Das DDR Sammelsurium - Franziska Kleiner

  • Die DDR war und ist ein Politikum. Hinter dem Politikum aber steckt ein Alltag, der außerhalb der DDR wenig bekannt war. Die Bestandteile dieses Alltags wurden in diesem kleinen Lexikon gesammelt.
    Das geschah nicht nach einem Vollständigkeits - oder Dokumentationsprinzip und auch nicht unbedingt systematisch, wie es im Vorwort der Herausgeberin heißt, aber entschieden sympathisch, wie ich meine.


    Was gibt es auf den knapp 180 Seiten nicht alles zu entdecken. Autokennzeichen, Dienstgrade der Volkspolizei, welche Wasch - und Putzmittel es gab, Kuren und Kurorte, die Kommissare der TV-Krimiserien und welche Berufe die DDR-Politiker gelernt hatten. Schilder für den Einzelhandel: Rundgang bitte nur mit Korb, z.B., Rauchen nicht gestattet und Hier können Sie Eier durchleuchten! Ich wünschte, das gäbe es noch.


    Die Fortbewegungsmittel des Sandmännchens sind zu finden, alle Hefte der Reihe ‚Mosaik’ und des ‚kleinen Trompeters’, die wichtigen Rufnummern - 110 Volkspolizei, 112 Feuerwehr, ein Verzeichnis aller Theater.


    Einige Texte sind im Wortlaut abgedruckt, darunter ein Rundschreiben des Staatlichen Papier - und Bürobedarfs aus dem Jahr 1968 zur Feststellung des täglichen Bedarfs an Toilettenpapier, mit einem Abschnitt über den Verbrauch pro Tag/Person: 1 Abriß, 2 Abrisse ... Da der unterzeichnende Hauptdirektor auf den schönen Namen Pein hörte, bedarf es keiner großen Phantasie, sich die wahrscheinlich rasch umlaufende Bürowitze auf seine Kosten auszumalen.
    Man findet das Jugendweihe-Gelöbnis, einen Wochen-Sendeplan des Fernsehens, Bilder für das korrekte Binden des Pionierknotens, einen Tagesplan aus einem Pionierlager und die Menükarte des Staatsratsbanketts anläßlich des Besuchs von Castro im Jahr 1977. Man erfährt auch, was Staatsbesucher so mitgebracht haben. Indira Gandhi z.B. ein Modell des Tadsch Mahal, die Belegschaft des Staatlichen Kugellagerwerks Kaganowitsch ein Kugellager, Castro die Uniformjacke eines anläßlich des Schweinebucht-Skandals gefangenen Söldners. Seit ich das gelesen habe, hänge ich der Überzeugung anheim, daß Castro einen speziellen Sinn für Humor besitzt.


    Möchte jemand wissen, welche Rosensorten gezüchtet wurden, wer in welchem Berufsbereich mit ‚... des Ostens’ apostrophiert wurde (Tamara Danz - Janis Joplin des Ostens, Heinz Bormann - der Dior des Ostens etc.), wer die Fußballer des Jahres waren und welche Fortbewegungsmittel das Sandmännchen in seiner langen Karriere so benutzte? Alles da. Die Western ebenso wie eine Liste der verbotenen Filme.
    Die Farbpalette bei Trabant bringt einen geradezu ins Träumen. Taigagrün und tundrabeige hat man eigentlich erwartet, aber wer rechnete mit baligelb, brillantkoralle, cliffgrün und lidoblau?
    Briefmarkenfehldrucke, Hornsignale, Werbesprüche und die Mailosungen. Die Verlage mit ihren wirklich wunderschönen und zum Teil altehrwürdigen Signets, Internationale Züge, die FKK-Strände und die Stifterfiguren des Naumburger Doms. Sogar die Leuchtfeuer an der Ostsee.
    Wenn es zur DDR gerade nichts gibt, wird ein wenig Sowjetunion eingestreut, was so falsch nicht ist. Allerdings wirkt der Volltext der sowjetischen Nationalhymne auf russisch ohne Übersetzung zumindest auf mich eine Spur irritierend.


    Die Mischung ist schräg, aber genau sie macht es. Das nämlich ist Alltag, alles quer durcheinander, gleichzeitig und gleichzeitig politisch. Zudem ist es ein ungemein praktisches Nachschlagewerk (über ein gut funktionierndes Register) für all den Kleinkram, der einem so begegnet in Büchern und Filmen, über den man stolpert und den einem meist keiner erklären kann, wenn man niemanden kennt, die die DDR miterlebt haben.
    Zugleich macht es neugierig auf mehr. Wer war Heinz Bormann? Wie alt genau war ein Kind, das Thälmannpionier war? Wieviel Rotkäppchen-Sekt wurde eigentlich produziert und wie viele Jeans der Marke Shanty oder Bison? Haben die Leute wirklich Lipsi getanzt? Diese DDR!


    Nostalgisch? Klar, es ist eine Erinnerungsschau, ein Gang durchs Museum. Jedes Museum ist auf eine Art nostalgisch. Schließlich heißt ‚im Museum stehen’, daß es vorbei ist damit.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

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  • Zitat

    Die Mischung ist schräg, aber genau sie macht es. Das nämlich ist Alltag, alles quer durcheinander, gleichzeitig und gleichzeitig politisch.


    Das hat mich doch neugierig gemacht. Danke für die schöne Rezi


    Knusperflockenmampfend

  • Auf die Wunschliste :write
    Hört sich an wie ein wenig Ostalgie mit Aha-Effekt :lache
    Dafür hab ich noch einen Platz in meiner Erinnerungskiste, neben Halstüchern, Pionierausweis und anderen "alten" Stücken.

  • Nun. Ostlagie ist so eine Sache.
    Ich mag den Begriff nicht. Ich finde, Menschen brauchen 'Vergangenheit'.
    Wie echt, realistisch, wahr diese ist, ist eine ganz andere Frage.


    Ich muß dazu sagen, daß ich in West-Deutschland geboren und aufgewachsen bin, meine ganze Prägung westdeutsch ist und ich mit der DDR keine persönlichen Erfahrungen verbinde. Ich muß sie für mich entdecken, wie ein unbekanntes Land.
    Das tue ich unter anderem dadurch, daß ich seit drei, vier Jahren gezielt Romane und Jugendbücher lese, die in der DDR spielen, von DDR-AutorInnen geschrieben sind und in der DDR erschienen.
    Das DDR-Lexikon hilft mir einfach zum Verständnis. Ich hatte keine Ahnung, was 'HO' ist oder ein ABV, was eine 'Timur-Tat' ist, was ich mir unter einem jungen Pionier vorzustellen hatte oder wer Frank Schöbel war.


    Inzwischen bin ich gescheiter ;-)
    Und durch den Erwerb des kleine Lexikons, auch wenn es nicht ganz billig ist, haben auch meine Nachbarn mal Schonzeit. :lache

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Für mich ist der Begriff Ostalgie meine Vergangenheit.
    Ich bin ein Kind der DDR und erhalte und bewahre vieles aus der Vergangenheit.
    Dieses Buch hört sich an, als passe es perfekt, um das Vergessen zu bremsen :grin
    Leider haben ich nicht mehr viele meiner früheren Bücher und versuche die letzten Jahre das ein oder andere Buch wieder zu erlangen, was sich manchmal als recht schwierig erweist, wenn man stellenweise nicht mehr genau weiß, wie der Titel, geschweige denn der Autor heißt :gruebel

  • In dem Fall ist die Anschaffung gar keine Frage. :grin
    Die Herausgeberin argumentiert genauso. Sie sagt von sich, daß sie 'Thälmannpionier' war, als die DDR endete.
    Ein Kind also, wenn ich das recht verstanden habe. Die mit diesen putzigen Hütchen, nehme ich an. :grin


    Und gut, daß ich dem Begriff 'Ostalgie' mal in positivem Sinn begegne, ich kenne es vor allem als Totschlagsargument.


    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • :lache Das putzige Hütchen :lache haben wir nur als Jungpioniere (1.-3. Klasse) zusammen mit dem blauen Halsband getragen (habe ich übrigens auch in meiner Truhe liegen ;-)). Als Thälmann-Pionier (4.-7. Klasse) reichte das rote Halsband, da brauchten wir das Hütchen nicht mehr.
    Ab der 8. Klasse gab es dann weder Halstücher, noch Hütchen, dann gab es blaue Hemden an :grin

  • danke, die Infos haben mir noch gefehlt.
    :knuddel1


    Ich kenne die Hütchen aus dem 'Augenzeugen', die manchmal bei DVDs dabei sind. Da werden zuweilen Kindergruppen ausgeführt. Und ja, stimmt, die Kinder sind noch ziemlich klein.


    :wave

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    K. Kraus