Schutzfaktor 18 - Beate Dölling (ab ca. 14 J.)

  • Manchmal gibt es Bücher, die einem beim Lesen glauben machen, daß die AutorInnen eigentlich gar nicht schreiben, sondern zaubern. So ein Buch ist ‚Schutzfaktor 18’, die Geschichte von Anna und Vanessa. Und den Ameisen.


    Anna ist achtzehn, hat gerade die Schule abgeschlossen und wird im September ihre Ausbildung in einem Geschäft für Bastel - und Künstlerbedarf beginnen. Zeichnen ist ihre bevorzugte Beschäftigung, sich aber gleich auf eine Künstlerinnenausbildung zu stürzen, ist ihr ein wenig unheimlich. Anna ist vernünftig.
    Der Sommer in Hannover aber ist verregnet und langweilig. Was also konnte Besseres passieren als eine Einladung ihrer Schulfreundin Vanessa, deren Vater in einem kleinen Touristenort in der Nähe von Barcelona eine Bar besitzt? Annas Eltern stimmen zu, es ist die Art Eltern, die man mit Vornamen ansprechen darf und die sich ernsthaft bemühen, nicht allzusehr Eltern zu sein. Tatsächlich gestaltet sich der Einstieg in die Geschichte fast zu idyllisch. Wenn man nicht sehr genau liest.


    Ähnlich idyllisch die Ankunft in Spanien. Es scheint Spannungen zu geben zwischen Vanessa und ihrem Vater, doch ist nichts wirklich Ungewöhnliches. Die kleinen Sticheleien zwischen Anna und Vanessa scheinen ebenfalls die üblichen Frotzeleien unter Mädchen zu sein. Überhaupt ist das alles ganz unwichtig angesichts der Tatsache, daß Vanessa einen tollen Job hat als Immobilienmaklerin und eine eigene Wohnung hinter dem Büro, mit Blick direkt aufs Meer. Fehlen nur noch Disco und Männer.
    Dafür sorgt Vanessa umgehend, ist sie nicht die heimliche Königin der kleinen Siedlung? Kopfüber stürzt Anna ins süße wilde Jetzt, verfällt dem Rausch von Strandleben, heißen Discos und ebenso heißen Typen. Nicht zuletzt verfällt sie Vanessa, so wie früher schon in der Schule. Vanessa, der Schönen, Unwiderstehlichen, Vanessa der Siegerin.
    Die Ereignisse nicht zuletzt in Liebesangelegenheiten verwirren sich jedoch dergestalt, daß Anna allmählich aufwacht. Die Realität, die sich hinter dem zeigt, was sie bis dahin so bewundert hat, ist wenig schön. Auch mit Vanessa muß sich Anna endlich auseinandersetzen.


    Erzählt wird in einer einfachen Sprache, so schlicht, daß sie einem zunächst geradezu unbeholfen vorkommt. Erst nach ein paar Seiten merkt man, daß selbst die einfachsten Wörter ihre Bedeutung im Gesamtzusammenhang haben, daß sie Brüche markieren können, auf atmosphärische Veränderungen hinweisen und auf die krude Wahrheit hinter dem schönen Schein. Ebenso sorgfältig wie die Sprache ist der Aufbau des Buchs, vier Teile gibt es, Wind, Wasser, Ameisen, Erde und die Titel passen perfekt zu den Ereignissen.


    Die Personen, von den beiden Mädchen über ihre Freunde, den Kellner Manuel, Santi, den Dealer, Joschi aus München oder den umschwärmten DJ Tom aus London, den Eltern, Interessenten im Maklerbüro bis hin zur Putzfrau, die in nur wenigen Szenen auftritt, wirken so lebendig, daß man sich nicht wundern würde, streckten sie auf einmal den Kopf zu Tür herein und fragen: Auch einen Café leche oder gleich einen Cava?
    Ebenso stimmig ist die Atmosphäre, gleich ob das Wetter, das Meer, wildes Abtanzen in der Disco oder der seltsam schwebende Augenblick in der letzten Minute einer betrunkenen Nacht, dieser ganz eigene Moment zwischen Tau und Tag beschrieben wird.


    Die Geschichte ist an keiner Stelle moralisch, sehr offen wird über Drogen, gesellschaftlich anerkannte, wie Alkohol und Zigaretten, wie auch weniger anerkannte gesprochen. Der Umgang mit Körperlichkeit und Sex ist ebenso freimütig. Dahinter wird ganz unaufdringlich und äußerst geschickt eine ordentliche Dosis Gesellschaftskritik serviert, besonders am Massentourismus und an dem, worum sich alles im Leben zu drehen scheint, Geld. Das ist ganz ausgezeichnet gemacht und gehört doch noch zu den geringsten Leistungen dieses Buchs.


    Das Ganze ist ein atemberaubend faszinierender Roman über Beziehungen vor dem Hintergrund der ersten geringen Lebenserfahrung, die sehr junge Menschen haben und die noch mehr von Träumen gespeist sind als von der Realität. Es ist ein Roman über den Verlust von kindlichen Vorstellungen über ‚gut’ und ‚schlecht’, über die klare Trennung von Himmel und Hölle. Das eine, so muß Anna erfahren, ist nur die Kehrseite des anderen, sie scheinen untrennbar verbunden und, das ist wichtig, sie sind von Menschen dazu gemacht. Ändern können Menschen dennoch nicht viel, auch diese Erfahrung muß Anna machen. Retten kann sie sich letztlich nur selbst. Santi, in den sie sich so sehr verliebt hat, wird ein Dealer bleiben und daran auch zugrunde gehen, Manú nach der Saison zu seiner Familie zurückkehren und im nächsten Jahr wiederkommen, um Touristinnen aufzureißen, solange sein gutes Aussehen es nur zuläßt. Vanessas Vater wird eine andere Bar aufmachen, irgendwo, mit dem Geld von gleich wem, solange sein Körper den Alkohol nur aushält.


    Bleibt Vanessa. Sie ist für mich die großartigste Schöpfung in diesem Buch. Eine geradezu magische Gestalt, ein Irrlicht, das alle verführt und zugleich menschlich, ein sehr verletztes und verletzliches Mädchen, von einer Sehnsucht getrieben, die sie wahrscheinlich selbst nicht definieren kann. Unstet, zwischen Selbstverachtung und Selbstliebe hängend, so liebesbedürftig, daß sie selbst die Ameisen in ihrer Küche mit Salamistückchen füttert und auf jeden eindrischt, der auch nur eine tötet.
    Auch Vanessa kann Anna trotz aller Bemühung nicht retten. Immerhin aber kann sie ihr klarmachen, daß sie ihre Freundin bleiben wird. Vielleicht glaubt es Vanessa für einmal sogar wirklich.


    Ganz wunderbares, rundum gelungenes Buch, für Jugendliche und auf jeden Fall auch für Erwachsene.
    Manchmal gibt es eben Autorinnen, die schreiben nicht, sondern zaubern.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

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  • Ich selbst besitze die gebundene Ausgabe dieses Buchs und wer es etwa verschenken möchte - ich tue es mit Hingabe :grin - dem sei sie empfohlen.
    Sie ist schön gemacht und für einmal den Preis mehr als wert.


    PS: ich sehe gerade, daß das Bild etwas blaß herauskommt, im Original ist es exakt so knallgelb wie das TB.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

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  • Liebe Magali,
    aufgrund deiner Rezi habe ich das Buch sofort auf meinem Wunschzettel zwischengeparkt, von dort wird es dann wohl in sehr kurzer Zeit in eine bindende Bestellung umgewandelt werden.
    Herzlichen Dank für diese wirklich sehr eindrucksvolle Rezi. :wave

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Voltaire,


    :grin


    es tut mir fast leid, daß ich Deinen SUB so fülle.


    Eins noch: es gibt mindestens zwei intime Szenen, die ich zwar wunderschön, aber eine Spur schockierend fand in einem JUGENDbuch.
    Sicher eine Frage der Generation. Und ich will es bloß gesagt haben :grin


    Dennoch ist es seit der ersten Lektüre zu einem 'all-time-favourite' geworden.
    (Gibt es dafür eigentlich einen guten deutschen Ausdruck??)


    Und gleich, wem ich es schenke, Jugendlichen oder Erwachsenen, darunter auch AutorInnen :lache - sie waren hingerissen.


    Streiten läßt sich über das Buch auch. Und wie!


    :wave

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

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  • Was für eine wunderschöne Rezension, liebe Magali! :anbet


    Eigentlich lese ich ja gar keine Jugendbücher - warum eigentlich nicht? :gruebel - aber, jetzt hast Du mich sicher in Versuchung gebracht.

    Du hast die beiden Mädels und ihren Werdegang so plastisch beschrieben, daß die Ameisen fast buchstäblich über meine Tastatur gekrochen sind. :-)


    Danke! :wave


    Weißt Du was - ich setz den Titel gleich mal auf meine Amazon-Wunschliste, ich muß doch wissen, was es mit den Ameisen auf sich hat. :-]

  • Zitat

    Original von magali
    Voltaire,


    :grin


    es tut mir fast leid, daß ich Deinen SUB so fülle.


    Mir tut das gar nicht leid. :grin
    Mach ruhig weiter damit, mein SUB ist fast unbegrenzt aufnahmefähig. :wave

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • *hält sich die Augen zu und tut so, als hätte sie die Rezi nie gesehen*


    [SIZE=7]*hat aber das Buch schon längst auf die Amazonliste gesetzt*[/SIZE] :grin

    Lieben Gruß,


    Batcat


    Ein Buch ist wie ein Garten, den man in der Tasche trägt (aus Arabien)

  • Zitat

    Original von Batcat
    *hält sich die Augen zu und tut so, als hätte sie die Rezi nie gesehen*


    *macht auch mit, hat doch eigedlich genug zu lesen :cry* :grin

    "Rettet Robert- bewahrt den kleinen Robert nur als kleine Nebenrolle zu enden"
    (Rubinrot- Kerstin Gier) Macht mit! :lache

  • Ich halt mir die Augen überhaupt nicht zu, ganz im Gegenteil


    Ich selbst lese sehr gerne Jugendbücher und ich bin auch immer auf der Suche nach guten Lesestoff für meine Töchter.


    Mir stellt sich jetzt nur noch die Frage, ab welchem Alter dieses Buch geeignet ist.
    Bei Antolin wird es ab 9-10 Jahre empfohlen, ich lese aber auch das híer


    Zitat

    Eins noch: es gibt mindestens zwei intime Szenen, die ich zwar wunderschön, aber eine Spur schockierend fand in einem JUGENDbuch.


    Na ja, für mich ist es bestimmt geeignet.

  • Wer auch im Alter junggeblieben ist, wer vielleicht der eigenen Jugend ein wenig nostalgisch nachtrauert, der aber auch der Jugend von heute ihr Leben und ihre eigenen Erfahrungen gönnt, dem sei dieses Buch wirklich nachdrücklich anempfohlen. Beate Dölling schafft es, in ihrem Buch die Sprache der jungen Menschen zu sprechen, ohne sich dabei aber durch Aufgesetztheiten anzubiedern. Sie gesteht den jungen Menschen das Recht auf eigene Fehler zu, sie gängelt nicht und dazu schafft sie es, eine mitreißende Geschichte zu erzählen. Vielleicht hätte es an der einen oder anderen Stelle ein wenig atmosphärisch tiefer sein können, aber dieses in meinen Augen kleine Manko, schmälert den Gesamteindruck jedoch in keiner Weise. Auch wenn junge Menschen sich vielleicht manchmal oberflächlich gebärden, so sind sie aber alles andere als das. Dieses deutlich zu machen, ist das Verdienst von Beate Dölling. Ihr Buch kann sicher zum gegenseitigen Verständnis zwischen den Generationen beitragen und ist vielleicht eher zur Lektüre im Deutschunterricht geeignet als dieser unsägliche Thomas Mann. Bei aller Leichtigkeit ist dieses Buch auch mit einem tiefen Ernst durchsetzt, manchmal leider etwas zu verklausuliert. Ein wirklich sehr schönes und beeindruckendes Leseerlebnis.


    Herzlichen Dank an Magali für diese Leseanregung!

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Madita


    entschuldige, das habe ich gerade erst entdeckt.
    Das Buch eignet sich sicher nicht für Leserinnen (und Leser?) unter 14. Nicht wegen Sex 'n Drugs an' Rock'nRoll, sondern weil es um das Ende der Kindheit geht.
    Es müssen Entscheidungen getroffen werden für den Eintritt in einen neuen Lebensabschnitt, Berufsleben, Freundschaften, Liebesbeziehungen, Beziehung zu Eltern z.B. Es geht um Ab - Trennung, im positiven wie im negativen Sinn. Jüngere Kinder können das nicht erfassen.



    Voltaire


    schön, daß ein Buch, das inzwischen zu meinen Lieblingsbüchern gehört, so gute Aufnahme gefunden hat bei Dir.


    :wave

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Meine Meinung:


    Ich wusste lange nicht, was ich von dem Buch halten sollte. Einerseits sind dort die typischen Probleme von Mädels um die 20 beschrieben, andererseits will man wissen, wie es weiter geht. Auf dem Buchrücken steht, dass das Buch ab 14 ist. Ob ich da zustimmen kann, weiss ich nicht, da der Umgang mit Drogen und Sex doch sehr in den Vordergrund rückt.


    Es geht um Anna, die von ihrer Freundin Vanessa nach Spanien eingeladen wird. Vanessa scheint ein tolles Leben zu führen. Sie hat einen Job bei einem Immobilienmakler, muss dort nur im Büro sitzen und Anrufe entgegen nehmen und sie geht jede Nacht mit den Saisonarbeitern feiern.


    Anfangs findet Anna das Leben dort toll und freut sich, dass sie Abstand von ihrem normalen Leben zu Hause in Hannover hat und verliebt sich in Manú, einen Spanier.
    Nach und nach merkt Anna, dass dieses Leben so auf Dauer nicht durchzuführen ist und verstreitet sich mit Vanessa, als sie diese mit Manú erwischt.


    Anna flüchtet zu ihren neu gewonnen Freunden und merkt, dass das Partyleben auf Dauer doch nicht so lebenswert ist und beginnt über ihre Zukunft nachzudenken.


    Ich werde das Buch weiterempfehlen, weil es die verschiedenen Phasen im Leben einer Jugendlichen darstellt. Die Suche nach dem, was Anna wirklich wichtig ist.
    Es ist in einfacher Sprache geschrieben und ab und an kommen spanische Wörter vor, die aber leicht zu verstehen sind bzw. danach erklärt werden.
    Während ich das Buch gelesen habe, hatte ich das Bedürfnis nach Spanien in den Urlaub zu fahren, was sicher an den vielen spanischen Begriffen lag.

  • Mir hat das Buch sehr gut gefallen. Vor allem der Aspekt, dass man seine eigenen Erfahrungen und Fehler machen muss und dass man selber entscheiden muss was richtig oder falsch ist.


    Ob ich das Buch an meine gerade 14jährige Tochter weitergebe?
    Ich weiß es noch nicht, ich glaub ich warte noch ein weinig. Ich muss erst noch herausfinden ob dieser Satz von Volaire auch wirklich stimmt.
    Ich hoffe es ist so ;-)


    Zitat

    Auch wenn junge Menschen sich vielleicht manchmal oberflächlich gebärden, so sind sie aber alles andere als das.