Schreibwettbewerb Mai 2007 - Thema: "Spiel"

  • Thema Mai 2007:


    "Spiel"


    Vom 01. bis 20. Mai 2007 könnt Ihr uns Eure Beiträge für den Schreibwettbewerb Mai 2007 zu o.g. Thema per Email an webmistress@buechereule.de zukommen lassen. Euer Beitrag wird von uns dann anonym eingestellt.


    Den Ablauf und die Regeln könnt Ihr hier noch einmal nachlesen.


    Bitte achtet darauf, nicht mehr als 500 Wörter zu verwenden. Jeder Beitrag mit mehr als 500 Wörtern wird nicht zum Wettbewerb zugelassen!


    Nur für registrierte Mitglieder mit mindestens 50 Beiträgen!


    Eine Bitte: Schickt uns Eure Beiträge als .doc oder .rtf und sendet sie uns als Anhang in einer Mail. Damit kommen dann auch Zeilenumbrüche, etc. richtig bei uns an. In Word könnt ihr dann auch die Rechtschreibhilfe nutzen und unter „Extras“ habt ihr die Möglichkeit „Wörter zählen“.


    Wir wünschen Euch viel Spaß und viel Erfolg!

  • von Tom



    „Mir ist das peinlich“, sagt Fred.
    Ich nicke. Mir auch.
    Wir stehen in der Lobby dieses Vertreterhotels, in das wir geladen wurden, um auf unsere Quizkandidatentauglichkeit geprüft zu werden, zwischen Hausfrauen, die ihr Halbwissen in Plastiktüten mit sich herumzutragen scheinen, und Gruppen pickeliger Schülerinnen, die sich mit Trivial-Pursuit-Kärtchen abfragen.
    „Laß uns gehen“, sagt Fred.
    „Ich brauche das Geld“, antworte ich. Er nickt.


    Ein Berufsjugendlicher schleust uns in den Konferenzraum, jeweils zwanzig Pärchen, wir sind in der ersten Gruppe. Wir bekommen Klebeetiketten mit unseren Vornamen, und werden gefragt, woher wir uns kennen.
    „Er ist mein Zuhälter“, erklärt Fred ernst.
    Ich stoße ihm den Ellenbogen in die Rippen. „Er macht nur Spaß. Fred hat mir mal das Leben gerettet.“
    Der Berufsjugendliche macht sich Notizen. Wir setzen uns, mein Nachbar riecht nach Alkohol; es ist wie im Warteraum des Arbeitsamts. Jedenfalls sehen die anderen so aus: Fernsehsüchtige Pleitegeier.


    Der Vorturner erklärt den Ablauf. Wir müssen uns gegenseitig vorstellen, paarweise, und danach gibt es zwanzig Fragen, Allgemeinwissen. Fred gähnt laut. Zwei kichernde Postpubertäre behaupten, die weltbesten Freundinnen sein und Tokio Hotel zu lieben. Ein Fünfzigjähriger wollte angeblich schon immer Quizkandidat werden, und er stellt seinen Begleiter als irgendeinen Nachbarn vor. Es folgen drei Ehepaare, eine Akademikerin mit ihrer Putzfrau, ein Uropa mit Urenkelin, vier mal zwei Freundinnen im Abiturientenalter. Dann sind wir dran.
    „Ich darf vorstellen, das ist Fred, seines Zeichens bester Anstreicher der Welt. Er hat mir vor zwei Jahren das Leben gerettet, als ich in der U-Bahn überfallen wurde. Und außerdem hat er für lau meine Wohnung tapeziert.“
    Fred steht auf und grinst. „Das ist Gürsel, mein Zu ... äh ... mein Freund. Er hat irgendwas mit Logie studiert, und ich hoffe, ihn früher oder später davon abbringen zu können, bewaffnete Skins in intellektuelle Gespräche verwickeln zu wollen.“
    Niemand lacht, aber der Berufsjugendliche schreibt. Es folgen zwanzig läppische Fragen. Fred will ständig dazwischenquatschen, etwa bei der Frage, wer „Schloß Gripsholm“ geschrieben hat. Ich kneife ihn, und deshalb sagt er etwas leiser „Astrid Lindgren“.


    Wir kommen als einziges Paar in die zweite Runde, Videocasting. Die anderen schauen uns mißbilligend an, und Fred sagt laut: „Schlau sein ist nicht alles. Man muß auch noch gut aussehen.“


    Sechs Wochen später sitzen wir im Zug nach Hamburg.
    „Wie heißt dieser Typ noch mal mit Vornamen?“ fragt Fred. „Jörg“, antworte ich.
    „Jörg“, wiederholt Fred. „Ich hoffe, daß das nicht gefragt wird.“ Er grinst und haut mir auf die Schulter. „Alles wird gut“, sagt er. „Ist doch nur ein Spiel.“
    Die Show rauscht an mir vorbei, Fred legt drei Vetos ein, weil mir jede Peilung fehlt. Wir gewinnen hunderttausend Euro. Immerhin kommt die letzte richtige Antwort von mir: Laizismus.


    Am Flughafen umarmen wir uns lange.
    „Wir sehen uns“, sagt Fred.
    Ich nicke und klopfe auf den Koffer mit den fünfzig Riesen.
    „Es ist besser so“, sage ich und taste nach der Narbe am Bauch. „Angst macht die Seele kaputt.“
    Er nickt. „Ich verstehe dich“, sagt er. „Und in der Türkei ist es sowieso viel schöner.“

  • von flashfrog



    Wissen Sie, ich liebe Kinder. Ich würde nie eins schlagen oder so.
    „Und was eine zumutbare Arbeit ist, entscheide ich.“, hatte Frau Swoboda, die Sachbearbeiterin in der Arbeitsagentur gesagt.
    Da habe ich mich halt bei dieser Clown-Agentur vorgestellt.


    „Ich kann sowas einfach nicht!“
    „Wir werden sehn,“, hatte die Agenturchefin, eine 23jährige namens „Svantje Hansen, einfach Svantje“, die nebenbei an irgendsoeinem freien Theater arbeitet, mich aufgemuntert, „das denken die meisten beim ersten Mal. Wir schicken dich erstmal zu einem einfachen Einsatz auf der Kinderstation, dann sehen wir schon, ob du Talent hast. Kostüm und Schminke kriegst du natürlich gestellt.“


    Nachdem ich mich im Krankenhaus in der Ärzteumkleide in einen Clown verwandelt habe, erkenne ich mich im Spiegel neben der Tür selbst nicht wieder.
    Die kleine Patientin wirkt ein wenig verloren in dem großen Bett. Sie hat ein Nachthemdchen mit rosa Giraffen drauf an und sieht sehr blass aus. Aber sie fasst direkt Vertrauen zu mir, bzw. meiner Verkleidung. Die Glatze auf ihrem Kopf hilft mir, mich auf meinen Job zu konzentrieren. Also albere ich ein bisschen herum, zaubere eine Kette bunter Tücher aus meinem Ärmel, spritze Wasser aus der im Knopfloch steckenden Nelken-Wasserpistole und stolpere über meine eigenen riesigen Füße, so, wie einfach-Svantje es mir in ihrem „Crashkurs im Lustigsein“ beigebracht hat. Zum Schluss darf das Mädchen noch meine rote Gumminase anfassen.


    Das lief besser als erwartet.


    Zwei Tage später habe ich einen Auftritt bei einem Kindergeburtstag. Eine Jule wird 7. Ich bin irrsinnig nervös. Vormittags bügle ich und sortiere meine digitalen Fotoalben neu, um mich abzulenken. Gegen halb vier, nach der „Tortenschlacht“, soll ich da sein. Ein hübsches Einfamilienhäuschen mit Garten. Nachdem ich meine Show absolviert habe, will Jule die neue Schaukel ausprobieren, und ich soll sie anschubsen. Wie ihr himmelblaues Kleidchen fliegt und ihre Zöpfe! Dann wollen auch die 7 kleinen Gäste derreihenach angeschubst werden.
    Danach wollen sie fangen spielen. „Los, du musst auch mitmachen!“
    Ich rede mich mit einem Rückenleiden heraus, indem ich einen rheumagebeugten alten Mann am Krückstock markiere.
    Die Gastgeberin versucht mich zu erlösen: „Kommen Sie, Sie haben ja noch gar kein Stück von dem Karottenkuchen abbekommen, Herr...?“
    „Bobo.“, sage ich, und wiegele ab: „Kein Problem, ich steh nicht so auf Karottenkuchen.“ Und dass ich dann jetzt auch mal gehen müsste, weil ich noch einen anderen Termin hätte. Die Mutter scheint ehrlich enttäuscht.
    Da sollte ich doch aber unbedingt noch für ein Foto posieren mit Geburtstagskind Jule auf dem Schoß und den anderen Kindern drumrum.
    Mit welcher Begründung hätte ich diese Bitte denn ablehnen sollen?
    Die Kinder wuseln natürlich herum, strecken die Zungen raus, machen Hasenohren und es dauert eine Höllenzeit, bis der Fotograf und Vater sie richtig gruppiert hat und endlich zufrieden ist mit dem Bild.


    Ich fahre so wie ich bin nach Hause, und da schäle ich mich erstmal aus meinem Kostüm und hole mir einen runter..
    Am nächsten Tag habe ich keinen Einsatz. Ich fahre ziellos mit dem Auto durch die Gegend. Plötzlich finde ich mich vor Jules Haus wieder

  • von Seestern



    Thorsten sitzt neben dir und glotzt der Blondine zu seiner Rechten in den Ausschnitt.
    Der letzte Schluck Wild Turkey brennt in deiner Kehle. Der Typ hinter der Theke stellt dir wortlos ein volles Glas hin, inzwischen hat er begriffen, dass er sich sein „Darf’s noch einer sein?“ sparen kann, solange du nicht vom Barhocker kippst.
    Dein genuscheltes „Bin gleich wieder da“ wird von Thorsten bestenfalls zur Kenntnis genommen, er führt ein intensives Zwiegespräch mit Blondies Titten.
    Auf dem Weg zum Klo lässt eine üppige Brünette ihr Zungenpiercing blitzen und schenkt dir einen lasziven Blick. Du denkst an Klara. Immer wieder Klara. Der Fluch deiner Existenz.
    Du bist besoffen und melodramatisch. Vielleicht solltest du dich an einem Nackenbeißer versuchen, nach fünf Doppelten wären die Formulierungen kein Problem.
    Was hast du erreicht?
    Deine Eltern sind stolz auf dich, deine Schwester ist dankbar für den monatlichen Zuschuss, deine Kollegen achten dich.
    Du hasst dich dafür. Verdammter Versager!
    Ein Sonnenstrahl, der auf eine Scherbe fällt, könnte kaum mehr blenden, als du.
    –Arbeitstitel: Hemmungslose Spiele –
    Du schiebst der Frau im Glashaus einen Schein zu (Lila war Klaras Lieblingsfarbe) und nimmst die Plastikdinger entgegen.
    An deinem Tisch setzt du alles auf Schwarz und siehst zu, wie die Kugel ihre Bahn zieht.

  • von Roxane



    Ich stand Kopf, als ich von Lolas Tod erfuhr. Es war eine schwierige Übung für den Sportunterricht; mich an meiner Zimmertür anlehnend versuchte ich, mehrere Sekunden lang auf den Händen zu balancieren.
    Es war keine sanfte Art, mich mit der Tatsache vertraut zu machen, dass meine Schwester von nun an nicht mehr da sein würde. Seit diesem Tag, an dem ich feststellte, dass meine Zimmertür nicht schalldicht genug war, einen Schrei auszusperren, hasse ich sie, dieses hässliche, nutzlose Stück Holz. Obwohl sie vielleicht einfach nur irritiert war. Nie zuvor hatte sie einen solchen Schrei gehört, da bin ich sicher, und sie war nicht weniger durcheinander als ich; anstatt Ruhe zu bewahren und stehen zu bleiben, verlor ich das Gleichgewicht und ließ es zu, dass meine Arme einknickten und unter dem Gewicht meines Körpers begraben wurden. Ich weiß noch, dass ich mir den Kopf anschlug.


    Lolas Spiel hatte mich stets beruhigt. Wenn sie spielte, schloss ich die Augen, das war immer so gewesen; wenn sie spielte, träumte ich. Es gab keine Eifersucht, diese Leidenschaft war mir ebenso unvertraut wie der Nordpol, und ich hatte mich auch nie zum Nordpol gewünscht; ein schillernder Sommervogel war mein Leben und Lolas Musik sein Flügel.


    Der Flügel stand unter ihrem Fenster, eigentlich war es nur ein Stutzflügel, wie ein Klavier mit Bauch, doch stolz nannte sie es ihren Flügel, und das passte zu ihr, nicht einmal ein Konzertflügel wäre ihr gerecht geworden, ihr und ihrem sagenhaften Talent, mich zu beruhigen und in den Schlaf zu spielen.
    Manchmal übte ich für Sport, wenn ich sie durch unsere beiden Zimmertüren hörte. Manchmal übte ich Handstände.
    Seither nie mehr.


    Es war so furchtbar einfach gewesen, so einfach furchtbar. Alles, was sie tun musste, war, auf das Piano zu klettern und das Fenster zu öffnen.
    Mama fand sie, als sie aus dem Fenster sah. Sie begrüßte ihren Tod mit einem Schrei. Ausgerechnet, als ich Kopf stand. Ausgerechnet, als es mir zum ersten Mal gelang, länger als fünf Sekunden das Gleichgewicht zu halten.
    Ich hasse Mama.
    Ich hasse die Tür.
    Ich hasse mich.


    Schon seit einer Minute stehe ich hier. Seither nie mehr. Aber heute wieder.
    Meine Hände haben keine Lust mehr, sie beginnen, taub zu werden. Ich habe Lust. Es fühlt sich wunderbar an, wie mir das Blut in den Kopf fließt und ihn Stück für Stück betäubt, dumpf, nebelig. Hier stehe ich und warte, dass von irgendwoher eine leise Musik an mein Ohr dringt; dass sie aus dem Schlüsselloch meiner Schwester rieselt, sich Ton für Ton, schlank und warm unter meiner Tür hindurch schleicht und mich zum ersten Mal nicht in den Schlaf wiegt, sondern aufweckt. Zum ersten Mal nicht versucht, mir Gleichgewicht zu geben, sondern es mir zu nehmen.
    Meine Arme schwanken, und bevor rote Dunkelheit sich vor meine Augen schiebt, finden meine Füße den Boden wieder. Ich durchschreite unsere beiden Türen und setze mich an den Flügel, und ehe ich den ersten Ton anschlage, schwöre ich mir, Lolas Konzert nicht zu verlassen, bis der Vorhang fällt.

  • von Prombär



    Die Sirenen heulten. Wir liefen die Straße entlang, versuchten uns vor dem immer näher kommenden Polizeiauto zu verstecken. Wir rannten, irrten durch eine unbekannte Stadt. „Halt“, keuchte er. Ich drehte mich fragend zu ihm um, unfähig, ein Wort zu sprechen. „Christina, ich kann nicht mehr!“ Schweigend, noch immer nach Luft schnappend, nahm ich seinen Arm und wollte ihn weiter ziehen. „Christina!“, forschte er mich an. Das Polizeiauto kam näher. Ich hatte keine Lust, Bekanntschaft mit den Bullen zu schließen, aber ich wollte Lukas auch nicht alleine stehen lassen. In mir tobte ein Sturm. Wogen der Gefühle schlugen aufeinander und ich war unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, geschweige denn eine Entscheidung zu treffen. „Lukas“, flüsterte ich. Tränen standen mir in den Augen und alles in mir drängte mich dazu, Lukas einfach stehen zu lassen und zu laufen. Zu fliehen. Sanft nahm er meine Hand, fasste sie jedoch fest. Wollte er mich trösten oder wollte er mich nur hindern zu fliehen? „Es war ein Spiel“, flüsterte er.
    Der Sturm in mir tobte weiter. Ich hörte die Schreie der Kinder, das angstvolle Schluchzen des kleinen Mädchens, das sich an die Erzieherin drängte. Fünf Punkte für die Erzieherin, zehn für das Mädchen, noch mal zwei, weil sie geheult hat. Macht siebzehn Punkte. Acht Punkte für meine ungeladene Waffe, zehn, weil ich damit auf eine zweite Erzieherin gezielt hatte, drei, weil sie geheult hat. Weitere achtzig Punkte für weitere acht Kinder. Wie viel der Hausmeister wert war, weiß ich gar nicht. Hundert Punkte Abzug, weil er jetzt tot ist. Es sollte keine Toten geben. Lukas hat ihn erschossen, als er sich uns in den Weg stellte. Zwanzig Punkte für eine geladene Waffe. Es waren noch mehr Kinder im Hort, noch mehr Punkte. Wäre der Hausmeister nicht tot, hätten wir diese Runde sicher gewonnen. Wir hätten mit allem drum und dran sicher fünfhundert Punkte gemacht. So gut war noch keiner, nicht bei einer einzigen Runde.
    Dreißig Punkte, wenn man von der Polizei verfolgt wird, für jede viertel Stunde Verfolgungsjagd gibt es fünf Punkte dazu. Wird man erwischt, heißt es Game Over.
    „Ja, es war ein Spiel“, flüsterte ich. Tränen strömten über mein Gesicht. Ich wollte weg, ich wollte einfach nur laufen, fliehen, so weit weg, wie man nur weg sein konnte. Ich versuchte mich von Lukas loszureißen, aber er hielt mich fest. Er umklammerte meinen Arm, als wäre ich es gewesen, die einen Menschen getötet hatte. Ich schrie ihn an, trat ihn, bespuckte ihn, aber er ließ mich nicht los. Tränen standen ihm im Gesicht. Die Sirene wurde lauter. Durch ein letztes Aufbegehren meiner Kräfte schaffte ich es schließlich meinen Arm frei zu bekommen. Ich rannte los. Lukas stolpertete mir hinterher, wollte mich aufhalten.
    Die Sirene war nun unbegreiflich nah. Reifen quietschten, Waffen zielten auf uns.
    „Stehen bleiben! Polizei!“

  • von Voltaire



    Ich bin Sitzplatzanwärmer.
    Organisiert in einem straff geführten Berufsverband, sind wir wie ein Speer in eine Marktlücke gestoßen. Bisher war jedermann für das Erwärmen seines Sitzes höchst selbst verantwortlich und niemand befreite diesen jedermann von der Gefahr an einer schmerzhaften Blasenentzündung zu erkranken; auch bei Hämorrhoiden kann die Sitzoberflächenkälte oftmals verheerende Folgen haben.


    Gerade in den Wintermonaten, in der kalten Jahreszeit, haben wir Hochkonjunktur. In den Stadien der Fußballbundesliga gibt es nur sehr wenige beheizbare Sitzflächen. Allen anderen Besuchern dieser Fußballspiele, mit nicht beheizbaren Sitzflächen, bieten wir unseren Service an. Ein Service, der natürlich auch seinen Preis hat, der gerade aber auch im Hinblick auf das persönliche Wohlbefinden des Sitzflächeninhabers nicht nur über die zu zahlende Gebühr definiert werden sollte.
    Man sollte uns aber rechtzeitig buchen, auch wenn es den Sitzflächenerwärmungs-Sofortservice gibt, der aber nur dann in Anspruch genommen werden bzw. angeboten werden kann, wenn entsprechende Kapazitäten zur Verfügung stehen.
    Sitzfläche ist ja nicht gleich Sitzfläche und Gesäß ist eben auch nicht gleich Gesäß. Wir bieten daher vier Gesäßgrößen an. Größe A, B und C für das Normalgesäß, mit leichten Differenzierungen, und eben auch die Gesäßgröße XXL für das Gesäß mit einer von der Norm abweichenden Größe. Bei diesen Übergroßen sind wir zu unserem Bedauern leider gezwungen einen kleinen Zuschlag zu erheben, weil auch gerade die Erwärmung größerer Sitzbereiche durchaus mit einigem zusätzlichen Energieaufwand verbunden ist.


    Wir begeben uns ca. eine Stunde vor Spielbeginn, mit dem Sitzerwärmungserlaubnisschein ins Stadion. Fünfzehn Minuten vor Beginn des Spiels übergeben wir dann den erwärmten Sitz an den Kunden und wenden uns neuen Aufgaben zu. Jeder Sitz wird auf genau 18,4 Grad Celsius erwärmt, aber auch hier kann durch einen weiteren Zuschlag, eine höhere Temperatur vereinbart werden. Der Kunde bezahlt bequem durch Kreditkarte oder Bankeinzug. Zurzeit laufen bei uns Überlegungen, eine Platzerwärmungsjahresdauerkarte (mindestens eine Normal- und eine Luxuskategorie) anzubieten. Aber das ist noch Zukunftsmusik.
    Nachdem Spiel wird jeder Kunde gebeten, auf einem Kritik oder Feedbackbogen den Erwärmungsmitarbeiter zu beurteilen. Das Porto für die Rücksendung dieses Bogens wird selbstverständlich von uns getragen. Die Auswertung geschieht noch am gleichen Abend, denn nichts ist uns wichtiger, als den Service fortlaufend zu verbessern und zu erweitern. Bei uns sind halt der Kunde und sein Gesäß König.


    Erst nach einer dreiwöchigen Schulung war ich in der Lage meinen ersten Auftrag zu übernehmen. Leider hatte ich das Pech, dass ich einen Theatersitz (es wurde das Schauspiel „Die Räuber“ von Friedrich von Schiller gegeben) nicht erwärmen, sondern auf exakt 12,7 Grad Celsius herunterkühlen müsste (bei einer herrschenden Raumtemperatur von 24,6 Grad Celsius). Auch das Herunterkühlen ist letztendlich eine Erwärmung im Sinne unserer Geschäftsbedingungen. Das Herunterkühlen wird mittels Kühlaggregaten vorgenommen, die in den Sitzbereich meiner Arbeitshose eingearbeitet sind. Sehr empfindliche Temperaturfühler lösen bei Erreichen der gewünschten Temperatur einen deutlich hörbaren Signalton aus, zusätzlich blickt ein visuelles Signal in Höhe meiner rechten Kniescheibe.


    Vielleicht gehören ja auch Sie bald einmal zu unseren Kunden, googeln Sie uns an.

  • von Doc Hollywood



    „… 98, 99, 100. Ich komme.“ Sie öffnete die Augen, als sich ihre Stimme in der Eingangshalle verloren hatte. Die alten Möbel aus dunklem Holz und die brokatbezogenen Sessel verfinsterten die Räume, auch ohne den grauen Regen draußen. Doch Großmutters Haus war seit diesem Sommer nicht mehr ganz so groß und unheimlich, wie in den Jahren zuvor.
    „Ich komme“, rief sie ein weiteres Mal und umfasste die glatt polierte Holzkugel am Ende der Treppe. Unzählige Male hatte sie zum Ärger von Großmutter die Beine in der oberen Etage über das fein gearbeitete Geländer geschwungen und war hinab gesaust. Die dritte Stufe knarrte geräuschvoll, als sie nach ob stieg. Sie lächelte. Wenn man nachts heimlich in die Küche schleichen wollte, musste man stets auf die dritte Stufe aufpassen. Großvater sah sanftmütig auf sie hinab, seine Brille in der rechten Hand haltend, die auf seinem Schoß ruhte. Ihre Finger strichen im Vorbeigehen liebevoll über den goldlackierten Bilderrahmen. Oben angekommen wandte sie sich um und blickte nach unten, in die Halle. Es schien eine Ewigkeit her zu sein, dass sie von hier oben versucht hatte den Engel an der Spitze der Weihnachtstanne zu berühren.
    Ihre erste Wahl, wenn es galt unsichtbar zu werden, war das Gästezimmer. Danach kam der Dachboden, mit unzähligen Stapeln alter Schachteln, Zeitungen und den Schränken voll von muffigen Kleidern und Hüten. Insgeheim hoffte sie, erst dort fündig zu werden. Das Gästezimmer war ihr Zimmer, manchmal an Weihnachten, aber zumindest in jedem Sommer. Gute Verstecke; ein großer, nahezu leerer Schrank und unterhalb des Sprossenfensters eine Wäschetruhe, auf der man gemütlich, in eine Decke gehüllt sitzend, Schneeflocken oder Regentropfen zählen konnte. Das Bett nicht zu vergessen, so hoch gebaut, dass sie darauf sitzend kaum die Fußspitzen auf die Dielen brachte. Sie hatte gerade vorsichtig den Schrank geöffnet, als ein gedämpftes Niesen unterhalb des Fensters ertönte.
    „Oh, Timmy“, seufzte sie und öffnete die Wäschetruhe. „Gesundheit.“ Sie streckte eine Hand aus und half ihm aus den Laken heraus, zwischen denen er sich verborgen hatte.
    „Danke.“ Er lächelte verschmitzt und schien es nicht besonders zu bedauern, so rasch aufgestöbert worden zu sein. Noch immer hielt er ihre Hand. „Du kommst nächsten Sommer nicht wieder?“
    „Nein, meine Eltern nehmen mich nächstes Jahr auf eine Kreuzfahrt mit.“ Sie ließ seine Hand nicht los.
    „Weihnachten?“ Seine Finger verhakten sich mit ihren.
    „Großmutter möchte zu uns kommen.“ Sie drückte sanft seine Hand.
    „Wir haben jeden Sommer miteinander verbracht und uns versteckt.“ Seine Stimme klang wehmütig. Sie zog ihn zu sich und sah ihm in die Augen.
    „Timmy, die Zeit Verstecken zu spielen ist langsam vorbei.“ Sachte drückte sie ihm einen Kuss auf die Lippen. „Aber eine Chance gebe ich Dir noch“, flüsterte sie ihm ins Ohr. Er sah sie verdutzt an. Dann ließ sie ihn los und lehnte sich mit der Stirn an den Unterarm gepresst gegen die Wand. Lächelnd schloss sie die Augen und zählte laut: „Eins, zwei, drei, … .“ Sie freute sich schon auf den Dachboden - ein letztes Mal.

  • von Wilma Wattwurm



    „Laß uns Versteckerles spielen“.


    Überrascht siehst du mich an. Normalerweise geht die Initiative für so etwas von dir aus. Diesmal bin ich es, die den Vorschlag macht.


    Wir liegen am Waldrand in der Sonne.
    Du grinst errwartungsvoll. Lustmolch, ich kann mir vorstellen, was sich gerade vor deinem geistigen Auge abspielt.
    „Au ja!“ jauchzt du. „Spielen wir Versteckerles. Du versteckst Dich, und wenn ich Dich finde, darf ich mit Dir machen, was ich will“.


    „Genau!“ Ich springe auf. „Aber erst stellst Du Dich dort an den Baum mit dem Rücken mir zu. Hände vor’s Gesicht und nicht schummeln. Eine Minute mußt Du mir geben. Schön laut abzählen, ja?“


    Brav folgst du meinen Anweisungen.


    „60 – 59 – 58...“


    Darauf habe ich gewartet. Schnell schlüpfe ich in meine Jeans, streife das T-Shirt über.
    Teil A meines Planes hat funktioniert, jetzt noch der Rest.


    „39 – 38 – 37...“


    Du hast es so gewollt. Du hättest beichten können. Die Gelegenheit dazu habe ich dir gegeben. Aber auf meine Frage, was du gestern abend gemacht hast, kam nur ein empörtes „gearbeitet, was sonst!“
    Man hat dich jedoch gesehen, in „Uschis Bierbar“, mit dieser Blondine, in eindeutiger Pose, und das nicht zum ersten Mal. Ich habe meine Informanten. Beste Freundinnen lügen nicht.
    Überstunden – für wie blöd hältst du mich eigentlich?


    „19 – 18 – 17...“


    Ungefähr zehn Meter bis zum Auto. Das muß zu schaffen sein. Nur gut, daß wir die Türen aufgelassen haben. Jetzt schnell noch das Kleiderbündel vom Boden aufheben und weg.


    „3 – 2 – 1... ich komme!“


    Im selben Augenblick drehe ich den Zündschlüssel um.


    Das Aufjaulen des Motors zerreißt die Idylle.
    Ja, komm du nur!
    Du hast die Hände vom Gesicht genommen und blickst in meine Richtung. Ungläubig und entsetzt, wie mir scheint. Du schreist, aber ich kann dich nicht verstehen, fängst an, dem wegfahrenden Auto hinterherzulaufen.
    Das letzte, was ich in von dir im Rückspiegel sehe, sind deine wild gestikulierenden Arme. Dann biege ich um die Ecke, den Hauptweg ein.


    Das Auto werde ich vor deiner Haustüre abstellen und den Schlüssel in den Briefkasten werfen. Für Notfälle hat die Nachbarin ein Reservepaar.


    Nur schade, daß ich nicht sehen werde, wie du versuchst, die 10 km zurück in die Stadt zu kommen: ohne Auto, ohne Geld, ohne Papiere, ohne Handy, barfuß und splitterfasernackt.


    Kichernd schalte ich das Radio ein.
    „It serves you right..... „ trällert eine Frauenstimme.
    Genau - das hast du nun davon!

  • von churchill



    Eine Drei. Genau die Drei, die ich gebraucht hatte, um auf das Schlussfeld zu gelangen. Das Kästchen war bereits mit sechs Steinen gefüllt, nun also die allerletzte Frage, die Rubrik konnte ich mir selbst aussuchen. Natürlich wählte ich „Sport und Vergnügen“. Siegessicher lehnte ich mich zurück, versuchte, mein Grinsen nicht allzu triumphierend zu zelebrieren. Deine Augen zeigten die übliche Resignation. Ich liebte diese Augen. Dich liebte ich auch. Wir ergänzten uns perfekt. Du, die ordentliche, vernünftige, geradlinige, sparsame, ehrliche und bibelfeste Freundin. Und ich.


    „Wer schoss im WM-Finale 1966 das dritte Tor?“
    Mein Grinsen wurde breiter. Deine Schwester nannte es immer „unverschämt“. Warum sollte ich mich schämen, wenn ich etwas weiß? Die Frage war eine Falle. Sie meinten nicht das berühmte 3:2, sondern das insgesamt dritte. Diesen Torschützen kannte ich auch. Natürlich.


    „Martin Peters. Und was machen wir jetzt?“
    Ich griff nach der Schachtel. Du konntest mal wieder einpacken. Dachte ich.
    „Falsch!“ Deine Stimme überschlug sich bei diesem Ausruf.
    „Falsch!“ Ziemlich schrill, diese Wiederholung. „Es war Geoff Hurst!“
    „Nein, es war Martin Peters. Hurst schoss im Finale das zweite, fünfte und sechste Tor. Ja, er schoss das Wembleytor zum 3:2. Aber nicht das dritte!“


    Ich hatte meinen guten Tag. Voller Großmut erklärte ich mich bereit, eine Ersatzfrage zu akzeptieren. Du wähltest die Rubrik „Kunst und Literatur“.
    „Wer schrieb das Gedicht ‚Augen in der Großstadt’?“
    Gerechtigkeit siegt eben immer. Meine Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. Oder wie von der Unterkante der Latte geprallt: „Kurt Tucholsky!“
    „Wieder falsch!“
    Das Knirschen eines Messers auf einem Porzellanteller ist für die Ohren Balsam im Vergleich zu deinem dummdreisten dreifachen Stimmbandsalto.
    „Das war Theobald Tiger!“


    „Schatz ...“. Keine Ahnung, wie ich in diesem Moment die Koseform wählen konnte, offensichtlich hatte sie sich schon institutionalisiert.
    „Theobald Tiger ist ein Pseudonym von Kurt Tucholsky. Ebenso wie Peter Panter, Ignaz Wrobel und Kaspar Hauser“.
    Sie war nicht mehr zu bremsen:
    „Kaspar Hauser wurde doch von Reinhard Mey erfunden. Oder so. Hier steht jedenfalls ‚Theobald Tiger’. Und nicht Hauser oder Tucholsky. Oder Peter Puma.“
    Ein letzter Versuch praktizierter Selbstbeherrschung:
    „Ich weiß aber, dass ich Recht habe. Komm, wir schauen bei Wikipedia nach.“
    „Nein, wir schauen überhaupt nirgendwo nach. Hier steht etwas anderes, als du gesagt hast. Und das, was hier steht, gilt.“


    Ich hatte dich wirklich geliebt. Später hast du behauptet, du hättest mich verlassen. Weil du nicht mit einem cholerischen, besserwisserischen, arroganten Arschloch hättest leben können. Dabei wollte ich ja gar nicht unbedingt mit dem Spielbrett dein wertvolles Weinglas erwischen. Das dann auf dem Parkettboden zersprang. Es war auch nicht geplant, dass der Spätburgunder die weiße Ledercouch und deine Hose dauerhaft färben sollte. Jedenfalls hast nicht du mich verlassen. Vielmehr hätte ich nicht langfristig eine beschränkte Ignorantin mit dem geistigen Horizont einer mittelmäßigen Grundschullehrerin ertragen.


    Ich warf dir meinerseits eine Frage hinterher:
    „Schatz, in welchem Buch der Bibel zieht Israel durch das Rote Meer?“
    „Im zweiten Buch Mose“
    „Falsch mein Schatz. Bei mir steht ‚Exodus’. Und das gilt.“

  • von Luc



    Doktor Blanche warf die Spielkugel mit einem sanften Rechtsdrall und beobachtete ihren Flug. Voller Übermut beschloss er, es der Qualität dieses Wurfes zu überlassen, ob er das Haus kaufen und seine Rente mit Caroline im Süden Frankreichs verbringen würde. Die Schwerkraft besiegte den Rundling im Schatten der Pinien. Ein Stein kaum größer wie sein Fingernagel, gab der Kugel die falsche Richtung, sie übersprang ein Mäuerchen und kam drei Meter weit von der Zielkugel zum Liegen. Er seufzte und dachte: Auch Pétanquekugeln können sich mal irren. Ich kaufe das Haus trotzdem. Zurück zu den Wurzeln, fort aus der Industriestadt Lille, aufs Dorf, die heile Welt der Vergangenheit.


    Monsieur Dubot trat neben ihn und löste ihn ab, während Blanche sich zu einem fremden Mann unter den Arkaden gesellte. Ein Freund der Dubots, der wohl jedes Jahr zur Kur kam. Dessen faltenreiches Gesicht erinnerte Blanche unwillkürlich an seinen Vater. Der hatte Pétanque gehasst, wie er jedes Spiel gehasst hatte. Mehr ein praktischer Charakter.
    „Schade“, sagte der Fremde. Blanche winkte ab.
    „Manchmal zerstört der Zufall alle Hoffnung. Manchmal sogar die Zukunft“, philosophierte der Mann.
    „Ihr Name erinnert mich an jemanden“, fügte er hinzu.
    „So?“
    Doktor Blanche sah auf die Rolex an seinem Handgelenk.
    "Mein Vater war deutscher Kommunist und ist Mitte der dreißiger Jahre nach Frankreich gegangen."
    "Interessant!", antwortete Blanche und fragte sich, wann der Immobilienhändler endlich anrufen würde.
    "Er hat meine Mutter während des spanischen Bürgerkrieges hier in diesem Ort kennen gelernt. Eine Französin. Gemeinsam haben sie über der Praxis eines Arztes gewohnt. Er hieß Blanche."
    Doktor Blanche hob den Kopf.
    "Und?", fragte er.
    "Sie wissen, die Deutschen haben Frankreich im Krieg erobert und besetzt", sagte der Fremde.
    "Bis auf den südlichen Teil des Landes", korrigierte ihn Blanche.
    "Stimmt, aber viele Leute haben kollaboriert!", entgegnete der Fremde.
    "Dieser Blanche hat meinen Vater eines Tages abgepasst und ihm gesagt, dass er ihm dreißig Minuten Zeit lassen würde, das Haus für immer zu verlassen. Er wisse, dass er von den Faschisten gesucht werde. Die Lage meiner Eltern war verzweifelt. Mein Vater floh."
    "Hat er es geschafft?",
    "Nein, sie haben ihn gefasst. Er wurde an die Nazis ausgeliefert und ermordet."
    Das Handy klingelte.
    "Und wissen Sie, warum das alles? Blanche wollte meine Mutter. Er hatte die Unverfrorenheit, sie Tage später zu fragen, ob sie zu ihm ziehen wolle. Sie sei doch bestimmt in finanziellen Schwierigkeiten und daran interessiert, dass ihr Sohn eine anständige Erziehung erhält."


    In diesem Moment war sich Doktor Blanche sicher, dass der Fremde von seinem Vater redete. Eher ein praktischer Charakter.


    "Wir sind dann weggezogen. Meine Mutter ist früh verstorben.“
    Doktor Blanche hielt das Handy ans Ohr und wünschte ein zweites herbei.
    "Ich habe Asthma seit der Kindheit. Wut und Trauer haben sich in meine Eingeweide gefressen. Warum mussten meine Eltern ausgerechnet auf diesen Doktor Blanche treffen? Sie sind nicht zufällig mit ihm verwandt?"
    „Nein, wir stammen aus Lille!" stammelte Doktor Blanche und dachte an die wegspringende Pétanquekugel.
    „Hören Sie“, sagte er zu dem Immobilienhai, „die Nachbarregion, sagten sie nicht, die hat Zukunft?“

  • von Ida



    Ich spiele nicht mehr mit. Gleich, wenn Tobi nach Hause kommt, werde ich es ihm sagen. Meine Hände sind kalt. Die Heizung geht nicht. Obwohl ich meine drei Pullover übereinander anhabe, friere ich. Mutter war heute wieder nicht hier. Sie kommt einmal in der Woche vorbei, wenn wir in der Schule sind, und legt Geld auf den Tisch im Wohnzimmer, den einzigen freien Platz, den es bei uns noch gibt. In die Küche geht sie nie. Wir auch nicht, schon lange nicht mehr. Dort stapelt sich Müll, und es stinkt auch wie auf einer Müllkippe. Richtig sauber war es bei uns noch nie, aber seit Mutter zu Achim gezogen ist, wird es immer schlimmer. Wir geben uns Mühe, Tobi und ich, und räumen manchmal auf, aber wir wissen einfach nicht mehr, wohin mit dem Müll. Uns fehlen Müllsäcke. Die paar Euro, die Mutter uns gibt, reichen nur für Essen, Toastbrot und so. Heute ist sie nicht gekommen. Wenn sie nun nie mehr kommt?
    Ich stecke meine Hände in die Hosentaschen. Dort ist es warm. Ich taste nach dem Schokoriegel. Die Verpackung ist glatt und knistert; die Schokolade ist schon ganz weich. Ich stelle mir vor, wie ich den Riegel auspacke, ganz langsam, wie mir der Duft in die Nase steigt und wie ich abbeiße und den Bissen auf meiner Zunge zergehen lasse.
    Im Treppenhaus ist jemand. Schnell nehme ich die Hand aus der Tasche. Tobi darf nichts davon wissen! Er denkt immer noch, dass alles gut wird, wenn wir nur durchhalten und weiter so tun, als wäre bei uns zu Hause alles in Ordnung. Wenn er rauskriegt, dass ich Schokolade geklaut habe, wird er wütend. Er spielt hier den Erwachsenen, passt auf, dass ich jeden Tag zur Schule gehe und mich wasche. Dabei nutzt das gar nichts. Unsere Klamotten stinken, weil wir sie nur alle paar Wochen im Waschbecken waschen. Es dauert immer ewig, bis wir sie wieder anziehen können, wenn wir sie zum Trocknen über die Stuhllehnen hängen. Und dann riechen sie muffig. Einfach nur muffig. Ich kann den Gestank nicht mehr ab. Und die aus meiner Klasse auch nicht. Sie wollen nichts mit mir zu tun haben. Auch wenn ich gar nichts sage und mich unsichtbar mache, falle ich auf und kassiere Klassenprügel.
    Ich hab echt keine Lust mehr. Lieber gehe ich ins Heim. Da ist es wenigstens warm und sauber. Wenn Tobi nicht mitkommt, gehe ich allein.
    Plötzlich reißt Tobi die Wohnungstür auf, kommt herein und wirft sie hinter sich zu. Er sackt neben der Schultasche zusammen und keucht. Seine Nase blutet, das linke Auge ist zugeschwollen. Ich renne zu ihm und frage, was los ist. Sie haben ihn mal wieder erwischt und fertig gemacht. Er weint. Ich will ihm ein Taschentuch geben und habe auf einmal den Schokoriegel in der Hand. Meine Hände zittern, als ich ihn auspacke. Ich halte ihn meinem Bruder hin und sehe zu, wie er ihn verschlingt. Er fragt nichts.
    „Ich steige aus“, sage ich.
    Er nickt. „Ich auch.“

  • von Sinela



    Hi Leute, hättet ihr nicht Lust, mich zu besuchen? Lernt mich näher kennen! Welcome – bienvenue – willkommen! Was, ihr wisst nicht, wer ich bin? Die Königin der Wüste, die Domina der Spielsüchtigen, das Eldorado der Heiratswütigen – Musikcity Nashville, Tennessee. Mmpph, was rede ich denn da für einen Blödsinn? Ich glaube, die Sonne hat mir mein Gehirn jetzt total ausgedörrt. Natürlich heiße ich LAS VEGAS! Los, kommt mit, ich zeige euch meine Welt!


    Heisser Wüstensand, brennende Sonnenglut, flirrende Hitze, Kakteen, Klapperschlangen, Skorpione - und ich mittendrin! Regen ist ein Fremdwort für mich, denn der verdunstet meist schon auf dem Weg nach unten. Und obwohl ich 610 m über dem Meeresspiegel liege, habe ich seit meinem Gründungsjahr 1905 noch keinen Schnee gesehen! Was, ihr behauptet, ich sei alt? Ich bin in den besten Städte-Jahren! Okay, okay, vor 30 Jahren war ich wirklich ziemlich heruntergekommen. Und das nur, weil sich die Mafia hier breitgemacht hatte und ich mich auch nach deren „Weggang“ nicht erholte. Ich war nach dieser Anstrengung mit meinen Kräften einfach am Ende. Erst mit dem Bau des Hotels „Mirage“ 1989 ging es wieder aufwärts mit mir. Und die Hotels „Paris“, „New York City“ und „Luxor“ brachten die große weite Welt zu mir. Ich selber kann ja leider nicht verreisen, muss an Ort und Stelle bleiben. Das fällt mir nicht immer leicht, wo ich doch so abenteuerlustig bin.


    Hell erleuchtete Fassaden, Leuchtreklame, Wasserspiele, Menschenmassen, Musikshows, Touristen en masse, Sex, Glückspiel, Hochzeiten, Raub, Mord – ich liebe Action! Nun gut, Mord ist natürlich nicht gerade besucherförderlich, aber unser CSI wird jeden Verbrecher finden – versprochen. Reden wir lieber von Sachen, die Spass machen: Roulette oder Baccara, Blackjack oder Poker, Keno oder Slot-Machines – es gibt viele Möglichkeiten, wie ich den Touristen ihr Geld abnehme. Schließlich brauche ich es, Wasser ist teuer und will besorgt sein. Und ohne Wasser gäbe es keine Touristen und ich wäre schnell eine tote Stadt. Und darauf habe ich wirklich keinen Bock! Aber zurück zu erfreulicheren Dingen. Man kann hier auf zwei Arten sein Glück machen: Entweder man spielt oder man heiratet. Wobei viele Menschen schon beides bereut haben. Aber heißt es nicht: Versuchen geht über – wie war das doch gleich? Egal. Ich für meinen Teil bevorzuge das Spiel – wen sollte ich auch heiraten? Ich liebe die Slot-Maschines. Wenn sie mit klirrendem Klang ihren Dollar-Segen ausspucken und der Gewinner vor Freude fast durchdreht – herrlich! Ja, ja, ertappt – es ist auch Eigennutz dabei, denn so ein Gewinn lässt andere Spieler unvorsichtig werden und über ihr Limit hinaus gehen. Aber mit der Verzweiflung dieser Menschen muss ich leben, auch wenn die Verlierer manchmal ein wenig übertreiben und sich das Leben nehmen. That`s life...


    Wie hieß es früher einmal: „Kalifornien oder sterben!“ Heute heißt es „Las Vegas sehen und sich amüsieren.“ Auf in das nächste Reisebüro und einen Nevada-Trip gebucht. Der Grand Canyon und der Hoover-Staudamm sind ganz in meiner Nähe, aber zuerst schaut bei mir vorbei. Wann immer ihr wollt, zu jeder Jahres-, Tages- und Nachtzeit. Ich warte auf euch....

  • von Lotta



    Ich fange die Luft, in die andere Löcher geguckt haben. Dabei strecke ich die Hand aus, hauche ganz leicht – das zieht die Luftgeister an – und schließe dann schnell meine Finger. Jetzt pocht es sanft gegen die Haut. „Das ist nur dein Puls“, sagt Mama, aber sie weiß nicht, dass ich mich von der Biologie längst gelöst habe. Ich kann Luft anlocken.


    Eigentlich habe ich auch keine Mutter, die etwas anderes behaupten kann. Ich bin ein Waisenkind. In meiner Hand liegt ein verletzter Schmetterling und ich muss aufpassen. Darf ihn auf keinen Fall berühren. Wenn Menschenhand seinen Blütenstaub streift, dann kann er niemals wieder fliegen. „Was hast du da in der Hand?“ fragt der Heimleiter, ein schrecklicher Mann, er ist zwei Meter groß. Er biegt mir die Finger auseinander – „da ist ja gar nichts, was soll das, Anna?“ – und der Schmetterling ist fortgeflogen, er hält es hier keine Sekunde aus.


    Er schickt mich auf mein Zimmer. In den Gardinen hängen die letzten Sonnenstrahlen fest. Eigentlich ist das hier überhaupt nicht mein Zimmer, es ist ein Schloss, ganz aus Seife. Ich bin die Seifenprinzessin, schlafe in einem Bett aus Seife und kann dabei den Himmel sehen. Es ist kein richtiger Himmel, nur Blaubeerseife mit Zitrone. Ich trage Hausschuhe aus Seife, in denen meine Zehen weich herumrutschen. Meine Füße riechen immer gut.


    In meinem Seifenschloss haust ein Schlossgespenst. Es spukt nachts durch die Hallen und isst hauptsächlich Seife. Am liebsten mag es Tannenzapfenseife mit ein bisschen Honig. Es ist nicht wie die anderen Gespenster, es heult nicht und rasselt, aber es kaut und schmatzt und macht Seifenblasen, die ihm im Gesicht zerplatzen. Ich versuche das manchmal, aber es will nicht klappen. „Iss endlich gescheit“, herrscht mich die böse Stiefmutter an, die jetzt Königin ist, aber von Seife überhaupt nichts versteht.


    Ich habe meinen Schuh im Garten vergraben, damit ihn jemand findet und mich woandershin entführt. Dann renne ich nach Hause. Immer schneller, bis die windzerzausten Haare zu Flügeln werden. Ich bin ein Vogel. Fliege ins Haus, verliere dabei ein paar Federn. „Dieses Kleid hat viel Geld gekostet“, fährt eine dunkle Stimme dazwischen, eine Krähe muss das sein, die große, schwarze Krähe. Mein Nest ist warm und weich, ich hülle mich in die dichten Holunderzweige, schlafe ein.


    Morgensonne schiebt sich durch die Jalousien. Jemand zieht die Decke fort. Die Decke? Nein, Zweige sind das, warmfreundliche Zweige, die an den Zehen kitzeln. An den Vogelfüßen. Ich halte die Lider geschlossen. Und den Schnabel auch.
    „Wie sieht es denn hier aus? Steh auf, raus aus den Federn! In fünf Minuten hast du alles wieder aufgeräumt, hörst du? Was machst du denn?“
    „Ich spiele, Mama.“
    „Werd’ lieber erwachsen.“


    Ich schiebe mich an ihr vorbei und laufe nach draußen. Es ist nass hier. „Wer willst du sein?“ flüstert eine Kinderstimme in meinem Kopf, ich will sie fassen, festhalten und aufbewahren. Rücklings lasse ich mich ins feuchte Gras fallen, lecke mir die Regentropfen von den Lippen, sehe lange in den düstergrauen Himmel und bin niemand.

  • von Nudelsuppe



    Mitternacht. Es ist still, seltsam still in mir. Ich erinnere mich an die Geräusche, die eine Berührung auslöste. Ich erinnere mich an die Figuren, die unsere verflochtenen Hände malten gegen die Leinwand eines weißen Himmels. Ich erinnere mich an den Duft, der von deinem Körper aufstieg, aus den Nischen und Winkeln, Falten und Einebnungen. Ich erinnere mich daran, mit dir die Liebe gemacht zu haben, auf meinem Bett, das nach Süden ausgerichtet ist. Dein Zögern, als mein Mund zuvor noch nie geküsste Haut schmeckte.
    Ich zünde mir eine Zigarette an, der glühende Punkt ist ein Sonnenuntergang, der schwer im schwarzen Fleisch der Nacht liegt.
    „Wer bist du?“ frage ich mein Kopfkissen. Es schweigt. Der Tabak verbrennt leise knisternd. Auch die Bettdecke schweigt.


    „Ich gehe nach Afrika.“
    „Warum?“ fragte ich.
    „Ich weiß es nicht.“
    „Das ist unlogisch“, sagte ich.
    „Gib mir eine Zigarette.“
    „Ich sollte die Fensterscheiben schwarz bemalen.“
    „Warum?“
    „Einfach so.“


    Wir rauchten. Die Entfernung zwischen unseren Körpern wurde größer, mein Kopfkissen schwieg.
    „Lass uns ein Spiel spielen“, sagte ich.
    „Was für eins?“
    „Wenn du in Afrika bist, dann möchte ich deinen Schatten lieben. Zwischen dem 22. und 23. Juni, eine Stunde lang, ab Mitternacht.“
    „Das ist fair.“
    „Woher weiß ich, dass es passiert, dass du wirklich da bist?“ fragte ich.
    „Vertrau mir.“


    Ich warte. Es ist ein Uhr, die Stunde ist vorbei, die Gegenstände schlafen schon. Ich streiche über die Decke, die Kissen, sie erinnern sich an dich.
    Sie träumen von dir.