In Dänemark gibt es eine Radio-Station, die mit einem Hakenkreuz unter einer Palme wirbt. Es ist Radio Oasen, der Sender der Nationalsozialisten. Es hat eine offizielle Sendelizenz als Lokalradio und bekommt staatliche Zuschüsse. 2002/2003 gab es eine Sendung über die ‚Auschwitz-Lüge’.
Diese Sendung und der Umstand, daß die Autorin, eine Lehrerin, einen Kollegen hatte, der vor den Nazis flüchten mußte, einige Zeit in Israel lebte und dann nach Dänemark zurückkam, scheint der eigentliche Anlaß zu diesem Jugendroman gewesen zu sein.
Das Thema ist wichtig, interessant und spannend. Die Geschichte an sich ist gar nicht schlecht ausgedacht.
Jaco ist ein Junge aus Berlin. Eigentlich heißt er Hermann Jakobs. Er ist gerade 18 geworden, kam weder mit seinen Eltern noch mit der Schule klar, wurde vor die Tür gesetzt. Draußen geriet er an Freunde, die sich als Neo-Nazis entpuppten. Jaco fühlt nur die Nestwärme und wird nach einigen halbbetrunkenen Randalier und Prügelaktionen, bei denen er passiver Zuschauer war, zum Schmierestehen bei einer nächtlichen Zerstörungsaktion auf einem jüdischen Friedhof mitgenommen. Die kleine Gruppe wird fast erwischt, da hilft nur noch die Flucht. Die guten Kumpels schicken ihn zu Gesinnungsgenossen nach Kopenhagen.
Auf der Fahrt lernt Jaco eine alte Frau kennen, Lis Ravn. Trotz seiner Angst vertraut er íhr genug, daß er sie, auch nachdem er bei den dänischen Nazis Unterschlupf gefunden hat, heimlich besucht. Lis erzählt ihm nicht nur von der Verfolgung der Juden und der deutschen Besatzungszeit in Dänemark, sondern gibt ihm auch die Tagebücher ihres zweiten Ehemanns, Hermann Waldmann, der über sechzig Jahre zuvor ebenfalls ein Flüchtling und Grenzgänger zwischen Deutschland und Dänemark war. Jaco liest die Tagebücher, zunächst voll Abwehr, dann immer faszinierter.
Von seinen Nazi-Freunden kann er sich dennoch nicht so recht distanzieren. Schützen sie ihn nicht vor der Polizei? Geben sie ihm nicht ein Heim, das ihm die eigenen Eltern vorenthalten? Auch die Bekanntschaft mit einem Norweger, der seine eigenen Probleme mit der deutschen Vergangenheit hat, überzeugt ihn noch nicht recht. Da lernt er die 17jährige Ruth kennen, Lis’ Enkelin. Als in Radio Oasen eine Sendung über die ‚Auschwitz-Lüge’ gebracht werden soll, hat Ruth eine brillante Idee. Jaco muß sich endlich wirklich entscheiden, auf welcher Seite er steht.
Kann man dieses Buch empfehlen?
Die Geschichte ist, wie oben geschrieben, grundsätzlich nicht schlecht. Die Informationen über die Nationalsozialisten in Dänemark und Norwegen, alte wie neue, sind solide und wichtig, gerade weil man davon üblicherweise wenig hört. Ein Glossar im Anhang gibt noch zusätzliche Auskünfte.
Allerdings überzeugt die Handlung beim genaueren Hinsehen nicht so ganz. Jaco ist ein unglücklicher Jugendlicher, kein überzeugter Neo-Nazi. Sein Problem ist seine vage Haltung zu allem und jeden, seine Unentschlossenheit und Entschlußlosigkeit. Er will dazugehören, weiß aber nicht genau, wo. Den ‚Nazi-Rummel’ findet er eigentlich albern, in den entsprechenden Kleidern und mit Glatze fühlt er sich verkleidet. Das allerdings wird eher behauptet, als wirklich aus der Person heraus entwickelt. Man muß es einfach hinnehmen, die Figur Jaco bleibt dadurch blaß.
Ein wenig mehr stören die Zufälle. Die Begegnung mit der alten Frau, einer der wenigen Auschwitzüberlebenden, die nicht nur umgehend den weichen Kern in Jaco erkennt und beschließt, sich seiner anzunehmen, die gleichlautenden Vornamen Hermann, die Begegnung mit dem norwegischen ‚Besatzungskind’ Kai, die zarte Liebesgeschichte mit Ruth. Jaco will gerettet werden und er wird auch gerettet.
Das alles ist ein wenig zu rosarot eingefärbt für meinen Geschmack.
Kontrastiert wird das mehr mit den Schrecken der Vergangenheit als mit den Schrecken der Gegenwart. Auschwitz ist das Horror-Element, nicht, wie man hätte erwarten können, die Schrecken, die ein schwacher und unreifer Jugendlicher mit sich und in sich erfährt, wenn er zu einer Gruppe Gleichaltriger stößt, deren einzige Antwort auf ihre problematische Umwelt Gewalt ist.
Über junge Neo-Nazis, ihr Verhalten und ihr Denken erfährt man tatsächlich kaum etwas. In dieser Beziehung hat die Autorin offenbar auch wenig Kenntnisse.
Das Buch ‚Mein Kampf’ z.B. muß man nicht mit einem verschimmelten Umschlag versehen, es findet sich in einwandfreiem Erhaltungszustand heutzutage nicht nur problemlos in Antiquariaten und Bibliotheken, sondern wird auch von den einschlägigen Organisationen zuhauf nachgedruckt. Regelrecht ärgerlich ist ein Dialog zwischen Ruth und Jaco, in dem ihm das Mädchen allen Ernstes erklärt, sie sei ‚Vierteljüdin’ (S. 113). Das ist Nazi-Diktion und Nazi-Denken. Nach jüdischem Recht ist Ruth ohnehin Jüdin, da ihre Mutter Jüdin war. Ihrem Paß nach ist sie entweder Deutsche oder Dänin, laut Roman lebt sie in Hamburg. Hier fehlt deutlich Grundwissen, bei der Autorin, den TestleserInnen, dem Lektorat.
Am besten gelungen und überzeugend sind die Tagebucheinträge des jungen Hermann Waldmann zwischen Dezember 1938 und Dezember 1943, durchgängig fiktiv und den Erzählungen des Kollegen der Autorin nachempfunden. Hier wird überaus anschaulich ein Leben auf der Flucht beschrieben. Darüberhinaus lenkt es den Blick auf eine Gruppe unter den Juden, die eher ein wenig vernachlässigt wird in Romanen, den Chaluzim, den zukünftigen Pionieren, die bestrebt waren, sich Kenntnisse in allen Bereichen der Landwirtschaft anzueignen, um sie dann bei der Besiedelung Palästinas einzusetzen. Hermann Waldmann ist nämlich auf dem Weg nach Palästina.
Bei diesem Thema aber wird es nun schwierig. Die Geschichte der Entstehung Israels wird nämlich an keiner Stelle hinterfragt. Israel ist allein der Ort der Rettung für die verfolgten Juden. Der Umstand, daß Hermann Waldmann, der sich dann in Uri Yaari umbenennt, in den Tagebüchern stets von Erez Israel spricht, macht die Sache noch schlimmer, denn hinter diesem Ausdruck wiederum verbirgt sich der große zionistische Traum von einem in puncto Grenzziehung höchst fragwürdigen ‚Großraum’ Israel. Unkritischer Umgang mit ideologischen Vorgaben wäre durchaus ein Vorwurf, den man hier erheben kann.
Dieser Gedankengang findet seine Fortsetzung dann auf den letzten acht Seiten des Romans. Sie sind wieder kursiv gedruckt, denn sie stammen aus dem Tagebuch. Nur daß es diesmal nicht der Hermann von 1943, sondern ein anderer, geläuterter Hermann, unser Jaco, sechzig Jahre später schreibt. Er und Ruth sind nach Israel gereist, in den Kibbuz Neot Mordechai in Nord-Galiläa, dem Ort, an dem Uri gelebt und gearbeitet hat und an dem er inzwischen auch begraben liegt.
Auf diesen acht Seiten wird ein wenig über die Frage v von Gewalt philosophiert, überall auf der Welt. Allerdings taucht Israel in dieser Rechnung nicht auf.
Neoth Mordechai. Ja, es ist ein kleines Paradies. Von Mauern und Zäunen umschlossen. Drinnen ist es friedlich, ‚paradiesisch schön’. Irgendwo außerhalb beginnt die Wüste.
Das sind die abschließenden Sätze.
Schön. Das rosarote Israelbild. Ein Paradies in der Wüste. Nun liegt Neot Mordechai - den Kibbuz gibt es wirklich -, eben in Ober - Galiläa und das ist der bergige, bewaldete, wasserreiche und seit tausenden von Jahren intensiv landwirtschaftlich genutzte Teil Palästinas, wie einen z.B. die offizielle Tourismus-Site des Staates Israel freundlicherweise informiert. Zur Wüste ist es so nah nicht. Und die Chaluzim haben nicht bloß Kühe gemolken und gehütet, sie konnten, wie die echten Cowboys im wilden Westen auch, schießen. Das Paradies wurde also auch mit Blut gewässert. Diesen Umstand sollte man, wenn man dieses Buch schon liest, keinesfalls außer Acht lassen.
'Grenzgänger' ist ein Gang auf höchst dünnem Eis.