Alle sterben, auch die Löffelstöre - Kathrin Aehnlich

  • Dieses Buch habe ich allein des Titels wegen gekauft. Löffelstöre!
    Ich sage es gleich: der Leichtsinn wurde belohnt.


    „Liebe Skarlet, das ist ein Brief aus dem Jenseits, aber Du bist eine der ganz wenigen, denen ich zutraue, mit der makabren Situation umzugehen.“


    Mit diesen Worten beginnt ein Brief und zugleich ein Roman über den Tod eines Freundes, einer Freundschaft und, ganz unaufdringlich, einer Vergangenheit, die sich DDR buchstabierte.


    Der Brief stammt von Paul, es sind seine letzten Worte an Skarlet, denn Paul ist gestorben, an Krebs. Skarlet und Paul haben sich schon im Kindergarten kennengelernt. Beide standen immer ein wenig abseits von den anderen, Skarlet verhalten, Paul offen aufsässig. Bald wurden sie nur noch ‚die Zwillinge’ genannt. Sie stammen aus unterschiedlichen Elternhäusern. Pauls Mutter war alleinerziehend, Skarlet leidet unter kleinbürgerlichem Familienmief, einem bornierten Vater, dessen Geiz in finanziellen wie in Gefühlsdingen allein beim Lesen wehtut und einer scheuen, nicht durchsetzungsfähigen Mutter.


    Skarlet und Paul waren immer zusammen, wenn auch nie ein Paar. Gemeinsam erlebten sie die Schulzeit, Ausbildung bzw. Studium, die wechselseitigen Liebschaften, die Rebellion gegen den Staat und schließlich als aktive Beteiligte den Fall der Mauer.
    Danach kam die gemeinsam erlebte Freiheit, die sich fast als Fall ins Nichts erwies. Sie haben es beide geschafft. Paul als Gründer des Kommunalen Kinos, Skarlet als Pressesprecherin im Zoo, dessen Direktor mit Vorliebe Löffelstöre züchtet. Sie haben sich eine Menge Wünsche erfüllt, Paul war lange in New York, Skarlet in Italien.


    Nun sind sie Anfang vierzig, aber die Zwillinge gibt es nicht mehr, Paul ist tot. Skarlet muß die Beerdigung organisieren und mit den Erinnerungen fertig werden.
    Rückblicke auf die Kindheit und Jugend im Leipzig der DDR wechseln mit Rückblicken auf die Jahre nach dem Fall der Mauer und der Zeit von Pauls Krankheit. All das ist eingebettet in die Handlung der Jetztzeit, eine knappe Woche der Vorbereitung auf das Begräbnis. Die Geschichte spielt am Jahresende, wunderbar passend zum Thema ‚Anfang - Ende - Anfang - Ende?’, das das Grundgerüst des Romans bildet.


    Es ist ein Buch voller Trauer, mit einer Menge sagenhaft witziger Beobachtungen über das Leben. Breiten Raum nehmen die Geschichten aus dem Kindergarten ein und die Szenen aus Skarlets Familienalltag. Es ist schrecklich, komisch, grausig, witzig und wieder schrecklich. Und wieder komisch. Eines ist es nicht, nämlich banal. Banalität ist das, was Paul am meisten fürchtet.


    Alles ist ungemein sorgfältig ineinandergefügt. Ich habe schon lange nicht mehr einen so kunstvoll gebauten Roman gelesen. Deswegen wirkt er auch so schwerelos.
    Es gäbe ein paar Einwände, so z.B. der Schluß, aber wenn man näher darüber nachdenkt, und genau das soll man bei diesem Buch, dann könnte es doch stimmen. Schließlich ist die Welt klein. Jedenfalls nicht größer als Freundschaft oder Erinnerung.


    Sehr sorgfältig wird die Erinnerung an die DDR behandelt, es ist mehr ein Andeuten und Herantasten. Bei aller Kritik, die geäußert wird, wird hier eine echte Trauer deutlich, über eine Vergangenheit, die man verloren hat. Die man nicht befürwortete, die aber, wie sich herausstellt, doch ein Teil der Persönlichkeit ist und immer bleiben wird.


    Die Sprache ist vermeintlich einfach, doch schon beim Lesen der ersten Worte entfaltet sie berückende Poesie. Es gibt nicht wenige Sätze mit bösen Widerhaken.
    Die Ausstattung paßt perfekt zum Buch. Da ist nicht nur das ziemlich verrückte Titelbild nach einem Aquarell von Max Bartholl (der auch den Arche-Kalender gestaltet), mit dem Titel: Der Parteitag der Fleischtomate, absurd und sinnvoll wie vieles an dem Roman, sondern auch der knallgelbe Einband darunter, der direkten Bezug auf ein wichtiges Handlungselement im Buch nimmt. Alle Achtung vor dieser Zusammenarbeit!


    Für mich ist das Buch mit seinen gerade mal 250 Seiten jetzt schon einer der schönsten Romane des Jahres, auch wenn ich immer noch nicht genau weiß, was Löffelstöre sind.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

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  • Ich glaube, das muß ich auch haben! Löffelstöre! Und dann auch noch dieses Cover!


    Danke für die Rezension, magali! :anbet


    *schreibt Löffelstöre auf die Wunschliste*

    Lieben Gruß,


    Batcat


    Ein Buch ist wie ein Garten, den man in der Tasche trägt (aus Arabien)

  • Was ein Titel so ausmacht.


    Merci du compliments.


    Tom, Du beachtest, daß wir einen höchst unterschiedlichen Lesegeschmack haben? Kann sein, daß Du 'Feuer' schreist.
    Obwohl, die Sache mit den Elefanten und Tante Edeltraud ...
    :gruebel


    Ich habe einen schwerwiegenden Einwand vergessen:


    Es hat kein Lesebändchen.
    Doofes Buch!!!


    :lache :lache


    :wave


    magali ( Batty : seit fünf Minuten ENORM weitergebildet in Sachen Löffelstöre)

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

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  • Was bliebe noch zu diesem Buch zu sagen, was magali nicht schon erwähnt hat? Nur wenig...


    Das Buch hat mich ja schon bereits durch den Titel unendlich angezogen. Es war so, als hätte gleich dahinter ein "Lies mich, Batcat!"-Button geklebt. Auch das Buchcover ist eindeutig eines der interessanteren (auch wenn der Titel "Der Parteitag der Fleischtomaten" zugegebenermaßen ziemlich crazy ist).


    Ich war also sehr gespannt darauf, was mich hier eigentlich erwartet.


    Skarlet - mit K und nur einem T ;-) - ist die Hauptperson. Das Buch erzählt ihre Geschichte und die, ihres allerbesten Freundes Paul, die in der DDR aufwuchsen. Wir erleben mit, wie die beiden sich im Kindergarten kennengelernt haben und wie ihre Freundschaft eigentlich immer Bestand hatte, ihr ganzes Leben hinweg.


    Doch nun ist Paul tot. An Krebs gestorben. Und Skarlet muß nun die Trauerrede verfassen. Das Buch spielt in den wenigen Tagen zwischen Pauls Tod und seiner Beerdigung, doch in diesen paar Tagen, erleben wir in Rückblenden und Geschichten das ganze Leben der beiden mit und man wünscht sich, daß Paul es doch geschafft hätte, den Krebs zu besiegen. Er hat es geschafft... aber leider nicht so, wie man es sich wünscht.


    Das Buch ist eine ganz wunderbare Entdeckung, eine einfache und dennoch wunderschöne Geschichte in ganz wunderbare Worte verpackt. So schlicht und unaufdringlich die Sprache ist, so abgründig ist sie und so tief taucht man in jedes einzelne geschriebene Wort ein.


    Ein Buch, das einen schmunzeln läßt, das einen sentimental werden läßt, das einen bezaubert und unendlich traurig zurückläßt. Schönes Buch. Ich kann es Euch allen nur allerwärmstens empfehlen. Es hat viel, viel mehr zu bieten als nur einen originellen Titel und ein schräges Cover.

    Lieben Gruß,


    Batcat


    Ein Buch ist wie ein Garten, den man in der Tasche trägt (aus Arabien)

  • Ein wunderschönes Buch, saukomisch und tieftraurig und absolut unsentimental. Da kann man gerne über das fehlende Lesebändchen oder das furchtbare Cover hinwegsehen.
    Mich hat Tante Edeltraut sehr an meine Kindergärnerin "Schwester Irma" erinnert, einer Diakonisse. Die tragen ja bekanntlich Hauben, damit man ihre Teufelshörner nicht sieht. Auch Irma war bitterböse, so musste ich öfter mal einige Zeit in der finstren Abstellkammer verbringen, weil ich mich nicht irmakonform verhalten hatte. Allerdings hatte ich keinen Schang-Pol, der für mich die Kartoffeln aus dem Feuer holte :-(

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)

  • So, nun habe ich das Buch gelesen und frage mich nur, warum es überhaupt doch relativ lange auf meinem SUB gelegen hat.


    Eine wundervoll erzählte Geschichte, ein sehr trauriges Thema, aber so erzählt, das man ständig Tränen in den Augen hat, manchmal vor Lachen, manchmal vor Weinen.


    Eigentlich kann ich den Rezis von magali und Batcat nichts weiter hinzufügen.


    Die Erinnerungen an die Kindheit und Jugend in der DDR fand ich sehr schön, Tante Edeltraut und Herrn Nottelmann werde ich nicht so schnell vergessen.


    Wundervoll unsentimental erzählt von Kathrin Aehnlich.

    Liebe Grüße, Sigrid

    Keiner weiß wo und wo lang

    alles zurück - Anfang

    Wir sind es nur nicht mehr gewohnt

    Dass Zeit sich lohnt

  • Ich kann mich den positiven Meinungen nur anschließen. Mir hat das Buch sehr gut gefallen. Obwohl es eine schwierige Thematik hat, das man leicht in die eine oder andere Richtung "verreißen" kann (zu oberflächlich bzw. zu sentimental), hat die Autorin m.E. eine perfekte Mischung hinbekommen. Auch der sprachliche Stil und die Art und Weise des Erzählens sind sehr gelungen. Besonders oft schmunzeln musste ich bei den Geschichten über Tante Edeltraut.


    Ich bin gespannt, was die Autorin als nächstes schreiben wird.

  • Danke für die Rezi. Titel und Cover schrecken ja wirklich erstmal ab. Aber jetzt möchte ich es auch lesen. :angel

    Liebe Grüße Leonae

    :lesend Sturz der Titanen von Ken Follett

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  • Huhu Sigrid, ja das dachte ich mir auch. Ich habe es mir gleich gestern Abend noch in der Bücherei vormerken lassen. Da brauche ich auch nicht lange zu warten, die Büchereien in Hannover haben etliche Exemplare gekauft. :grin

  • Da gugge ich mal wieder nur neidisch :-(.
    Die Biblio hier in Osnabrück hat solche Bücher immer nur einmal. Um das dann zu "ergattern" muss man zwei Euronen locker machen - zum Vormerken :pille.

    Liebe Grüße, Sigrid

    Keiner weiß wo und wo lang

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    Wir sind es nur nicht mehr gewohnt

    Dass Zeit sich lohnt

  • Zitat

    Original von Sigrid2110
    Da gugge ich mal wieder nur neidisch :-(.
    Die Biblio hier in Osnabrück hat solche Bücher immer nur einmal. Um das dann zu "ergattern" muss man zwei Euronen locker machen - zum Vormerken :pille.


    Bei uns braucht man für die Vormerkung nichts bezahlen. :rolleyes