Liebes gnadenloses Eulenvolk,
Eigentlich fühle ich mich in der Anfängerecke heimischer, aber da ich die Lust verspüre, mal ausgiebig in Kritik zu baden ... und (ausnahmsweise) nicht auf kiloweise Lob oder Streicheleinheiten aus bin ... hier ein kleiner, tapsiger, auf wackeligen Beinen stehender Versuch einer Kurzgeschichte, die nicht lang ist, aber immerhin über die 500-Wort-Grenze hinausgeht.:grin Freue mich über Kommentare aller Art ... und danke es jedem, der sich die Zeit nimmt!
Alles Liebe
Lotta, bekennende Masochistin
Und hier - fast hätte ich es vergessen - der Text:
Amanda
Wir warten hier schon lange. Ich baumele mit den Beinen und mache mir die Zähne am Reißverschluss meiner Jacke kaputt. Er schmeckt nach Metall. Mama nimmt ihn mir sanft aus dem Mund, umfasst mein Kinn mit zwei Fingern und sieht mir dabei fest in die Augen.
„Denk daran, worüber wir gesprochen haben, Nele“, mahnt sie und klingt müde, als sehne sie sich nach dem Bett, gegen dessen Pfosten Papa sie gestern noch gestoßen hat. Der Gedanke beißt sich in mir fest wie eine störrische Sommerzecke. Ich darf nichts sagen, darf nichts sagen, darf nichts sagen. Auch nicht, wenn die Frau vom Sozialamt lächelt und mir ein Gummibärchen schenkt. Nie. Am liebsten würde ich meine Zunge verschlucken. Ich wische meine klebrigen Hände an der Hose ab und schäme mich sofort wegen der dunkelfeuchten Flecken. Irgendwo tickt eine Uhr. Sie zählt. Vielleicht die Sekunden, bis meine Brust zerspringt, weil das Herz zu heftig dagegen klopft.
Ich verspüre das dringende Bedürfnis, mir mein Nagelbett zu zerkauen. Das ist eine schmerzhafte, aber entscheidend unauffälligere Alternative zum Aufspringen und Davonrennen. Ich blinzele. Einmal, zweimal. Und dann, als hätte ich sie gerufen, ist sie plötzlich da. Amanda. Sie ist so alt wie ich, hat aber mehr Sommersprossen. Vielleicht habe ich sie doch gerufen. Irgendwas in mir ruft immer von ganz alleine.
„Hallo“, sagt Amanda und schüttelt sich die Sonnenstrahlen aus dem Haar.
„Hallo“, flüstere ich und werfe einen Seitenblick auf Mama. Sie hört uns nicht. Manchmal sagt sie, ich solle aufhören, mit einer imaginären Vorstellung zu reden, die könne mich nicht verstehen. Ich habe „imaginär“ im Wörterbuch nachgeschlagen. Es war falsch.
„Worauf wartest du?“ fragt Amanda mit einem belustigten Funkeln in den Augen und sieht sich neugierig um. Amanda findet alles immer sehr amüsant. Deswegen hört sie selten auf zu lachen.
„Auf eine Frau. Sie wurde alarmiert. Aber Mama sagt, die Alarmierung sei überflüssig gewesen.“ Ich bin gut darin, Sätze nachzuplappern.
„Das hört sich interessant an, Nele.“ Wenn Amanda Nele sagt, klingt es wie eine duftende Blume oder ein besonders hübscher Schmetterling. Sie kann Worte zum fliegen bringen. Und wenn sie etwas als interessant bezeichnet, dann wird es interessant.
„Das ist alles ein ziemlich problematischer, aber glücklicherweise auf einer Fehleinschätzung beruhender Zwischenfall“, erkläre ich ernst. Amanda kichert. Sie findet lange Worte erheiternd. Sie sagt, das sind nur Ketten, auf die jemand Buchstaben gefädelt hat.
„Bist du traurig, Nele?“ fragt Amanda und hüpft von einem Bein auf das andere. „Denn wenn du traurig bist, will ich auch traurig sein.“
Ich möchte nicht, dass Amanda traurig ist. Das hilft. Ich denke ganz fest daran und beiße die Zähne mit aller Kraft zusammen.
„Komm schon, Nelemaus. Wir können rein.“ Das ist Mama. Ich folge ihr in das Zimmer und halte die Tür für Amanda auf. Die Frau sitzt am Tisch, wir können gegenüber Platz nehmen. Der Stuhl ist zu hoch für mich, meine Beine hängen in der Luft.
Wir bleiben lange dort. Das Schweigen plappert immerzu, sodass wir kaum zu Wort kommen. Mama hat hektische rote Flecken im Gesicht und schleudert Blick um Blick im Raum umher. Ihr Mund ist eine dünne Linie. Wenn er sich umformt, dann zu einem entschiedenen „Nein“. Die Frau am anderen Ende des Schreibtisches seufzt. Die Uhr tickt.
„Sieh mal, ein Vogel“, flüstert Amanda und streckt ihre Hand aus. Tatsächlich, dort sitzt ein kleiner grüner Vogel und singt. Es klingt wie die entfernte Erinnerung an ein Kinderlied. Eines von denen, die ich im Bett vor mich hinsumme, um die Stimmen zu übertönen. Die in meinem Kopf und die außerhalb, die von der Küche heraufschallen und von zerbrechendem Glas begleitet werden.
„Er heißt Deseo“, klärt Amanda mich auf „er singt Wünsche“.
„Wünsche? Woher weiß er denn, was ich mir wünsche?“
„Er ist ein paar Mal an deinem Fenster vorbei geflogen. Als du so Angst vor Nachtgespenstern hattest. Hab’ dir doch gesagt, dass es die nicht gibt. Das war Deseo! Er ist ein Wünschesammler.“
„Und lässt er sie auch in Erfüllung gehen?“
„Nein. Aber du.“
Wir blicken uns eine Weile an, der Vogel und ich, dann legt Deseo den Kopf schief und fliegt davon. Sehnsüchtig sehe ich ihm nach. Ich denke ein Wort: Davonfliegen. Er ist wirklich ein Wunschvogel.
„Nele?“ meint die Frau plötzlich, während der Raum langsam zurückkommt. Ihre Stimme ist ganz weich dabei. „Gibt es vielleicht etwas, über das du mit mir reden möchtest? Etwas, das dir auf dem Herzen liegt?“
Es ist eine einfache Frage, auf deren Antwort ich abgerichtet bin wie ein junger Hund. Nein, muss sie heißen, natürlich nicht. Es geht uns gut. Mein Mund klappt auf. Er kann das von ganz alleine. Als sich meine Zunge zu bewegen beginnt, spüre ich sie nicht.
„Ja. Da ist was“, höre ich mich sagen und dann bleibt mein Blick an Mama kleben. Sie hat ihn sich geschnappt und gibt ihn mir nicht wieder. Ich glaube, sie wird mich umbringen, wenn wir zu Hause sind. Umbringen. Das Wort ist ganz stachelig in meinem Kopf, die anderen stoßen sich daran an und verschwinden. Mit Mühe wende ich mich ab, nur einen Gedankenrest behält Mama für sich. Der gehört ihr für immer. „Wenn ich nichts sage, bringt Papa Mama um“, murmele ich „und das will ich lieber nicht. Das will ich ganz und gar nicht.“
Ein leises Schluchzen zerreißt die Stille. Es kommt nicht von der Sozialfrau. Die sieht mich ernst an und schiebt die Schüssel mit den Gummibärchen näher zu mir. Ich nehme mir eins heraus und schiele zur Seite. Da steht Amanda, sie lächelt. Und winkt.
Edit: Genitiv-Probleme behoben.