Uwe Johnsons Jahrestage

  • Ich lese zur Zeit "Jahrestage" von Uwe Johnson. Untertitel: "Aus dem
    Leben der Gesine Cresspahl". 365 Einträge vom 21. August 1967 bis zum
    20. August 1968. Es ist kein Tagebuch, da das Alltagsleben von Gesine
    Cresspahl nur das Trägermedium für ein zeitgeschichtliches Panorama
    liefert.



    Es wird die Familiengeschichte der Cresspahls erzählt, von
    Gesines Geburt an, ihre Kindheit im dritten Jahr, der Zusammenbruch,
    der Neuanfang im Osten unter kommunistischer Herrschaft. Der
    Vietnamkrieg spiegelt sich wieder in Zitaten und Verweisen auf die New
    York Times. Der Prager Frühling spielt eine entscheidende Rolle, und
    es ist bestimmt kein Zufall, dass der letzte Eintrag vom 20. August
    stammt, also ein Tag bevor die Truppen des Warschauer Pakts in Prag
    einmarschierten.


    Gesines Alltag im New York von 1968/1969 bildet die Rahmenhandlung und
    bringt neben Nationalsozialismus und Kommunismus die dritte wichtige
    Staatsform des zwanzigsten Jahrhunderts in diesen Roman ein.


    Der Roman hat mehr als 1700 Seiten und spannt einen gewaltigen Bogen
    über die Gesellschaften der zweiten Hälfte des zwanzigsten
    Jahrhunderts. Strukturgebend ist die chronologische, tagebuchähnliche Form,
    bei der jeder Eintrag sich auf einen Tag bezieht, ohne den Tag als
    solchen ausschließlich zum Gegenstand zu haben.


    Indem Johnson sich dieses strenge Korsett anlegt, kann er mit
    Rückblicken, Zeitungsausschnitten und Exkursen aller Art arbeiten,
    ohne dass der Roman die Form verliert und zu einem zusammenhanglosen
    Konglomerat wird. Vielleicht ist das eine der großen Stärken dieses
    Buches: Es fällt nicht auseinander, sondern schafft tatsächlich die
    Klammer um mehrere Jahrzehnte der europäischen und amerikanischen
    Geschichte.


    Fiktives wird so in den realen zeitgeschichtlichen Hintergrund
    integriert, dass es kaum noch zu unterscheiden ist. Die kleine
    mecklenburgische Stadt Jerichow dient als Modell, an dem in Form
    vieler Einzelschicksale der Weg Deutschlands ins Dritte Reich und
    wieder heraus geschildert wird. Die Stadt ist fiktiv. Ihr Werden und
    ihr Wandel im Laufe der Zeit wird umfassend beschrieben,
    bis hinein in die Querelen der Lokalpolitik, und bis zu
    städtebaulichen Details: Man nimmt dem Autor unwillkürlich ab,
    er habe eine die Geschichte einer realen Kleinstadt recherchiert.


    Tatsächlich hat Johnson hier eine kleine exemplarische Welt erschaffen,
    um seine persönliche Analyse des dritten Reichs durchführen zu können.


    Da ich mich zur Zeit mit Blogs beschäftige, finde ich die Struktur des
    Romans besonders interessant. Heutzutäge läge es nahe, den Roman im
    Internet in der Form eines Blogs zu veröffentlichen. Man könnte das
    Buch dann auf eine völlige neue Art und Weise lesen. Es treten im
    Verlaufe der 1700 Seiten viele Personen auf, verschwinden wieder, um
    erst einige hundert Seiten später wieder erwähnt zu werden. Wie
    nützlich wäre da die Suchfunktion eines Blogs! Um wie viele einfacher
    wäre es, Bezüge deutlich zu machen, Zusammengehörendes zu gruppieren:
    Man könnte Tags verwenden, mit deren Hilfe in Blogs thematisch
    zusammegehörige Einträge gekennzeichnet werden können.o


    Jahrestage als ein riesige Blog! Für mich eine faszinierende
    Vorstellung!


    http://lyrxx.blogspot.com/2007…-jahrestage-als-blog.html


    -

  • Auf Deine Leseerfahrungen bin ich gespannt. Hab mir Dein Blog unter Favoriten abgespeichert. Aber Du hast recht, heutzutage würde man die Tagebücher wohl in Blog-Form schreiben.

  • Zitat

    Original von geli73
    Hab mir Dein Blog unter Favoriten abgespeichert.


    Da fühle ich mich geehrt. Ist brandneu, der Blog.


    Ich hatte ja mal überlegt, das Buch mit anderen zusammen zu lesen,
    siehe Mitleser gesucht: Uwe Johnson: Jahrestage, vorschlagsweise ab Februar? .


    Ich habe aber dann gemerkt, dass ich mit dem zeitlichen und terminlichen Druck nicht zurechtkomme würde und das dann widerrufen. Ich bin jetzt auf Seite 1350, es fehlen also noch gut 350 Seiten, und allmählich wird die große Klammer sichtbar, die da um alles gezogen worden ist. So ein Buch zu schreiben, bringt einen jeden Autor an seine Grenzen, und die meisten Leser auch. Johnson hat nach drei Bänden aufgehört und zehn Jahre Schreibblockade gehabt. Äußere Ursache war nicht zuletzt, dass seine Frau fremdgegangen ist und ihm das irgendwann mal auf die Nase gebunden hat.


    Mit seiner Frau hat er ein intensives Verhältnis gepflegt, er ist beim Schreiben jedes Detail durchgegangen und sie hat mit entschieden, was Gesine Cresspahl erleben darf und was nicht. Gesine bleibt die ganzen 1700 Seiten lang merkwürdig blass. In ihrem New Yorker Alltag erlebt sie nicht viel, nur ihre Kindheit im dritten Reich ist turbulent gewesen. Irgendwann auf den ersten hundert Seiten dachte ich, dass diese Gesine eigentlich eine Frau zum Verlieben ist, gerade weil sie ein wenig unnahbar ist. Da wusste ich noch nichts von der Geschichte mit Johnsons Frau. Jetzt ist mir klar, dass sich in Gesine auf eine ganz indirekte Weise Johnsons große Liebe zu seiner Frau wiederspiegelt. Klar, dass er nicht weiterschreiben konnte, als die ihm weglief.


    Er hat dann nach zehn Jahren wieder aufgesetzt und den vierten Band zu Ende gebracht. Man sollte vermuten, dass eine so lange Pause las ein Bruch im Erzählstil zu bemerken sein sollte. Dem ist aber nicht so. Da wird eine Sprache, ein roter Faden einheitlich durchgehalten von der ersten bis zur letzten Seite.


    Interessant auch die Erzählperspektive. Darüber werd ich mich auch mal ausbreiten.

  • Interessant, was dahinter steckt. Ich kenne nur den Film, bzw. auch nicht alle Teile davon, daher habe ich nur vage Erinnerungen an das Thema. Ans Lesen habe ich mich bisher nicht rangewagt.


    Wie lange liest Du schon an dem Buch?

  • Zitat

    Original von geli73
    Wie lange liest Du schon an dem Buch?


    Ich denke, seit Februar oder so. Wer es selbst probieren will, sollte nicht den Fehler machen, den ich gemacht habe, und die einbändige Ausgabe kaufen. Die ist nämlich so dick, dass man sie nirgendwohin mitnehmen kann, und dadurch dauert es mit dem Lesen noch ein wenig länger. Es gibt eine vierbändige Taschenbuchausgabe.


    Durch die Vielzahl von Personen und Querbezügen ist es eine äußerst schwierige Lektüre. Es gibt ein Personenregister von Rolf Michaelis, da hat sogar noch Uwe Johnson dran mitgearbeitet. Das habe ich in einer Bibliothek gesehen. Damit wird die Lektüre schon einiges interessanter.


    Vor kurzem habe ich auch noch einen Kommentar im Internet entdeckt:
    http://www.ndl.germanistik.phi…ohnkomm/0/jahrestage.html
    Vielleicht nicht das Allerhilfreichste, aber besser als nichts.

  • Die "Jahrestage" hatte 1700 Seiten, und ich hab's irgendwie
    überstanden. Siehe
    Uwe Johnson: Jahrestage


    Da dachte ich, "Mutmaßungen über Jakob" vom selben Autor schaffst
    du jetzt locker auch noch. Irrtum! In diesem Buch tauchen zwar
    einige Figuren auf, deren Leben in "Jahrestage" wesentlich
    breiter ausgeleuchtet wird, aber es ist ansonsten nicht zu
    vergleichen. Natürlich trifft man auch hier auf den unvergleichen
    Johnson-Stil mit der sprachlichen Exaktheit und dieser engen
    Verzahnung von realem Erzählhintergrund und Fiktion. Aber das Ganze
    ist Experimenteller und weitaus weniger homogen als die "Jahrestage"


    Die Erzählperspektive wechselt ständig. Normalerweise ein Todesurteil
    für einen "gewöhnlichen" Roman. Angesichts der Tatsache, dass
    Johnsons Roman aus der Gegenwartsliteratur nicht wegzudenken ist, muss
    es dem Autor wohl gelungen sein, über dieses Ineinanderschieben
    unterschiedlicher Erzählstimmen etwas erreicht zu haben. Dazu kann ich
    vielleicht etwas sagen, wenn ich das Buch zu Ende gelesen habe. Man
    merkt aber jetzt schon, wie dieses Buch gewirkt hat: Der Erzählduktus
    kommt mir aus anderen deutschen Gegenwartsromanen bekannt vor. Der
    Realismus, die scharf geschliffenen Beschreibungen, diese
    erzählerische Gewissenhaftigkeit bei jeglicher Abwesenheit von Humor,
    das alles glaube ich auch anderswo schon schlechter gelesen zu haben.
    Interessant! Man liest sowas und merkt plötzlich, dass hier etwas ist,
    von dem andere "abgeschrieben" haben, oder besser, das für andere
    Vorbild gewesen ist.


    Viele unterschiedliche Stimmen berichten über das unscheinbare Leben
    des gewissenhaften DDR-Eisenbahners Jakob Abs. Warum ist der zu Tode
    gekommen? - Das ist letztlich wohl nicht so wichtig. Wichtiger ist,
    was das für ein Mensch ist, nämlich ein harmloser, fleißiger, der
    einfach nur funktioniert als ein Rädchen im Überwachungsstaat. Und
    obwohl wir hier einen völlig Unpolitischen vorgeführt bekommen, kann
    der Überwachungsstaat nicht umhin, sich mit dem zu beschäftigen, ihn
    zu kontrollieren, zu manipulieren, zu ärgen.


    Auf jeden Fall ist das schon mal eine beeindruckende Studie, wie die
    Wadenbeißer des real existierenden Sozialismus in das Leben Einzelner
    eingegriffen haben.