A Long Way from Chicago - Richard Peck (ab ca. 11 J.)

  • Auf dieses knapp 150 Seiten-Taschenbüchlein stieß ich nebenbei, bei der Suche nach etwas ganz anderem. Wie so oft in diesen Fällen, entpuppte sich das Gesuchte als Niete, das Fundstück aber als Volltreffer.


    Richard Peck, der mir, obwohl ich seit Jahr und Tag und mit Hingabe Jugendbücher lese, noch nie über den Weg gelaufen war, ist ein sehr bekannter und mit einigen Preisen ausgezeichneter US-amerikanischer Autor von Romanen, Gedichten, Kinderbüchern, Jugendbüchern und Büchern für junge Erwachsene. Er wurde 1934 in Illinois geboren, studierte Englisch und arbeitete viele Jahre als Englisch-Lehrer. Die Liebe zu seiner Muttersprache merkt man schon auf der ersten Seite des Buchs, er arbeitet geradezu lustvoll mit Wortspielen, Anspielungen und Pointen.


    A Long Way from Chicago sind die Kindheitserinnerungen des fiktiven Helden Joe Dowdel aus Chicago an sieben einwöchige Ferienaufenthalte auf dem Land bei seiner Großmutte zwischen 1929 und 1935. Begleitet wird Joe, der im ersten Kapitel gerade neun Jahre alt ist, von seiner zwei Jahre jüngeren Schwester Mary Alice.


    Sieben Ferienwochen, sieben Kapitel, sieben einzelne Geschichten über das, was in der heißesten Woche im August mitten im ländlichsten Illinois alles so passieren kann. Zum Beispiel, daß ein völlig verwahrloster Alter nach seinem Tod zum Bürgerkriegshelden mit Ehrenbegräbnis wird, böse Rache an lästigen Journalisten inklusiv, (Shotgun Cheatham’s Last Night Above Ground), daß Briefkästen und Außentoiletten in die Luft fliegen und Dorfrowdies doch ihre gerechte Strafe bekommen (The Mouse in the Milk), daß zwei Liebende mit Hilfe einer Geistererscheinung zusammenkommen (The Phantom Brakeman) oder daß man einen Backwettbewerb rundum gewinnt, obwohl man verliert (The Day of Judgement).


    Es ist wundervoll komisch, ich habe einige Kapitel im Café gelesen und bin durch nicht nur einmal durch spontanes herzliches Loslachen aufgefallen.
    Es hat aber auch seine ernsten Seiten, denn im Lauf der Kapitel bekommt man einen recht tiefen Einblick in das Leben der kleinen Stadt am Bahndamm, in die Charaktere der Bewohner und damit in die Lebensbedingungen auf dem Land in den Dreißigern überhaupt.
    Es geht um die Probleme, die das Alter mit sich bringt, um Armut, wirtschaftliche Not. Schließlich sind das die Jahre der Depression. Landlose ziehen in Strömen durch die kleine Stadt, die sich ihrer nur erwehren kann, indem sie sie weitertreibt.
    Drifters Keep Moving. This Means You (Signed) O.B. Dickerson, Sheriff verkündet ein Schild gleich am Bahnhof. Natürlich kann Grandma mit so etwas auf ihre ureigene Grandma-Weise umgehen. (A One-Woman Crimewave).


    Der Blick aus den Kinderaugen auf alles und nicht zuletzt auf die für die beiden Kinder recht rätselhafte Grandma ist ein erzählerischer Kniff, der perfekt durchgehalten wird. Daß Joey und Mary Alice noch dazu Großstadtkinder sind - Mary Alice hat so ihre Probleme mit dem Außenklo - schärft diesen Blickwinkel und trägt zur Komik wie zur geschickt untergründig herbeigeführten Erkenntnis bei.
    Die Geschwister sind übrigens keineswegs ein Herz und eine Seele, sondern zwei eigenständige Wesen, die ihrerseits eine Entwicklung durchmachen, ihren Interessen nachgehen und auf ihre eigene Art mit der Woche auf dem Land sowie mit Grandma fertigwerden müssen.
    Grandma ist alles andere als eine Kuscheloma. Sie besitzt eine doppelläufige Winchester Modell 21 (Zwölfschüsser), die sie sehr schätzt und ja, auch abfeuert. Joey gewöhnt sich im Lauf der Zeit an das Klingeln in den Ohren, wenn es geknallt hat.


    Zugleich hat das Ganze den liebevoll-nostalgischen Ton von Erinnerungen, ohne zu verklären und sentimental zu werden. Die Sätze sind eher kurz gehalten, so, wie eben ein Kind spricht - Joey erzählt die Geschichten - , aber Einfachheit ist nur vermeintlich. Tatsächlich sidn sie sehr raffiniert gebaut und eingesetzt. Es gibt doppelbödiges, es gibt Sarkasmus und es gibt sehr, sehr schöne Stimmungsbilder, flüchtige Eindrücke von Maisfeldern im Mondschein, der allgegenwärtig Staub, Zügen, die vorbeifahren, bleiben unvergeßlich.
    Die letzte Geschichte, die achte, ist ein letzter Eindruck, den Joey von Grandma mitnimmt, als er 1942 als Soldat in einem Militärzug sitzend noch einmal durch ihre Stadt kommt. Eine Ära ist zu Ende.


    Hier zum Einstimmen die ersten Sätze aus dem Prolog:


    It was always August when we spent a week with our grandma. I was Joey then, not Joe, Joey Dowdel, and my sister was Mary Alice. In our first visits we were still just kids, so we could hardly see her town because of Grandma. She was so big, and the town so small. She was old, too, or so we thought - old as the hills. And tough? She was tough as an old boot, or so we thought. As the years went by, though, Mary Alice and I grew up, and though Grandma never changed, we’d seem to see a different woman every summer....


    Es ist schade, das sich bisher niemand die Mühe gemacht hat, dieses Juwel zu übersetzen. Wer immer aber sich zutraut, ein paar Sätze wirklich schönes US-amerikanisch zu lesen, denen sei es ans Herz gelegt.
    Not to miss.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

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