'Deutschstunde' - Kapitel 01 - 05

  • Ich habe bis jetzt die ersten drei Kapitel gelesen und muss euch Recht geben. Bei Lenz entstehen die Bilder von ganz allein. Gerade ich, die hier im Norden wohnt, kann mir ganz wunderbar den Vater vorstellen, wie er bei jeglichem Wetter mit dem Radel über den Deich fährt.


    Ab und zu kommen die Gedanken Siggis im Aufsatz drin vor. Ich finde, dass ist eine gute Verknüpfung zum eigentlichen Schreiben der Strafarbeit.


    Besonders hat mir die Szene mit dem Maler gefallen, als er die Mühle malt und dabei mit Balthasar spricht. Die ganzen Farben und Beschreibungen fand ich sehr ansprechend und doch verwirrend, weil ich doch nicht sagen könnte, was jetzt eigentlich genau auf der Leinwand abgebildet ist.

    Die Geschichte ist auf ihre eigene Art spannend.
    Wie entwickelt sich die Beziehung zwischen Jepsen und Nansen?
    Ist es so, dass Jepsen die Pflicht nicht nur erfüllen muss, sondern auch will? (--> Deswegen Freuden der Pflicht??)
    Könnte er nicht ein Auge zudrücken? (schließlich kennen sich die beiden seid ihrer Jugend und Nansen hat ihm das Leben gerettet!)
    Welche Rolle spielt Siggi? Wird er Vaters Komplize oder hilft er dem Maler? Zweiteres halte ich für wahrscheinlicher. Irgendwo wird nämlich angedeutet, dass Siggi sein Versteck in der Mühle kennt.
    Und warum sitzt Siggi überhaupt in einer Anstalt für schwererziehbare Jugendliche? Die Frage klärt sich bestimmt am Ende des Aufsatzes, den Siggi schreibt.


    Die Szene mit den Möwen fand ich irgendwie merkwürdig. Als Addi fast gestorben wäre... ziemlich heftiger Möwenangriff. Und warum sammeln die überhaupt Möweneier?? Zum essen?


    Sprachlich ist mir noch aufgefallen, dass Siggi gerne übertreibt:

    Zitat

    "um pro Woche, sagen wir mal, bis zu 1200 Psychologen abzusetzen"
    "sie hatten eine sehr große Wohnstube [...], in der min. 900 Hochzeitsgäste Platz gehabt hätten"
    "dreißig Meter langes Ungestüm" = Sofa


    Verdeutlicht wunderbar die kindliche Sichtweise.


    Und noch eine Andeutung auf die Nazis in Bezug auf den Vater:

    Zitat

    "Immer auf dem Kamm des Deiches entlang, auf dem schmalen Zwangskurs, der sich da braun im flachen Gras abzeichnete"


    Zu Geli:
    Du fragtest, ob Siggi Perfektionist oder Träumer sei, weil er nicht weiß, wie er mit dem Aufsatz beginnen soll.
    Ich glaube, er ist beides. Einerseits will er unbedingt die richtigen Worte finden und andererseits schweift er dann immer mit den Gedanken ab, guckt aus dem Fenster etc. Ich glaube auch, dass es schwer für ihn ist das Vergangene (was wir ja noch nicht wissen) zu verarbeiten.

  • Zitat

    Original von Morgaine
    Zu Geli:
    Du fragtest, ob Siggi Perfektionist oder Träumer sei, weil er nicht weiß, wie er mit dem Aufsatz beginnen soll.
    Ich glaube, er ist beides. Einerseits will er unbedingt die richtigen Worte finden und andererseits schweift er dann immer mit den Gedanken ab, guckt aus dem Fenster etc. Ich glaube auch, dass es schwer für ihn ist das Vergangene (was wir ja noch nicht wissen) zu verarbeiten.


    Ich hatte beim Lesen den Eindruck, dass bei ihm bei all den Nachdenken über die Freude an der Pflicht sein Bild von seinem Vater ins Wanken gerät, weil er diese Handlungen zu hinterfragen beginnt.


    Ich hatte dabei auch immer den Waldheimskandal im Hinterkopf, wo der österreichische Präsidentschaftskandidat Waldheim 1986 mit seiner Vergangenheit in den Kriegsjahren konfrontiert wurde und in einem Fernsehinterview immer beteuert hatte nur seine Pflicht getan zu haben.
    Dieser Wahlkampf hat in Österreich dazu geführt die Rolle Österreichs unter Naziherrschaft zu überdenken.
    Wodurch bei mir diese Assoziation bei Siggis Aufsatz sofort entstanden ist.


    Kapitel V:


    Das angesprochene Verhalten der Mutter deute ich eher dahingehend, dass sie Siggi als Verbündeten für sich gewinnen will und er daher keine Strafe erhält, sie aber verhindert, dass er die Lebensmittel zu seinem Bruder bringen kann. Ich vermute, dass sie diese Verbindung gezogen hat.


    Mir ist vor allem noch nicht klar, weswegen die Mutter so handelt. Aus Überzeugung oder aus Angst?


    Interessant fand ich wie Jansen reagiert hatte. Er hat sofort geholfen ohne nachzudenken. Aber zwischen den beiden scheint es bereits eine Vorgeschichte zu geben. Siggi nennt ihn schließlich auch Onkel Jansen.

  • So- die Telekomiker haben die Störung beseseitigt und das I-Net wieder repariert, ich kann jetzt wieder mitschreiben.


    Unverständlich finde ich eure Interpretation S.49, Addy war tot.., da wird ein Sexualakt aus den Augen eines Kindes geschildert, das nicht weiß, was es beobachtet. Ich finde das eindeutig.


    Generell:


    Lenz verwendet eine Sprache in Bildern, die wir heute nicht mehr gewöhnt sind. Eine Sprache in Bildern ist für uns heute Fitzek- in Fernsehbildern visualisiert. Lenz visualisiert Ölgemälde- zwar moderne farbige Kunst, Nolde eben, aber langsame Bilder- stehende, neben-, nacheinander- und auch übereinanderstehende Bilder. Bilder die einzeln in Ruhe betrachtet werden wollen, nicht solche, bei denen eine Bildsequenz die andere mit 24 Bildern/sec verdrängt.


    Zu den vierhundert Fenstern, schaut mal hier. Es sieht doch wirklich so aus..

  • Zitat

    Original von beowulf
    So- die Telekomiker haben die Störung beseseitigt und das I-Net wieder repariert, ich kann jetzt wieder mitschreiben.


    Unverständlich finde ich eure Interpretation S.49, Addy war tot.., da wird ein Sexualakt aus den Augen eines Kindes geschildert, das nicht weiß, was es beobachtet. Ich finde das eindeutig.


    :gruebel
    Im Nachhinein (durch die folgenden Kapitel) hatte ich es als eine Art epileptischen Anfall interpretiert.


    Eindeutig erscheint es mir jedenfalls nicht. Der einzige Anhaltspunkt für einen Sexualakt wäre, dass Hilke Addi das Hemd wieder zuknöpft, als Siggi dazukam.


    Mir erscheint ein Anfall immer noch wahrscheinlicher.

  • Ich hab die ersten Seiten gelesen und bin beinahe in den ausladenden Beschreibungen versunken. Manchmal habe ich das Gefühl, dass Siggi von seinen Gedanken überflutet wird und sich nicht auf eine Sache direkt konzentrieren kann. Deswegen hatte er vielleicht auch Probleme einen Anfang für den Aufsatz zu finden. Teilweise verliere ich aber den roten Faden, weil ich mit Siggis Emotionen einfach davonschwimme. Manchmal sind die Beschreibungen aber so ausschweifend, dass sie mich beinahe langweilen.


    Sein Vater ist ja auch so ein Ding für sich. "Die Freuden der Pflicht" als Thema für einen Aufsatz find ich schon sehr erdrückend, aber wie Siggis Vater seine persönliche Pflicht erfüllt, empfinde ich als dumm und stumpfsinnig. Ständig mit seinem Fahrrad zu dem Künstler zu fahren, um zu überprüfen, ob das Malverbot auch wirklich eingehalten wird, stellt sich mir Siggis Vater einfach als Objekt, als programmierte Maschine dar, ohne die Fähigkeit Sachverhalte zu hinterfragen.


    Trotz der überwältigenden Flut an Beschreibungen, Personifizierungen, Metaphern und anderen stilistischen Mitteln, finde ich den Satzbau allerdings wunderschön.
    Das Buch steht bisher in einem krassen Gegensatz zu meiner bevorzugten Kinder- und Jugendliteratur, aber ich finde die Abwechslung wunderbar.



    Ich bin mal gespannt, wie es sich weiter entwickelt.

  • Es hat etwas gedauert aber ich habe die ersten 5 Kapitel jetzt auch gelesen. Das Buch zwingt einen wirklich zur Konzentration und verhindert jegliches runterlesen. Ich poste jetzt erst mal schnell meine Gedanke bevor ich sie vergesse und lese danach eure Postings.


    Das erste was auffällt ist natürlich die ungewöhnliche Sprache und Ausdrucksweise. Lenz' Beschreibungen sind ausführlich und aneinandergereiht wie Aufzählungen (er benutzt sehr häufig das Komma aber selten das "und" zur Verbindung), er vermeidet partout die wörtliche Rede in Anführungszeichen und er gibt seinem jungen Protagonisten eine sehr verzerrte Wahrnehmung in Begriff auf Größen- und Zahlenverhältnisse (1200 Psychologen, 400 Fenster, 30m langes Sofa etc.).


    Im ersten Kapitel kamen mir zuerst die Fragen wie alt Siggi denn nun ist (Jugendgefängnis) und was er überhaupt verbrochen hat? Über weite Teile der ersten Kapitel dachte, ich Siggi ist 1943 vielleicht 10 Jahre alt, aber nach der Art und Weise wie er Jutta betrachtet und über sie denkt muss ich meine Schätzung wohl erhöhen: ca. 12 Jahre. Von Jutta wiederum bekomme ich den starken Eindruck, dass sie sich zu Addi hingezogen fühlt, ständig starrt sie ihn an und ist um ihn herum. Siggis Verbrechen wird im Lauf von Kapitel 4 oder 5 geklärt: Er sitzt offenbar wegen des Diebstahls der Bilder von Nansen, obwohl er diese ja (wie man aus dem Klappentext weiß) nur retten wollte.


    Aber machen wir chronologisch weiter. Siggi setzt sich offenbar das erste mal bewußt mit dieser Phase seiner Vergangenheit auseinander und versinkt völlig in seiner "Strafarbeit". Vielleicht sieht er hier unbewußt die Chance für sich etwas zu begreifen oder verarbeiten was er bisher verdrängt hatte. Ich mag die Art wie er die Psychologen betrachtet, die so versessen darauf sind alles zu analysieren und zu verstehen, aber Siggi will gar nicht verstanden werden.


    Siggis Vater ist ein merkwürdiger Geselle. Er erledigt seine Pflicht. Sowohl als Polizeiposten als auch als Ehemann und Vater. Er bestraft seinen Sohn, nicht weil er das für sinnvoll hält, sondern weil er glaubt, dass es das ist was seine Frau von ihm erwartet. Als diese plötzlich nicht mehr interessiert ist, ist er verwirrt. Also steckt er alle Energie in seinen Auftrag aus Berlin. Einerseits bekommt man zwar schon den Eindruck, dass es ihm unangenehm ist, andererseits versteckt er sich allzu bereit willig hinter den Anordnugen die er sich "doch nicht ausgedacht hat". Könnte es vielleicht sein, dass er Nansen insgeheim sogar haßt, weil dieser ihn damals in der Kindheit gerettet hat? Dass er sich nicht in jemandes Schuld fühlen möchte, es als eine Art Demütigung empfindet? Man wird noch mehr über diesen Charakter lernen müssen.


    Weiter zur Mutter. Fast noch eigenartiger. Der erste Eindruck ist: Hart, unnachgiebig, offenbar stark vom Nationalsozialistischem Geist geprägt (geradezu krankhafte Abneigung gegen "Zigeuner" und "Kranke"), der Sohn wird streng gezüchtigt, der andere Sohn, der Versager, der Flüchtling, der Ängstliche wird als verloren aufgegeben. Er bekommt, was er verdient. Und doch ist sie plötzlich so sanft und fast schon freundlich zu Siggi, als sie bemerkt, dass er die Lebensmittel stehlen wollte. Warum? :gruebel


    Die einzige Szene die mich etwas gestört hat, war die Geburtstagsfeier, als Siggi plötzlich alle als Meeresgetier sieht und darob sogar erschrickt. Da kam mir dann doch der Gedanke: Was wollte uns der Autor damit sagen? :gruebel Dass Siggi ähnlich viel Fantasie hat wie der Maler, der Riesen sieht, die die Windmühle antreiben wollen oder mit seinem unsichtbaren Kritiker Balthasar streitet? Da hat sich mir Sinn und Zweck noch nicht wirklich erschlossen.


    So... ich lass es jetzt erst mal gut sein und lese mir eure Kommentare durch. Dann fällt mir bestimmt noch etwas ein. ^^

    „Furcht führt zu Wut, Wut führt zu Hass. Hass führt zu unsäglichem Leid.“

    - Meister Yoda

  • So, die Szene während des Möwenangriffs. Ich muss sagen, ich hatte sie auch zuerst sexuell interpretiert, war dann aber auch schon überrascht, dass Hilke gar nicht sauer oder aufgeregt oder sonstwas war, als da plötzlich ihr kleiner Bruder mitten reinplatzte. Nach Kapitel 4 bin ich jetzt eher der Meinung, dass Addi auch dort schon einen eppeleptischen Anfall hatte und Siggi das einfach nicht zu interpretieren wusste. Vielleicht ist aber auch ein bißchen was von beidem gemeint, wer weiß? :gruebel

    „Furcht führt zu Wut, Wut führt zu Hass. Hass führt zu unsäglichem Leid.“

    - Meister Yoda

  • Sooo, jetzt bin ich auch dabei! :wave


    Zitat

    Original von geli73
    Ich finde, dass man dieses Buch gar nicht schnell lesen kann, dadurch, dass die Sätze so lang und verschachtelt sind. Mir ist außerdem aufgefallen, dass Lenz ganz viele Farben benutzt und Personifizierungen.


    Ja stimmt, die gleiche Empfindung hatte/habe ich auch und ich habe mich in diesem ersten Teil mehrmals dabei erwischt, wie ich einzelne Absätze bewusst langsam oder wiederholt gelesen habe. Nicht unbedingt, weil ich das Gefühl hatte, den Sinn nicht zu verstehen, sondern weil der Stil so anders ist und ich nichts von der eigen(artig)en Atmosphäre verpassen wollte ;-)


    Zitat

    Original von geli73
    Nansen soll übrigens den Maler Emil Nolde darstellen.


    Oh, Nolde kenne ich nur dem Namen nach, aber wikipedia gibt hier Aufschluss und die Parallelen sind wirklich unverkennbar (Absatz Nationalsozialismus), danke für den Hinweis! :wave


    Zitat

    Original von taciturus
    Kapitel III erschien mir sehr wirr und es war für mich recht schwer den Ereignissen am Strand zu folgen. Aufeinmal war Addi tot und kurz darauf haben sie gemeinsam gegen die Möwen angekämpft.


    Ich habe es so verstanden, als hätte Siggi das nur aus seiner Perspektive so wahrgenommen, dass Addi tot ist, weil er am Boden liegt. Bzgl. der Krämpfe gebe ich dir Recht, ich habe sie auch als epileptische Anfälle verstanden.


    Zitat

    Original von taciturus
    Bei diesen ganzen Szenen hatte ich aber eher das Gefühl, dass hinter diesen Beschreibungen mehr steckt und damit eigentlich ein Bombenangriff geschildert werden sollte.


    Ist mir gar nicht in den Sinn gekommen, aber stimmt, du könntest recht haben!


    Die Figuren sind mir allesamt noch etwas suspekt und schwer einzuschätzen – bis auf Siggi, der zwar aktuell in dieser Erziehungsanstalt steckt, aber mir momentan der „normalste“ scheint... Und Maler Nansen erscheint mir trotz Balthasar auch vernünftig, aber sonst... Oh Graus... Mein bisheriger Eindruck (vereinfacht gesagt): Der Vater versteckt sich hinter den Beschlüssen aus Berlin und verrät damit seinen Lebensretter, dabei frage ich mich, wer in aller Welt es hätte merken sollen, wenn er zwei Augen zudrückt?!? Und dann die Szene mit der Prügel – wie schon jemand sagte, bislang ist der Vater ein Mitläufer und Befehlsempfänger wie er im Buche steht. Dem Sohn kommt es so vor, als würde die gefühlskalte Mutter es genießen, wenn er eine Tracht Prügel verabreicht bekommt, der ältere Sohn verstümmelt sich aus Verzweiflung und traut sich nicht zurück ins Elternhaus und Siggi, der jüngere, wird als Komplize jeden anderen Familienmitglieds für deren Zwecke missbraucht... :-(


    Erstaunt bin ich über den Witz, der immer wieder hervorkommt, hätte ich bei der doch recht beklemmenden Atmosphäre gar nicht erwartet. Zum Beispiel auf S. 10 „Charlie Friedländer, der begabt genug ist, nach Belieben blass, grünlich, jedenfalls alarmierend ungesund zu erscheinen, so dass alle Erzieher ihn spontan von jeder Arbeit befreien...“ :grin oder das bereits erwähnte Bild des Malers, das Möwen mit dem Antlitz von Siggis Vater zeigt :lache


    Die Beschreibung der Partygäste als Meeresgetier hat mich zuerst stutzen lassen, aber dann hat es mir gefallen, vor allem weil diejenigen auch so ähnlich beschrieben werden! *g* Ich muss allerdings gestehen, dass ich an Fluch der Karibik 2 denken musste... :pille


    „Die Freuden der Pflicht“ ... ist dieses Thema nicht an sich paradox???

  • Zitat

    Original von milla
    der ältere Sohn verstümmelt sich aus Verzweiflung und traut sich nicht zurück ins Elternhaus und Siggi


    Ich habe das mit Klaas so verstanden, dass er mit seiner Selbstverstümmelung (im Krieg) aus Sicht des Militärs bereits so etwas wie Fahnenflucht begangen hat. Dies wurde aufgedeckt und er ist dann tatsächlich desertiert. Da steht doch höchstwahrscheinlich die Todesstrafe drauf, oder? Und Klaas kann wohl seine Eltern und insbesondere die Pflichterfüllung seines Vaters gut einschätzen...

  • Zitat

    Original von taki32


    Ich habe das mit Klaas so verstanden, dass er mit seiner Selbstverstümmelung (im Krieg) aus Sicht des Militärs bereits so etwas wie Fahnenflucht begangen hat. Dies wurde aufgedeckt und er ist dann tatsächlich desertiert. Da steht doch höchstwahrscheinlich die Todesstrafe drauf, oder? Und Klaas kann wohl seine Eltern und insbesondere die Pflichterfüllung seines Vaters gut einschätzen...


    Auf die Selbstverstümmelung steht im Militärstrafgesetzbuch (auch heute noch) bereits eine hohe Strafe- die Flucht aus dem Lazarett ist definitiv Desertion, darauf gab es im Krieg nur eine Antwort- Todesstrafe- in der Regel Erhängen.

  • So, ich hab diese Teile nun endlich beendet.


    4. "Der Geburtstag"
    Siggis Übertreibungen sind mir auch schon aufgefallen. Das wirkt irgendwie witzig, aber auch kindlich.


    S.69, die Szene mit der Katze fand ich klasse. (Siggi gibt der Katze Milch, die leckt den Teller ab, usw.) Wirklich wie aus dem Leben gegriffen.


    Manchmal habe ich den Eindruck, dass Lenz die Farben inflationär benutzt, dieser "weiße Klare", der so oft getrunken wurde und was in meinen Augen nicht passt, hat mich schon fast genervt.


    Der Vorfall mit Addi, ich hab es auch als epileptischen Anfall gesehen, ich vermute mal, dass das später auch noch beim Namen genannt wird.


    Dass Jens Jepsen dem Maler Nansen zu Dank vrpflichtet ist, kommt hier auch zur Sprache und wird auch von anderen erwähnt. Ebenso ist Nansen Dr. Busbeck zu Dank verpflichtet, mal sehen, ob da noch was nach kommt.


    Teil 5: Verstecke
    Bruder Klaas flieht aus dem Gefangenenlazarett und ruckzuck, sind auch die Männer in schwarzen Mänteln da, die ihn suchen.


    Die Fotos an der Wand in Jepsens Haus erzählen so nebenbei seine Lebensgeschichte, diese Art, die Vergangenheit einfließen zu lassen, fand ich geschickt gelöst.


    Ich war erstaunt, dass Gudrun Jepsen ahnte, dass Siggi seinen Bruder versteckt hält, mal sehen, ob sie ihn verrät. Jens kennt seinen Sohn nicht so gut, er bemerkt nicht, dass Siggi etwas zu verbergen hat.


    Nansen malt heimlich, und nun ist Siggi in der Klemme, einerseits ist er ihm zu Dank verpflichtet, weil er seinen Bruder versteckt, andererseits hat er seinem Vater versprochen, ihm heimliche Malereien zu melden.


    Diese Geschichte ist bisher gekennzeichnet durch Verpflichtungen, irgendwie ist alles miteinander verwoben.


    Dass Jens Jepsen nur seine Pflicht erfüllt, kann man so oder so sehen. Ich hab mich auch wie Milla gefragt, wer denn wohl die Einhaltung kontrolliert hätte. Wenn er nur wenige Bilder abgeliefert hätte, wer hätte das bemerkt? Und dass die Bilder verbrannt wurden, ist wirklich ein Jammer.


    Übrigens fand ich Siggis Reaktion auf Klaas' Sturz vom Dachboden der Mühle sehr seltsam, fast wieder kindisch. Anstatt panisch zu reagieren oder Angst zu haben, will er ihm nur das Brot in den Mund stopfen. Ich kann kaum glauben, dass auch ein Kind so reagiert hätte. Evtl. Ist Siggi geistig etwas zurück geblieben? :gruebel

  • Bin noch nicht ganz so weit, da ich schon auf den ersten Seiten gemerkt habe, dass ich dieses Buch sehr langsam lesen muss. Vom Stil und den schönen, langen, verwobenen Sätzen bin ich ganz hingerissen, so was bildhaftes hab ich schon lange nicht mehr gelesen. Klischees finde ich keine, die nordische Atmosphäre - windig, regnerisch, stürmisch und etwas eigen - wird gut transportiert, man fühlt es richtig.


    Habe heute das dritte Kapitel beendet. Die meisten Figuren finde ich wunderbar dargestellt, auch wenn ich aus manchen noch nicht ganz schlau werde. Der Maler ist mir sympathisch, wie er mit Balthasar redet und die Welt aus der Perspektive eines Künstlers betrachtet, dass hat Siggi an einer Stelle schön beschrieben: "..., ich brauchte gar nicht seinem Blick zu folgen, um zu wissen, daß er seine Aufmerksamkeit an das phantastische Volk verloren hatte, dass sein Auge überall erweckte: Regenkönige, Wolkenmacher, Wellengänger, Steuerleute der Luft, Nebelmänner, die großen Freunde der Mühlen, des Strandes und der Gärten: sie erhoben sich und zeigten sich ihm, sobald sein Blick sie lossprach von ihrem geduckten, heimlichen Leben." :anbet


    Der Vater scheint wirklich das perfekte Thema für einen Aufsatz über die "Freuden der Pflicht" zu sein. Nachdem er Siggi verprügelt hat, ist er "hilflos" und weiß "ohne Auftrag" nichts mit sich anzufangen. Ich bin gespannt, wie sich das noch entwickelt, ob er irgendwann nicht doch ein wenig Rückgrat zeigt. Siggi scheint sich seine Anerkennung ja dennoch stark zu wünschen.


    Zitat

    Original von Morgaine
    Zu Geli:
    Du fragtest, ob Siggi Perfektionist oder Träumer sei, weil er nicht weiß, wie er mit dem Aufsatz beginnen soll.
    Ich glaube, er ist beides. Einerseits will er unbedingt die richtigen Worte finden und andererseits schweift er dann immer mit den Gedanken ab, guckt aus dem Fenster etc. Ich glaube auch, dass es schwer für ihn ist das Vergangene (was wir ja noch nicht wissen) zu verarbeiten.


    Hm, ich denke auch, dass da viele Dinge zusammen kommen, einerseits kommt er gedanklich vom Thema ab, andrerseits sind es auch einfach zu viele Eindrücke, die auf ihn einwirken und mit dem Aufsatz sieht er eine Möglichkeit, alles, was er vielleicht verdrängt hatte, wieder nach oben zu holen und zu ordnen. Er beschreibt es ja irgendwo selber als eine Art Zwang, dem er dabei unterliegt, als hätte ihn jemand auf ein "wippendes Sprungbrett" geschickt, von dem er springen muss und tauchen, bis er alles hochgebracht hat.

  • Ich komme leider momentan nicht soo zum Lesen, bin erst bis Mitte des 4. Kapitels gekommen. Was ich bisher gelesen habe, fasziniert mich, die bild- und farbenreiche Sprache spricht mich an und lässt mich eintauchen in die Geschichte. Danke an alle für die Anregung, dieses Buch zu lesen, sonst wäre es wohl noch ewig bei mir rumgesubt.


    Zitat

    Original von geli73


    Manchmal habe ich den Eindruck, dass Lenz die Farben inflationär benutzt, dieser "weiße Klare", der so oft getrunken wurde und was in meinen Augen nicht passt, hat mich schon fast genervt.


    @geli: spontan denke ich da an einen Anisschnaps, der erst klar ist und sich unter Zugabe von Wasser milchig-weiß färbt. Ich kenne das aus dem Norden unter dem Namen "Küstennebel".

    :lesendR.F. Kuang: Babel


    If you don't make mistakes, you're not trying hard enough. (Jasper Fforde)

  • Nachdem ich das Buch nicht einfach runterlesen kann, weil ich befürchte, sonst eines der wunderbaren Bilder oder eine Wortschöpfung zu verpassen, bin ich auch erst bis zur Mitte des 4. Kapitels gekommen. Die Geschichte entfaltet sich langsam, behutsam. Ich bin gespannt, was sich noch alles darin verbirgt. Einige Personen (der Vater, der Maler, Dr. Busbeck) wurden schon etwas ausführlicher vorgestellt. Die Mutter ist für mich noch ein Geheimnis.


    Mr Ida und ich lieben die Nordsee. Einige Passagen mit Landschaftsbeschreibungen oder auch, wie der Vater auf dem Rad gegen den Westwind kämpft, habe ich Mr Ida vorgelesen. Wir hatten beide die Bilder vor Augen *schwelg*


    Ich bin froh über die Leserunde!

  • Hallo,


    auch mir bleibt nicht so viel Zeit zum Lesen, wie ich sie gerne hätte. Deshalb bin ich jetzt bis zur Mitte von Kapitel 5 gekommen.


    Inzwischen habe ich mich an Lenz’ Stil gewöhnt. Er hat eine sehr gute Beobachtungsgabe und kann kleine alltägliche Vorkommnisse treffend und detailgetreu beschreiben. Dadurch ein langsamer und ruhiger Fluss, dem ich beim Lesen gut folgen kann.


    Mein derzeitiger Eindruck der Charaktere:


    Siggis Vater erfüllt seine Pflicht nicht nur als Polizist von Rugbüll, sondern auch als Vater und Ehemann. Er scheint in der Pflichterfüllung völlig aufzugehen. Bei der Ablieferung der Bilder hat er sicherlich einen Ermessensspielraum. Wahrscheinlich hätte es niemand bemerkt, wenn er weniger abgegeben hätte.


    Siggis Mutter ist mir zutiefst unsympathisch. Zwischen den Eltern herrscht eine kalte Atmosphäre. Siggi schein nicht viel Liebe und Zuneigung dort zu bekommen. So wie die Mutter auf die Flucht von Klaas reagiert scheint sie auch besonders gehorsam gegenüber der Obrigkeit und pflichtbewusst zu sein. Vielleicht steckt sie am Ende hinter dem Pflichtbewusstsein des Vaters.


    LG, Frühlingsfee

  • So, nun habe ich das 5. Kapitel beendet. Ihr habt hier schon vieles geschrieben, was mir so oder so ähnlich auch aufgefallen ist. :-)


    Meine Eindrücke von den Figuren:
    Siggi kann ich bisher kaum einschätzen. Einerseits lässt er sich in den Kapiteln 2-5 von Vater, Mutter und Bruder für deren Zwecke einspannen und tut ohne zu fragen, was man ihm sagt; allerdings ist er noch klein – laut Klappentext 10 Jahre. Andererseits landet er später in einer Anstalt für schwer erziehbare Jugendliche. Das scheint darauf hinzudeuten, dass er nicht nur die reine „Freude an der Pflicht“ hatte, vielleicht irgendwann anfing unbequeme Fragen zu stellen und auch das eine oder andere getan hat, das nicht in den vorgesehenen Rahmen passte. Ich bin auf seine Entwicklung gespannt.


    Der Vater Jens Ole Jepsen bleibt trotz ausführlicher Beschreibungen und Bilder für mich seltsam farblos. Er ist pflichtbewusst und versteckt sich hinter den Anordnungen aus Berlin. Bei ihm scheint alles Gewohnheit zu sein, ein tägliches Einerlei. Er stellt keine Fragen. In dieses Bild passt es nicht, dass er energisch und eindringlich den kleinen Siggi zu seinem Verbündeten bei der Überwachung des Malverbots machen will. Allerdings fällt es ihm schwer, zu dem Maler aufzubrechen, um ihm das Malverbot mitzuteilen.


    Die Mutter wirkt kaltherzig, die familiären Verhältnisse unterkühlt. Sie zieht unsichtbare Fäden. Einerseits sagt sie ihrem Mann klar, was zu tun ist, wenn Klaas auftaucht, andererseits verrät sie nichts davon, dass Siggi Lebensmittel für seinen Bruder mitnehmen wollte. Ich bin ein wenig ratlos.


    Der Maler ist sympathisch und anders als der Vater bunt und voller Leben. Sein unsichtbarer Kritiker Balthasar – herrlich! Und sein Mantel, der „ … blaue Mantel mit den unerschöpflichen Taschen … Manchmal, an gewissen Sommerabenden … konnte man auch den Eindruck haben, dass es lediglich der Mantel und nicht der Maler war, der da den Deich entlangwanderte und den Horizont inspizierte …“ – eine Metapher für Äußerlichkeiten? Natürlich hört er nicht auf zu malen. Und er bringt den verletzten Klaas unter, ohne viele Fragen zu stellen.


    Hilke wirkt besonnen und stabil. Mit Addis Krankheit kann sie gut umgehen. Die Mutter setzt Addi einfach vor die Tür und will nichts mit ihm zu tun haben. Wie wird es mit den beiden weiter gehen? Die Schwester besucht Siggi offensichtlich manchmal in der Erziehungsanstalt; während der Strafarbeit werden Ablenkungen wie diese Besuche von Siggi ferngehalten.


    Klaas taucht einfach auf und setzt stillschweigend voraus, dass sein kleiner Bruder ihm hilft. Weiß er nicht, was er ihm aufbürdet? Über die Hintergründe der Selbstverstümmelung und der Flucht erfährt man noch nichts. Hatte er „nur“ Angst im Krieg oder gab es noch andere Gründe?


    Ich muss das Buch langsam lesen und mir viele Formulierungen und Bilder sozusagen auf der Zunge zergehen lassen. Zwischen all der Poesie sind immer wieder Sätze wie „will ich wohl meinen“ eingeflochten, die mich an die Rahmenhandlung und die Strafarbeit erinnern.

  • @ Ida: Du hast die Figuren treffend zusammen gefasst, ich stimme Dir voll und ganz zu. Mich würde so langsam auch interessieren, warum Siggi in der Anstalt ist, aber bisher habe ich nur Vermutungen und ich bin bereits bei Kapitel 12.


    Schön finde ich jedoch, dass offene Fäden immer wieder zusammen geführt werden, das ist mir im 2. Abschnitt aufgefallen. Also werden wir bestimmt auch noch mehr darüber lesen können :-)

  • Zitat

    Original von taki32


    Ich habe das mit Klaas so verstanden, dass er mit seiner Selbstverstümmelung (im Krieg) aus Sicht des Militärs bereits so etwas wie Fahnenflucht begangen hat. Dies wurde aufgedeckt und er ist dann tatsächlich desertiert. Da steht doch höchstwahrscheinlich die Todesstrafe drauf, oder? Und Klaas kann wohl seine Eltern und insbesondere die Pflichterfüllung seines Vaters gut einschätzen...


    Genau, aber ist das nicht furchtbar traurig? Wenn man sich in so einer lebensbedrohenden Situation noch nicht einmal an die eigenen Eltern wenden kann? Und noch nicht mal um sie zu schützen, sondern (so scheint es mir), weil er Angst vor einem Verrat hat... :-(

  • Zitat

    Original von milla
    Wenn man sich in so einer lebensbedrohenden Situation noch nicht einmal an die eigenen Eltern wenden kann? Und noch nicht mal um sie zu schützen, sondern (so scheint es mir), weil er Angst vor einem Verrat hat... :-(


    Aber wieso, der Vater gehorcht doch nur seiner Pflicht... :grin