Manchmal gibt es Bücher, die einem beim Lesen glauben machen, daß die AutorInnen eigentlich gar nicht schreiben, sondern zaubern. So ein Buch ist ‚Schutzfaktor 18’, die Geschichte von Anna und Vanessa. Und den Ameisen.
Anna ist achtzehn, hat gerade die Schule abgeschlossen und wird im September ihre Ausbildung in einem Geschäft für Bastel - und Künstlerbedarf beginnen. Zeichnen ist ihre bevorzugte Beschäftigung, sich aber gleich auf eine Künstlerinnenausbildung zu stürzen, ist ihr ein wenig unheimlich. Anna ist vernünftig.
Der Sommer in Hannover aber ist verregnet und langweilig. Was also konnte Besseres passieren als eine Einladung ihrer Schulfreundin Vanessa, deren Vater in einem kleinen Touristenort in der Nähe von Barcelona eine Bar besitzt? Annas Eltern stimmen zu, es ist die Art Eltern, die man mit Vornamen ansprechen darf und die sich ernsthaft bemühen, nicht allzusehr Eltern zu sein. Tatsächlich gestaltet sich der Einstieg in die Geschichte fast zu idyllisch. Wenn man nicht sehr genau liest.
Ähnlich idyllisch die Ankunft in Spanien. Es scheint Spannungen zu geben zwischen Vanessa und ihrem Vater, doch ist nichts wirklich Ungewöhnliches. Die kleinen Sticheleien zwischen Anna und Vanessa scheinen ebenfalls die üblichen Frotzeleien unter Mädchen zu sein. Überhaupt ist das alles ganz unwichtig angesichts der Tatsache, daß Vanessa einen tollen Job hat als Immobilienmaklerin und eine eigene Wohnung hinter dem Büro, mit Blick direkt aufs Meer. Fehlen nur noch Disco und Männer.
Dafür sorgt Vanessa umgehend, ist sie nicht die heimliche Königin der kleinen Siedlung? Kopfüber stürzt Anna ins süße wilde Jetzt, verfällt dem Rausch von Strandleben, heißen Discos und ebenso heißen Typen. Nicht zuletzt verfällt sie Vanessa, so wie früher schon in der Schule. Vanessa, der Schönen, Unwiderstehlichen, Vanessa der Siegerin.
Die Ereignisse nicht zuletzt in Liebesangelegenheiten verwirren sich jedoch dergestalt, daß Anna allmählich aufwacht. Die Realität, die sich hinter dem zeigt, was sie bis dahin so bewundert hat, ist wenig schön. Auch mit Vanessa muß sich Anna endlich auseinandersetzen.
Erzählt wird in einer einfachen Sprache, so schlicht, daß sie einem zunächst geradezu unbeholfen vorkommt. Erst nach ein paar Seiten merkt man, daß selbst die einfachsten Wörter ihre Bedeutung im Gesamtzusammenhang haben, daß sie Brüche markieren können, auf atmosphärische Veränderungen hinweisen und auf die krude Wahrheit hinter dem schönen Schein. Ebenso sorgfältig wie die Sprache ist der Aufbau des Buchs, vier Teile gibt es, Wind, Wasser, Ameisen, Erde und die Titel passen perfekt zu den Ereignissen.
Die Personen, von den beiden Mädchen über ihre Freunde, den Kellner Manuel, Santi, den Dealer, Joschi aus München oder den umschwärmten DJ Tom aus London, den Eltern, Interessenten im Maklerbüro bis hin zur Putzfrau, die in nur wenigen Szenen auftritt, wirken so lebendig, daß man sich nicht wundern würde, streckten sie auf einmal den Kopf zu Tür herein und fragen: Auch einen Café leche oder gleich einen Cava?
Ebenso stimmig ist die Atmosphäre, gleich ob das Wetter, das Meer, wildes Abtanzen in der Disco oder der seltsam schwebende Augenblick in der letzten Minute einer betrunkenen Nacht, dieser ganz eigene Moment zwischen Tau und Tag beschrieben wird.
Die Geschichte ist an keiner Stelle moralisch, sehr offen wird über Drogen, gesellschaftlich anerkannte, wie Alkohol und Zigaretten, wie auch weniger anerkannte gesprochen. Der Umgang mit Körperlichkeit und Sex ist ebenso freimütig. Dahinter wird ganz unaufdringlich und äußerst geschickt eine ordentliche Dosis Gesellschaftskritik serviert, besonders am Massentourismus und an dem, worum sich alles im Leben zu drehen scheint, Geld. Das ist ganz ausgezeichnet gemacht und gehört doch noch zu den geringsten Leistungen dieses Buchs.
Das Ganze ist ein atemberaubend faszinierender Roman über Beziehungen vor dem Hintergrund der ersten geringen Lebenserfahrung, die sehr junge Menschen haben und die noch mehr von Träumen gespeist sind als von der Realität. Es ist ein Roman über den Verlust von kindlichen Vorstellungen über ‚gut’ und ‚schlecht’, über die klare Trennung von Himmel und Hölle. Das eine, so muß Anna erfahren, ist nur die Kehrseite des anderen, sie scheinen untrennbar verbunden und, das ist wichtig, sie sind von Menschen dazu gemacht. Ändern können Menschen dennoch nicht viel, auch diese Erfahrung muß Anna machen. Retten kann sie sich letztlich nur selbst. Santi, in den sie sich so sehr verliebt hat, wird ein Dealer bleiben und daran auch zugrunde gehen, Manú nach der Saison zu seiner Familie zurückkehren und im nächsten Jahr wiederkommen, um Touristinnen aufzureißen, solange sein gutes Aussehen es nur zuläßt. Vanessas Vater wird eine andere Bar aufmachen, irgendwo, mit dem Geld von gleich wem, solange sein Körper den Alkohol nur aushält.
Bleibt Vanessa. Sie ist für mich die großartigste Schöpfung in diesem Buch. Eine geradezu magische Gestalt, ein Irrlicht, das alle verführt und zugleich menschlich, ein sehr verletztes und verletzliches Mädchen, von einer Sehnsucht getrieben, die sie wahrscheinlich selbst nicht definieren kann. Unstet, zwischen Selbstverachtung und Selbstliebe hängend, so liebesbedürftig, daß sie selbst die Ameisen in ihrer Küche mit Salamistückchen füttert und auf jeden eindrischt, der auch nur eine tötet.
Auch Vanessa kann Anna trotz aller Bemühung nicht retten. Immerhin aber kann sie ihr klarmachen, daß sie ihre Freundin bleiben wird. Vielleicht glaubt es Vanessa für einmal sogar wirklich.
Ganz wunderbares, rundum gelungenes Buch, für Jugendliche und auf jeden Fall auch für Erwachsene.
Manchmal gibt es eben Autorinnen, die schreiben nicht, sondern zaubern.