Dieses Buch habe ich allein des Titels wegen gekauft. Löffelstöre!
Ich sage es gleich: der Leichtsinn wurde belohnt.
„Liebe Skarlet, das ist ein Brief aus dem Jenseits, aber Du bist eine der ganz wenigen, denen ich zutraue, mit der makabren Situation umzugehen.“
Mit diesen Worten beginnt ein Brief und zugleich ein Roman über den Tod eines Freundes, einer Freundschaft und, ganz unaufdringlich, einer Vergangenheit, die sich DDR buchstabierte.
Der Brief stammt von Paul, es sind seine letzten Worte an Skarlet, denn Paul ist gestorben, an Krebs. Skarlet und Paul haben sich schon im Kindergarten kennengelernt. Beide standen immer ein wenig abseits von den anderen, Skarlet verhalten, Paul offen aufsässig. Bald wurden sie nur noch ‚die Zwillinge’ genannt. Sie stammen aus unterschiedlichen Elternhäusern. Pauls Mutter war alleinerziehend, Skarlet leidet unter kleinbürgerlichem Familienmief, einem bornierten Vater, dessen Geiz in finanziellen wie in Gefühlsdingen allein beim Lesen wehtut und einer scheuen, nicht durchsetzungsfähigen Mutter.
Skarlet und Paul waren immer zusammen, wenn auch nie ein Paar. Gemeinsam erlebten sie die Schulzeit, Ausbildung bzw. Studium, die wechselseitigen Liebschaften, die Rebellion gegen den Staat und schließlich als aktive Beteiligte den Fall der Mauer.
Danach kam die gemeinsam erlebte Freiheit, die sich fast als Fall ins Nichts erwies. Sie haben es beide geschafft. Paul als Gründer des Kommunalen Kinos, Skarlet als Pressesprecherin im Zoo, dessen Direktor mit Vorliebe Löffelstöre züchtet. Sie haben sich eine Menge Wünsche erfüllt, Paul war lange in New York, Skarlet in Italien.
Nun sind sie Anfang vierzig, aber die Zwillinge gibt es nicht mehr, Paul ist tot. Skarlet muß die Beerdigung organisieren und mit den Erinnerungen fertig werden.
Rückblicke auf die Kindheit und Jugend im Leipzig der DDR wechseln mit Rückblicken auf die Jahre nach dem Fall der Mauer und der Zeit von Pauls Krankheit. All das ist eingebettet in die Handlung der Jetztzeit, eine knappe Woche der Vorbereitung auf das Begräbnis. Die Geschichte spielt am Jahresende, wunderbar passend zum Thema ‚Anfang - Ende - Anfang - Ende?’, das das Grundgerüst des Romans bildet.
Es ist ein Buch voller Trauer, mit einer Menge sagenhaft witziger Beobachtungen über das Leben. Breiten Raum nehmen die Geschichten aus dem Kindergarten ein und die Szenen aus Skarlets Familienalltag. Es ist schrecklich, komisch, grausig, witzig und wieder schrecklich. Und wieder komisch. Eines ist es nicht, nämlich banal. Banalität ist das, was Paul am meisten fürchtet.
Alles ist ungemein sorgfältig ineinandergefügt. Ich habe schon lange nicht mehr einen so kunstvoll gebauten Roman gelesen. Deswegen wirkt er auch so schwerelos.
Es gäbe ein paar Einwände, so z.B. der Schluß, aber wenn man näher darüber nachdenkt, und genau das soll man bei diesem Buch, dann könnte es doch stimmen. Schließlich ist die Welt klein. Jedenfalls nicht größer als Freundschaft oder Erinnerung.
Sehr sorgfältig wird die Erinnerung an die DDR behandelt, es ist mehr ein Andeuten und Herantasten. Bei aller Kritik, die geäußert wird, wird hier eine echte Trauer deutlich, über eine Vergangenheit, die man verloren hat. Die man nicht befürwortete, die aber, wie sich herausstellt, doch ein Teil der Persönlichkeit ist und immer bleiben wird.
Die Sprache ist vermeintlich einfach, doch schon beim Lesen der ersten Worte entfaltet sie berückende Poesie. Es gibt nicht wenige Sätze mit bösen Widerhaken.
Die Ausstattung paßt perfekt zum Buch. Da ist nicht nur das ziemlich verrückte Titelbild nach einem Aquarell von Max Bartholl (der auch den Arche-Kalender gestaltet), mit dem Titel: Der Parteitag der Fleischtomate, absurd und sinnvoll wie vieles an dem Roman, sondern auch der knallgelbe Einband darunter, der direkten Bezug auf ein wichtiges Handlungselement im Buch nimmt. Alle Achtung vor dieser Zusammenarbeit!
Für mich ist das Buch mit seinen gerade mal 250 Seiten jetzt schon einer der schönsten Romane des Jahres, auch wenn ich immer noch nicht genau weiß, was Löffelstöre sind.