Im Schatten
Ich kann es ihr nicht sagen. Nicht heute, nicht jetzt. Vielleicht erzähle ich es ganz beiläufig, wenn wir nachher den Kaffeetisch wieder abdecken. Und wenn nicht, dann bei der Tagesschau. Es passiert soviel Elend auf der Welt, dass sie mein Persönliches gar nicht mehr schockieren wird. Ich kann es ihr nicht sagen.
Heute ist mein neunzehnter Geburtstag und ich bin tot unglücklich.
Ich mustere meine Geburtstagsgesellschaft. Viele sind es nicht, meine ganze Verwandtschaft besteht nur aus zehn Personen. Ich habe eine Schwester, einen Vater und eine Mutter. Meine Tante und ihr Mann sitzen mir mit ihren beiden Mädchen gegenüber. Sie erzählen sich kichernd uralte Witze. Neben meinem Onkel sitzen meine Großeltern. Schweigend stopfen sie die selbstgebackene Festtagstorte in sich hinein. Sie hören schlecht und sind müde. Die seltenen Abwechslungen in ihrem Alltag erschöpfen sie schnell. Meine Mutter rennt zwischen Kaffeemaschine und Wohnzimmer hin und her, immer darauf bedacht, die Tassen und Kuchenteller nicht länger als zehn Sekunden ungefüllt zu lassen. Das Tortenstück auf ihrem Teller ist unangetastet, sie erlaubt sich erst hinein zu beißen, wenn alle anderen versorgt sind. Wie könnte ich es ihr jetzt sagen? Es geht nicht. Ich bekomme Bauchschmerzen, weil ich es mir vorgenommen habe und doch nicht wage. Aber deswegen habe ich es mir vorgenommen.
Ich sehe meine Kusine an. Nachher will sie sicher wieder „Disko“ in meinem Zimmer spielen. Ich hasse das. Sie lässt dann das Rollo runter und fummelt so lange an der Anlage herum, bis sie ein Lied nach ihrem Geschmack gefunden hat. Dann bewegt sich wie eine Irre in meinem kleinen Zimmer. Ich sitze da und ziehe die Beine an. Irgendwie will sie nicht groß werden. Oder sie kann nicht. Wenn sie später wieder fährt, lasse ich das Zimmer dunkel und lege mich ins Bett. Für einen Augenblick ist es friedlich. Ich freue mich darauf.
Meine Oma fragt mich nach Julien, sie weiß es nicht besser. Ich erzähle ihr zum dritten Mal, das wir nicht mehr zusammen sind.
Sie macht eine wegwerfende Handbewegung und wechselt das Thema. Nicht, weil sie mich mit ihrer Frage nicht verletzen will, sondern weil es ihr gleichgültig ist. Wie alle anderen denkt sie, dass diese völlig absurde Beziehung von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. Sie fragt nicht, warum Schluss ist. Sie kann sich einfach keinen anderen Grund vorstellen, außer dass Julien die „Sache“ beendet hatte. Für meine Mutter war Julien über zwei Jahre lang ein kleines, aber lästiges Problem an der Seite ihrer Tochter. Wie ein dicker Pickel auf der Nase, oder Schwangerschaftsstreifen an der Hüfte. Nun ist sie froh, dass es ohne größeren Aufwand wieder verschwunden ist.
Ich will ihr sagen, dass Julien kein Problem ist. Ich liebe ihn trotz allem noch. Und es tut so verdammt weh. Warum nimmt sie mich nicht ernst? Warum nimmt mich hier niemand ernst? Ich kann es nicht länger verhindern, Tränen schießen mir in die Augen. Meine Lippen beben, dass ich heule, ist nicht zu übersehen. Das Schweigen um mich herum kann ich nicht ertragen. Es gibt soviel zu sagen. Ich drücke mit Zeigefinger und Daumen die oberen Nasenflügel fest zusammen. Das soll die Tränen aufhalten, ich habe es mal bei einer Schauspielerin gesehen. Sie hatte für eine dumme Rolle den Fernsehpreis bekommen, und wollte nicht vor Hunderten von Kameras losplärren. Das kann ich verstehen. Weinen ist so schwach, und ich fange so schnell an zu weinen.
Ich sehe meiner Mutter an, dass sie sauer ist. Als Dank für die vergangene Woche, in der sie mit den Vorbereitungen für diesen Tag bis an ihre Grenzen gegangen ist, hatte sie wohl mehr von mir erwartet. Es tut mir leid. Es tut mir nicht leid. Ich spüre ein beklemmendes Gefühl in mir hochsteigen. Es krallt sich fest, schnürt mir die Luft ab. Gleichzeitig überfällt mich ein unheimliches Verlangen, wegzurennen. Ich fühle mich von den Personen, die ich schon so lange und doch überhaupt nicht kenne, ausgeschlossen. Ich will weg. Ich weiß, dass ich nicht weglaufen werde. Ich möchte zu Julien. Ich überlege, was er jetzt gerade tut, in diesem Moment. Ob er an mich denkt. Ob er gerade isst, was er trinkt. Ob er diskutiert, lacht oder singt. Ich will wissen, ob er gerade mit seiner Freundin schläft, ich will wissen, ob er wild ist oder sie zärtlich liebt.
Ich will wissen, wie vertraut sie sich sind, ob er genauso in ihr Ohr flüstert wie in meins. Worüber reden sie? Vermisst er mich?
Ich reiche meinem Vater die Sahne. Ich habe schöne Hände, so weich und geschmeidig. Ob er ahnt, wo ich mit diesen Händen schon überall war? Julien hat mir Tiefen und Stellen gezeigt, von denen ich nicht wusste, dass sie im weiblichen Körper existieren. Ich habe ihn mit meinen Händen geknetet, gestreichelt, massiert und geliebt. Manchmal habe ich mich in seinen Schoß gelegt und einfach nur geträumt. Ich mochte das.
Wir haben uns fast immer bei ihm getroffen. Als Julien mein Zimmer zum ersten Mal sah, musste er laut lachen. Er fragte, wie ich mich in diesem Kinderzimmer wohl fühlen könnte.Er war fasziniert von dem Rollo mit gelben Blümchen, das genau zur Bettwäsche passt. Von der Bettwäsche, die zu den Bilderrahmen passt. Die Bilder darin sind lächerliche Motive ohne Sinn. Ich habe ein paar Bücher, die man in meinem Alter eben so liest. Nichts Bestimmtes. Mein Teppich ist mit der Tapete abgestimmt, alles passt zusammen. Ich habe keine eigenen Vorstellungen von meinem Zimmer. Ich habe diesen Raum zum Schlafen und Lernen. Ich verstehe den Begriff vom eigenen Reich nicht, mein Zimmer ist ständig für alle zugänglich. Meine Eltern klopfen nie an, fragen nie, ob sie stören. Aus diesem Grund küsse ich nur in meinem Zimmer. Mehr nicht. Außerdem wäre es mir peinlich, wenn meine Eltern mich hören würden. Die Wände in diesem kleinen Haus haben Ohren.
Ich kann ihr nie mehr in die Augen sehen, wenn ich es ihr sage. Was wird sie antworten? Sie wird mir steif auf die Schultern klopfen und bestätigen, was ich nicht hören will. Ich will ihr nicht glauben. Was weiß sie denn schon? Ich will nicht, dass sie mich in den Arm nimmt. Sie wird es auch nicht tun. Jede Berührung zwischen ihr und mir ist peinlich. Wir wahren Distanz zueinander, von der ich nicht weiß, woher sie kommt. Ich traue mich nicht, sie zu berühren. Wir trösten uns nur mit kühlen Worten, die nicht helfen.
An dem Abend vor zwei Wochen kam meine Mutter spät nach Hause. Ich habe vergessen, wo sie war. Eigentlich komisch, die paar Male im Jahr, an denen sie abends ausgeht kann ich an einer Hand abzählen, aber ich weiß es wirklich nicht mehr. Ich hatte das Foto von Julien und mir in tausend kleine Stückchen zerrissen.
Zwei Jahre hing es bis dahin über meinem Kopfkissen. Ich lag auf dem Bett und betrachtete im Dunkeln den verstreuten Haufen auf dem Teppich. Als meine Mutter auf Zehenspitzen das Zimmer betrat, stellte ich mich schlafend. Das macht sie jeden Abend und ich auch. Ich bemerkte ein kurzes Stutzen und hörte, wie sie erleichtert seufzte. Dann holte sie ein Kehrblech aus der Küche und fegte die Schnipsel auf. Ich verstehe nicht, warum ich nicht aufgestanden bin, sie geschüttelt und angebrüllt habe. Aber ich war unfähig, mich zu rühren. Vor meinem geistigen Auge sah ich die Schnipsel zwischen Bananenschalen und faulen Eiern vergammeln. Sie sollten vor meinem Bett liegen bleiben. Damit ich sehe, dass es zu Ende ist, damit ich begreife, was geschehen ist. Damit ich es verstehe.
Ich war oft wütend auf Julien, aber oft war es auch egal. Wenn wir auf seinem Bett lagen, Musik hörten und uns mit Cola-Whiskey einen leichten Schwips antranken, war das Leben für mich in Ordnung. Ich fühlte mich leicht, sexy und unendlich geborgen. Wir tranken fast immer etwas, wenn wir zusammen waren. Julien brachte immer wieder neue Flaschen von seinem Job im Kiosk mit. Am Anfang wollte ich einfach alles einmal probieren, später wurde ein festes Ritual daraus, auf das ich mich fast genauso freute wie auf Julien.
Ich schlief fast immer angetrunken mit ihm, weil es mir einfach mehr Spaß machte. So habe ich mich nie vor ihm geschämt. Und egal was er tat, ich war verrückt nach ihm.
In der Kindheit unserer Mütter war nahezu alles ein Tabu. Ihre verklemmte Jugend hat sie nahtlos auf meine Schwester und mich übertragen. Bis zu meinem vierzehnten Lebensjahr hat meine Mutter ihre Damenhygiene im Badezimmer versteckt. Wenn ich doch mal einen eine Binde fand, nahm sie es mir mit einem hektischen „nur für Mamas“ wieder weg. Dann bekam ich selbst meine Tage und sie drückte mir eine von diesen schrecklichen Wattedingern, die beim Gehen in der Hose rascheln, in die Hand.
Als vor vier Monaten meine Tage ausblieben, malte ich diese unförmigen, flauschigen Wattestreifen rot an und schmiss sie in den kleinen Toilettenmülleimer. Meine Mutter weiß, wann ich meine Regel bekomme und wäre stutzig geworden, Mitte des Monats keine Binden im Mülleimer vorzufinden. Ich wusste vom ersten Moment an, dass ich schwanger war und etwas unternehmen musste. Aber ich tat nichts. Meine Regel blieb das zweite Mal aus und ich hoffte weiter auf ein Wunder, das es nicht gab. Ich stritt weiter mit meiner Mutter, lachte mit meiner Freundin, schlief mit Julien und ging zur Schule. Alles war wie immer und doch völlig anders. Erst als ich zum dritten Mal kein Blut entdeckte, griff ich zum Telefon.
Einen Tag später saß ich bei irgendeinem Frauenarzt und war keinen Augenblick überrascht, als er mir sagte, dass ich bereits in der zehnten Woche war.
Die Zeit bis zum Abbruch verging langsam. Ich hatte keine Angst, ich war nicht traurig, nicht wütend oder nachdenklich. Ich fühlte nichts. Wie betäubt verbrachte ich die nächsten zwei Wochen bis zum Termin. Am Tag des Eingriffes schwänzte ich die Schule. Während der Arzt das fünf Zentimeter große Leben aus mir heraussaugte, habe ich zur Decke gestarrt und vor Schmerzen geschrieen. Ich habe innerlich gebetet, Gott angefleht, es möge bald vorbei sein, obwohl ich nicht glaube, dass es ihn jemals gab.
Seit diesem Tag frisst sich unaufhörlich ein Loch in mein Herz. Es wird immer größer und verschlingt jedes Gefühl, jede Regung und jeden Gedanken in mir. Ich weiß nicht, ob meine Entscheidung richtig oder falsch war. Ich weiß gar nicht, ob ich mich überhaupt entschieden habe. Ich weiß nichts mehr. Wer und was bin ich? Und wo bin ich? Warum lebe ich? Diese Fragen beschäftigen mich mehr denn je.
Nachher, wenn alle Gäste gegangen sind, werde ich beim Abwasch helfen. Im Bett werde ich mir die Decke bis über den Kopf ziehen. Die Dunkelheit um mich herum ist so friedlich und schön. Niemand kann mich sehen und erreichen, keine Fragen stellen. Unter der schützenden Decke muss ich nicht lügen, nichts erzählen, nicht zuhören. Ich bin einfach nicht mehr da.