Thomas Buergenthal - Ein Glückskind

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  • Titel: Ein Glückskind
    Autor: Thomas Buergenthal
    Verlag: S. Fischer Verlag
    Erschienen: März 2007
    Seitenzahl: 271
    ISBN: 3100096525
    Preis: 19.90 EUR


    Wer ist dieser Thomas Buergenthal?
    Er war zehn Jahre alt, da hatte er bereits zwei Ghettos, Auschwitz, einen der berüchtigten Todesmärsche und das KZ Sachsenhausen überlebt. Heute ist er amerikanischer Staatsbürger und seit 2000 ist er Richter am Internationalen Gerichtshof in Den Haag.


    Ich habe mit diesem Buch am gestrigen Abend begonnen, es war so etwa gegen 19 Uhr, und um 22 Uhr lag das Buch gelesen neben mir auf dem Tisch. Selten hat mich ein Buch dermaßen gefangen genommen, mich dermaßen berührt wie diese Kindheitserinnerungen von Thomas Buergenthal. Er schreibt sachlich, manchmal fast kühl, aber trotzdem merkt man in jedem Satz den Schrecken und das fürchterliche Erleben dieses Kindes. Immer wieder entging er auf wunderbare Weise dem sicheren Tod, er stand vor einem der schlimmsten Verbrecher der Menschheitsgeschichte, er stand vor Dr. Josef Mengele, den viele verharmlosend nur als „Angel of Death“ bezeichnen. Thomas Buergenthal begegnete Odd Nansen im KZ Sachsenhausen, den Sohn des norwegischen Forschers Fridjof Nansen, und lernte dort die tiefe Menschlichkeit und Menschenliebe dieses Norwegers kennen (Nansens Buch „Tag bei Tag“ ist leider vergriffen und nur noch in englischer Sprache erhältlich).


    Viele seiner Weggefährten, darunter zumeist Kinder, musste Thomas Buergenthal zurücklassen – sie wurden Opfer der perversen „Selektionen“ und „Ghettosäuberungen“. Wer dieses Buch gelesen hat, wird kaum verstehen, wie es Menschen geben kann, die über die Anzahl der durch die Nationalsozialisten ermordeten Menschen diskutieren, für die die Zeit des Dritten Reiches lediglich ein theoretischer Diskussionsstoff ist, die in ihrer Beschränktheit vielleicht sogar darüber diskutieren, ob Filbinger nun ein Widerstandskämpfer war oder nicht. Dieses Buch von Thomas Buergenthal steht stellvertretend für die unzähligen Opfer dieser für uns kaum vorstellbaren Zeit, dieses Buch ist ein Beleg dafür, dass hinter jedem Opfer eine lebendige Lebensgeschichte stand, dass jedes der ermordeten Opfer Sohn, Tochter, Vater, Mutter, Großeltern, Verwandte oder Freund war, dass jeder dieser ermordeten Menschen Träume hatte und das sie eines nicht waren: Lediglich eine Nummer, eine Zahl, in einer perversen Statistik.


    Buergenthal schreibt an einer Stelle in seinem Buch, dass man vielen ermordeten Menschen auch den letzten Rest ihrer Würde nahm, als man sie ohne Registrierung, also namenlos ermordete, und ihre Asche dann „entsorgte“ – für ihn eines der größten Verbrechen gegen die Menschenwürde.


    Thomas Buergenthal wendet sich vehement gegen die Kollektivschuld, er wendet sich vehement gegen eigene Rachegedanken, was er will ist Gerechtigkeit. Und so stellte er sein Leben dann auch in den Dienst der Menschenrechte, die es jeden Tag an jedem Ort neu zu verteidigen gilt.


    Aufmerksam bin ich auf dieses Buch durch ein Interview mit Thomas Buergenthal bei Kerner geworden, eine Sendung, die ich mir normalerweise nicht anschaue – aber ich bin dankbar dafür, dass ich ausgerechnet an diesem Abend meine Fernsehgewohnheiten und Fernsehprinzipien geändert habe. Zudem sollte das Buch Pflichtlektüre an unseren Schulen werden, aber leider ist es ja in unserem Land nicht mehr „Mainstream“ sich mit dieser Zeit zu beschäftigen, vielmehr werden Forderungen nach einer intensiven Geschichtsbefassung mit dem Dritten Reich mit dem Argument gekontert, auch die DDR-Geschichte würden wir ja nicht aufarbeiten – als ob man das Dritte Reich und die DDR irgendwie vergleichen könnte.


    Thomas Buergenthal wäre für mich eine der Antworten, wenn man mir die Frage nach den „Gerechten“ stellen würde.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Wenn auch mit über einem Jahr Verspätung... Danke für die auführliche, interessante Rezi Voltaire.
    Das klingt nach einem Buch für mich.

  • Jetzt bin ich doch etwas ueberrascht, dass hier bei den Eulen nur eine einzige Rezension zu finden ist. Da verdient das Buch doch ganz sicherlich mehr Aufmerksamkeit!


    Hier ist es 2009 in englischer "Uebersetzung" erschienen, wobei ich davon ausgehe, dass Buergenthal die englische Fassung selber geschrieben hat. Nur beim Vorwort von Elie Wiesel wird angegeben, dass es aus dem franzoesischen uebersetzt wurde.


    Eine Freundin hat es mir zu Weihnachten geschenkt und ich bin gerade erst angefangen. Ich war erst sehr skeptisch schon wieder was zum Holocaust lesen zu sollen, doch bis jetzt gefaellt es mir recht gut. Es ist doch eine etwas andere Perspektive als was man sonst aus der Zeit zu lesen bekommt.


    Zitat

    Original von Voltaire
    Buergenthal schreibt an einer Stelle in seinem Buch, dass man vielen ermordeten Menschen auch den letzten Rest ihrer Würde nahm, als man sie ohne Registrierung, also namenlos ermordete, und ihre Asche dann „entsorgte“ – für ihn eines der größten Verbrechen gegen die Menschenwürde.


    Voltaire, es ist sehr sehr interessant, dass du ausgerechnet diese Stelle in deiner Rezension anmerkst. Ich musste dabei sofort an meinem Besuch des Stasi Museums in Leipzig vor einigen Wochen denken. Denn was dort die staerkste Betroffenheit fuer mich ausloeste war ebenfalls die Beschreibung des Umgangs mit politisch Verfolgten, die die Todesstrafe bekamen. Auch sie wurden namenlos ermordet, namenlos verbrannt, die Asche irgendwelchem Zement beigemischt - und dann verbaut. Ein menschenverachtendes Regime kann sich deutlicher kaum zeigen.

    Gruss aus Calgary, Canada
    Beatrix


    "Well behaved women rarely make history" -- Laura Thatcher Ulrich

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  • Thomas Buergenthal: Ein Glückskind - Wie ein kleiner Junge zwei Ghettos, Auschwitz und den Todesmarsch überlebte und ein neues Leben fand
    Verlag: S. Fischer
    ISBN: 9783100096524
    272 Seiten, 19.90 €


    Über den Autor:
    Thomas Buergenthal, geb. 1934 in Lubochna, verbrachte seine Kindheit in polnischen Ghettos und den KZs Auschwitz und Sachsenhausen. Nach dem Krieg studierte er Jura in den USA und spezialisierte sich auf Internationales Recht und Menschenrechte. Er war u.a. Richter am Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte, Mitglied der UN Wahrheitskommission für El Salvador und des UN Menschenrechtsausschusses.Von 2000 bis 2010 diente er als amerikanischer Richter am Internationalen Gerichtshof, Den Haag. Seit 2010 hat Thomas Buergenthal die Lobingier Professur an der George Washington University Law School in Washington, D.C., inne. Er ist vielfach ausgezeichnet worden, u.a. mit der Ehrendoktorwürde der Universität Heidelberg.


    Inhalt & Rezension:
    Thomas Buergenthal erzählt in diesem Buch seine unglaubliche Geschichte über Flucht, Trennung, Verfolgung und die fast schon einem Wunder gleichkommende Rettung. Bereits in den ersten Kapiteln wird man als Leser unweigerlich in die dramatischen Zeiten des 2. Weltkrieges hineinversetzt und man hofft immer wieder, dass Thomas Buergenthal und seinen Eltern doch noch irgendwie die Flucht aus der Tschechoslowakei gelingen möge. Es kam dann aber alles anders und statt einer Ausreise nach Großbritannien verschlug es die Familie in den Wirren des Krieges nach Polen.


    Hier beschreibt Buergenthal zunächst die Ankunft in Kattowitz und das unmenschliche Leben im Ghetto von Kielce. Das darauf folgende Kapitel über die Hölle von Auschwitz ist so lebendig beschrieben, dass ich mehrmals während des Lesens eine kleine Pause machen musste. Was dort geschah ist mit normalen Worten kaum noch zu erklären, umso mehr freut man sich, wenn es Thomas Buergenthal mal wieder durch kluges und besonnenes Handeln gelang, dem sicheren Tod noch einmal von der Schippe zu springen.


    Kurz vor Ende des Krieges marschierte Thomas Buergenthal mit anderen Häftlingen in den sogenannten Todestransporten von Auschwitz nach Sachsenhausen, ein verzweifelter Versuch der KZ-Lagerführung, den sowjetischen Truppen zu entkommen. Umso schöner ist dann das Kapitel über die Befreiung und die Zeit von Buergenthal als „Maskottchen“ der polnischen Armee. In den emotionalen Abschlusskapiteln erzählt Thomas Buergenthal anschließend noch, wie er in einem Waisenheim aufwuchs und nach langer Zeit endlich wieder seine Mutter traf, bevor er endgültig nach Amerika auswanderte.


    „Ein Glückskind“ ist ein Aufruf an die Humanität und ein Plädoyer für die Einhaltung der Menschenrechte. Thomas Buergenthal beschreibt sein Leben ohne Zorn oder Bitterkeit, dafür mit viel Herz und Emotion. Er bedankt sich bei den zahlreichen tschechoslowakischen Zivilisten, welche den KZ-Häftlingen Brot zuwarfen, aber auch bei einigen Deutschen Soldaten, die ihn in Schutz nahmen oder ihm Lebensmittel zur Verfügung stellten. Dieses Buch gehört zu den eindringlichsten Werken, die ich jemals über den Holocaust gelesen habe.


    10 von 10 Punkte