nacht würde ihre verzweifelte Suche zu Ende sein und der erste Orgasmus ihres Lebens würde ihren Körper erbeben lassen.
    „Hi, ich bin Rainer. Darf ich mich zu dir setzen?“

  • von Luc



    Ich holte Hennemann in der Innenstadt ab. Er arbeitete für meine Fensterbaufirma, schwarz natürlich. Im Auto beobachtete ich, dass seine Hände zitterten; er brabbelte von Marion. Um ihn arbeitsfähig zu bekommen, hielt ich an der nächsten Trinkhalle. Hennemann tankte Jägermeister. Früher bin ich mit ihm in dieselbe Schulklasse gegangen. Bei Mathearbeiten habe ich von ihm abgeschrieben. Nun schleppte er für mich Fensterrahmen und ich deponierte für den Loser eine Kiste Bier im Kofferraum.


    Auf der Baustelle wartete Mustafa. Keine Ahnung, warum der Döskopf mich misstrauisch ansah. Wir begannen Holzfenster auszubauen und transportierten sie zum Fahrzeug. Nach der ersten Fuhre achtete ich darauf, die Treppe hinter Hennemann herabzugehen. Verkatert und gierig wie Hennemann war, rammte er mir sonst dauernd den Fensterrahmen in den Rücken, weil er an das Bier im Auto wollte. Ich hatte versprochen, mit ihm zu reden. So ging es nicht weiter.


    Am Abend fuhren wir zum Bahnhof. Normalerweise setzte ich Mustafa und Hennemann dort ab. Dieses Mal begleitete ich Sie. Ich musste mit ihm reden. Ich hätte es längst tun sollen. Vor Jahren nach seinem einzigen Roman hielt die Presse Hennemann für einen deutschen Bukowski, den zweiten Fauser. Meiner Meinung nach hat er die Kritik in die falsche Richtung interpretiert. Seitdem konnte ich Hennemann beim Unglücklichwerden zusehen. Unglücklichwerden war sein stärkstes Talent.


    Mustafa, der lammfromme Riese, und Hennemann, den die Kunst aufgefressen hatte, waren ziemlich knülle, als wir eine Kneipe betraten und Bier bestellten. Zehn Jahre lang hatte ich auf diesen Tag gewartet und jetzt brachte ich es nicht fertig, reinen Tisch zu machen. Ich war ein Feigling. Ein Gewinner, aber ein Feigling. Hennemann klopfte mir auf die Schulter, als ich auflachte. Außer uns war lediglich der Wirt anwesend; der wankte zur Toilette. Mustafa machte Hennemann Vorwürfe, weil er kaum noch schrieb. Besoffen spielte der Türke gerne den großen Bruder. Er flüsterte ihm ins Ohr. Ich ging zum Spielautomaten und fragte mich, wie ich das Gespräch anfangen sollte. Ach was, ich würde Hennemann einen Wodka bestellen.


    „Was hast du mit Marion zu schaffen?“, schrie Hennemann plötzlich. Ich blickte mich um. Mustafa stand inzwischen neben mir, nahe der Eingangstür.
    „Sie ist eine Hure“, sagte er und stolperte hinaus. Hennemann folgte ihm. Wie gebannt sah ich durch das Glasfenster. Auf der Straße angekommen, beförderte Hennemann den Türken mit einem Fußtritt auf den Bordstein. Hennemann trat auf Mustafas Kopf, immer wieder trat er auf Mustafas Kopf, bis der Schädel nur noch ein blutiger Klumpen war und Mustafas Augen mich aufhörten anzustarren. Ich rief den Notarzt, die Polizei. Als ich Hennemann erreichte, hockte er auf den Knien. Mustafa war tot.


    Gegen Mitternacht wurde ich von den Bullen vernommen und fuhr anschließend mit dem Taxi nach Hause. Marion öffnete meine Wohnungstür, die Umzugskartons standen hinter ihr. Sie spähte an mir vorbei.
    „Keine Sorge, ich bin allein“, sagte ich. Sie fiel mir um den Hals; die Klassenschönste küsste mich, aus dem Radio kam „The Winner takes it all“ von Abba.
    „Hast du mit ihm geredet?“, fragte sie.
    „Wozu? Bei ihm muss man nur warten.“

  • von Voltaire



    So richtig hat bisher noch niemand etwas von meiner Neigung, manche würden vielleicht auch Sucht dazu sagen, bemerkt; die Familie vielleicht, mag sein. Kritisch, prüfenden Blicken halte ich ohne mit der Wimper zu zucken stand. Für therapeutische Maßnahmen besteht allerdings aus meiner Sicht kein Anlass, auch wenn es da sicher andere Sichtweisen gibt.


    Ich sollte mich wohl ein wenig erklären.
    Meine Sucht, oder besser gesagt meine Neigung, ist das Sammeln des Buchstaben „Zett“. Wenn ich diesen Buchstaben irgendwo am Anfang eines Wortes sehe, dann wird er ausgeschnitten, eingescannt, manchmal auch nur einfach abgeschrieben und eingehend beobachtet und dann mittels von Karteikarten katalogisiert. Na, schon mal „Zettels Traum“ gelesen?
    Dabei muss natürlich zwischen einem „unechten Zett“, also zwischen einem „Hilfs-Zett“ und einem selbstbestimmten, einem „echten Zett“ unterschieden werden.
    Ein „Hilfs-Zett“ finden wir beispielsweise in der Vorsilbe „zer“. Die dieser Vorsilbe nachgestellten Wörter haben ausnahmslos eine eigene Bedeutung, könnten als auch ohne diese Vorsilbe, wenn vielleicht auch sinnentstellend, überleben. Ein Wort, mit einem echten „Zett“ zu Beginn, ist ohne das „echte Zett“ schlichtweg nicht verständlich. Ein Zebra wird zum Ebra. Das geht natürlich nicht.


    Wichtig ist, dass das „Zett“ endlich von seinem Schlussleuchtenplatz im Alphabet in das Zentrum dieser Buchstabenaufzählung gerückt wird. Und es wird niemand vor der Tatsache die Augen verschließen können, dass das Wort „Zentrum“ eben mit dem Buchstaben Zett beginnt. Ein Hinweis auf die wahre Stellung des Zett in unserem Universum? Das Zett als Mystifikation des neuen Denkens? Muss das Zett in seiner Bedeutung vielleicht sogar neu definiert werden? Ist im Zett eine geheime Botschaft über die Dinge schlechthin und im Allgemeinen verborgen?


    Die beabsichtigte Gründung des Vereins „Zusammenschluss der Zetischisten“ ist leider mangels Interesse gescheitert. Auch ein Jahr nach dem Gründungsaufruf hatten sich keine Interessenten gemeldet.
    Meiner Familie gegenüber habe ich mich dann doch geoutet. Man nahm mein Bekenntnis mit dem notwendigen Ernst und mit großer Gelassenheit zur Kenntnis, etwas unruhig wurde es allerdings dann, als ich sagte, dass ich nach Zwickau müsse, zwecks Unterschrift unter einen Kaufvertrag für ein zwanzig Jahre altes Reihenhaus und dass wir dazu unser Haus hier in Deppendorf verkaufen müssten. Aber eine Familie die „zett-mässig“ – kleiner Scherz von mir - zusammenhält, wird sicher auch damit klarkommen.


    Seit einigen Tagen aber mache ich mir ernsthafte Gedanken. Immer, wenn ich die Tageszeitung durchblättere, dann fällt mir auf, dass alle „E“ fein säuberlich ausgeschnitten sind. Gerade das „E“! Das „E“ ist doch nichts anderes als die Prostituierte unter den Buchstaben, jedem Wort dient es sich unentgeltlich an. Man muss diese Entwicklung sehr aufmerksam verfolgen und notfalls entsprechende Maßnahme ergreifen. Verbannung des E? Oder das E wird durch das A und das U wechselseitig ersetzt?


    Haben Sie eigentlich mitgezählt, wie viele Worte in diesem Text mit einem „Zett“ beginnen? Sollten Sie gezählt haben, dann sind Sie auf einem guten Weg.

  • von lyrx



    Sucht
    ... stehe ich stundenlang auf meinem Balkon und starre in die Baumwipfel der gegenüberliegenden Parkanlage. Vom Bolzplatz dringt aufgeregtes Rufen zu mir herauf. Vom Spielplatz flattert Kindergeschrei empor. Beide mischen sich im Luftraum vor mir.


    Ich würde gerne mal wieder meine eigene Stimme hören, aber es ist niemand da, mit dem ich reden könnte. Früher hätte ich im Kindergeschrei die Stimme meines Sohnes Jonathan herausgehört. Ich hätte ihm etwas zurufen können. Aber den Jonathan hat die Mutter mitgenommen, als sie ging. Also schweige ich alleine vor mich hin.


    Ich starre und starre. Allmählich verändert sich mein Blick. Ich nehme den Raum vor meinen Augen nicht mehr war. Es kommt mir vor, als würden sich gegen meinen Willen die Lider schließen. Dabei sind meine Augen immer noch weit geöffnet und schauen stur geradeaus. Da, wo ich bisher den Himmel gesehen habe, und Bäume, wo die Wege waren und die Straße vor dem Haus, da sehe ich jetzt in mein Inneres. Mein Inneres ist leer und kahl. Mein Auge hat sich gegen mich gerichtet, weg vom hellen Sommertag, hinein in mich. Mir ist, als hätte ich ein Messer mit einer scharfen Spitze in der Hand gehabt, und dann hätte sich das Messer selbständig gemacht und seine Spitze in meinen Kopf gebohrt.


    Also die Augen schließen, den Kopf schütteln, die Augen wieder aufmachen, sich umdrehen, zurück ins Zimmer gehen. Die Balkontür schließen. Sich an den Tisch setzen, wo das Familienfoto steht. Daneben finde ich auch die Flasche mit Aldi-Wein und das halbvolle Glas wieder. Diese alten Freunde sind mir treu.


    Ich trinke einen Schluck, lehne mich zurück und denke nach über mich: Wie lange wohne ich eigentlich schon hier? Mehr als zehn Jahre! Wann ist Anja, meine Frau, mit dem Kind gegangen? - Auch schon ein paar Jahre her? Wie habe ich das alles ertragen können? Indem ich nicht darüber nachgedacht habe. Das funktioniert ganz gut. Wie lange arbeite ich schon nicht mehr? Das ist unwichtig!


    Ich betrachte die Pendeluhr an der gegenüberliegenden Wand. Kann man sehen, wie sich der Minutenzeiger bewegt? Ich stehe auf und gehe ganz dicht ran. Erst als meine Nase fast das Ziffernblatt berührt, bin ich sicher, das langsame Vorrücken des Zeigers erkennen zu können.


    Es hilft, zu wissen, dass die Zeit vergeht. Zurück zum Tisch, austrinken, nachschenken. - Ich kann die Zeit sehen! Daraus werde ich eine neue Art der Meditation machen. Ich werde hier sitzen und meiner Pendeluhr dabei zusehen, wie sie die Zeit anzeigt. Ich werde dabei an nichts denken. Ich werde nichts tun. Minuten werden zu Stunden heranwachsen, zu Tagen ... irgendwann werden es Jahre sein und ich werde ganz sanft in den Zustand der Zeitlosigkeit hinübergleiten. Ich werde ein Zen-Meister sein. Prost!


    Ich halte mir das Weinglas vor die Augen. Da hat die Pendeluhr einen dicken Bauch und ein lächelndes Gesicht bekommen. Der Bauch ist Anjas Bauch, als sie mit Jonathan schwanger war. Es hilft, ins Glas zu schauen. Ich werde ein Prinzip daraus machen.

  • von Ida



    Du bist wunderschön. Für mich bist du die schönste Frau der Welt. Diejenigen, die vor dir kamen, waren auch schön. Aber sie sind Vergangenheit, und du bist Gegenwart. Du hast den Körper eines Mädchens – schlank und mit Rundungen, die mich verrückt machen. Ich liebe es, wenn du Spitzenunterwäsche trägst. Du siehst umwerfend darin aus, besonders, wenn du dich damit im Spiegel von allen Seiten betrachtest. Dein Haar schimmert rotbraun und fällt in großen weichen Wellen bis über deine Schultern. Im Sonnenlicht glänzt es golden und kupfern. Deine Augen sind wie kleine dunkle Seen; sie ziehen mich in einen Abgrund, vor dem ich mich nicht fürchte. Nicht mehr.


    Ich habe deine Freundinnen kennen gelernt. Sie sind geschwätzig und dumm und keine Schönheiten. Selbst in deinem alten Trainingsanzug siehst du beim Joggen ungleich besser aus als sie. Und es gibt da diesen Mann. Er ruft dich oft an. Wenn du mit ihm sprichst, klingt deine Stimme anders als sonst, höher, und du redest schnell und atemlos. Ich bin eifersüchtig, obwohl zwischen euch noch nie etwas Ernsthaftes war, seit ich dich kenne.


    Heute trägst du das geblümte Sommerkleid mit den schmalen Trägern, in dem du so zart und zerbrechlich aussiehst wie eine Elfe. Deine lange Perlenkette wird wunderbar aussehen, wenn du außer ihr nichts mehr anhast.


    Du bist vollkommen.


    Ich trinke dein Bild mit den Augen und sehne mich nach dem Duft deiner Haut. Ich möchte dich berühren, überall, meine Fingerspitzen über deinen Leib wandern lassen und die Stelle zwischen Schlüsselbein und Hals küssen. Du wirst ganz still sein, durch keine Bewegung den Zauber des Augenblicks zerstören, und ich werde in dir versinken.


    Beim Gedanken daran wird mir warm, das Herz schlägt schneller. Bilder jagen durch meinen Kopf, Ausschnitte von realen und erträumten Szenen. Zuckende Frauenkörper. Meine Hose wird zu eng; ich muss mich zusammenreißen! Ich will nicht wieder alles verderben! Es ist … nicht richtig! Ganz ruhig. Einatmen, ausatmen.


    Plötzlich trittst du ans Fenster. Habe ich eine unvorsichtige Bewegung gemacht? Du schaust hinaus; vielleicht kannst du mich sehen. Dann wendest du dich ab und sprichst mit jemandem im Zimmer. Ich habe ihn vorher nicht bemerkt. Du ziehst die Vorgänge zu, und ich stolpere aus dem Dickicht, erreiche den Weg und will nur noch heim. Dort kann ich träumen und meine Stirn an der Klinge des Messers kühlen. Heute brauche ich es nicht mehr. All die schönen Frauen sind bei mir; ihre Fotos schmücken meine Wände. Deines hat einen besonderen Platz. Und morgen oder irgendwann werde ich dich besitzen und eine Locke deines wunderschönen Haars mit nach Hause nehmen und zu den anderen legen.