Sieben Legenden - Gottfried Keller

  • Man soll ja mehr Klassiker lesen. Ich habe auch genug davon in den Regalen stehen, vorzugsweise in der Form sogenannter Gesammelter Werke. Das kommt einerseits meiner Vorliebe für dicke alte Bücher entgegen und bietet mir andererseits die Möglichkeit ausgiebig zu stöbern, anzulesen, herumzulesen und zu entdecken.
    Bei einer dieser Stöberaktionen, die, das muß ich ehrlicherweise sagen, nicht löblichem Bildungsdrang, sondern einem (wenn auch nicht minder löblichen) hausfraulichen Anfall in puncto Abstauben geschuldet war, stieß ich kürzlich auf den Schweizer Autor Gottfried Keller.


    Kellers Name ist untrennbar mit Zürich verbunden, er wurde 1819 dort geboren und starb dort 1890, er war fünfzehn Jahre lang als Staatsschreiber im Dienst der Republik Zürich. Die lokale Beschränkung ist aber nur vermeintlich. Keller lebte jahrelang außerhalb der Schweiz, in München, Heidelberg, Berlin, in seinen frühen Jahren als Kunstmaler. Das war sein erster Traumberuf, bevor ihn das Schreiben überwältigte. Brotlos war das eine wie das andere, allerdings machte er sich als Schriftsteller eher und eindringlicher einen Namen als als Maler. Seiner religiösen Prägung nach war er reformiert, politischer ein Liberaler, was sich nicht zuletzt darin zeigt, daß er den Rechtschreibreformen seiner Zeit höchst aufgeschlossen gegenüberstand. Man merkt es beim Lesen, Orthographie und Zeichensetzung kommen uns ganz vertraut vor, es ist eher der Wortgebrauch und sein Stil, die verraten, wie alt seine Texte sind.


    Erzählungen, Geschichten, Novellen hat Keller in beträchtliche Zahl verfaßt, in der Regel für Zeitschriften und die im 19. Jahrhundert so beliebten Hauskalender. Als er 1861 die Stellung als Regierungsangestellter annahm, schien seine Karriere als Schriftsteller allerdings vorbei zu sein. Sein großer Roman, Der Grüne Heinrich, war längst erschienen, ebenso die Leute von Seldwyla und Romeo und Julia auf dem Dorfe. Es schien unmöglich, daran anzuknüpfen.


    Umso erfreuter war er, als zu Beginn der 1870er eine Anfrage von Inhaber des Göschen-Verlags - ein echter Name auf dem damaligen Buchmarkt - kam, unbedingt etwas zur Veröffentlichung zu liefern. Keller schickte ihm die ‚Sieben Legenden’. Sie wurden angenommen und erschienen erstmals 1872.


    Entstanden waren die Texte gut fünfzehn Jahre früher, in Kellers Berliner Zeit. Damals war er auf eine Sammlung von Heiligenlegenden des protestantischen Pastors Gotthard Ludwig Kosegarten gestoßen, die recht verbreitet war. Geschichten von Heiligen besonders aus der Frühzeit des Christentums waren im 19. Jahrhundert bei den Angehörigen beider christlichen Konfessionen äußerst beliebt und fehlten eigentlich in keinem anständigen Haushalt.


    Keller hat aus Kosegartens Sammlung sieben Geschichten ausgewählt. Sein Blickwinkel war in jedem einzelne Fall die Liebe, sein Vorgehen so, daß er die einleitenden Sätze der Vorlage übernahm und danach mit eigenen Worte eine leicht abgewandelte Fassung erzählte.
    Die sieben Geschichten sind samt und sonders Liebesgeschichten mit einer durchaus kräftigen Prise zeitgenössischer Erotik. Fünf sind Einzelgeschichten, zwei davon, die von Bertrade, gehören thematisch zusammen. Erzählt wird jedesmal wie ein Paar, bestehend aus Mann und Frau, glücklich zusammenkommt, sei es auf Erden, sei es nach zur Original-Legende dazugehörigem Martyrium, im Himmel.


    Stilistisch ist es durchaus witzig und ironisch, allerdings nur leicht. Denn die Liebe und daraus folgend die Ehe ist eine ernste und wichtige Angelegenheit. So ist es zwar herzerfrischend komisch, beispielsweise dem ‚schlimm-heiligen’ Vitalis, der sich der Bekehrung von Prostituierten geweiht hat, auf seinem Weg durch die Bordelle zu folgen, wodurch er auch seinen eigenen Ruf aufs Höchste gefährdet. Seine eigene irdische Liebe zu einer Schönen ist jedoch ist eine ernstzunehmende Sache.
    Dorothea, eine andere Heilige, deren weltliche Flirtversuche mit dem angeschwärmten Theophilus gründlich scheitern (das hat einen Touch von Bridget Jones) stirbt zwar als Märtyrerin, bringt den Geliebten aber mit ihrem erotisch bestückten Blumenkörbchen doch an ihre Seite, wenn auch über den Wolken.


    Meine Lieblingsgeschichten sind die, in denen Maria die Heldin ist, besonders der Zweiteiler ‚Die Jungfrau und der Teufel’ und ‚Die Jungfrau als Ritter’. Hier ist es die Hlg. Maria persönlich, die durch ihr Eingreifen eine andere Frau (Basis-Feminismus) nicht nur vor dem Widersacher rettet, sondern sie auch glücklich an den zunächst etwas schwächelnden Rittersmann bringt. Die spitzzüngige Charakterisierung der Personen, des bösen ersten Ehemanns von Bertrade, des Teufels (der nur eines im Sinn hat!), des schüchtern-antriebslosen Bewerbers und seiner Amazone von Mutter (vor der er sich am liebsten verstecken möchte, wenn er nicht wieder mal eine warme Mahlzeit braucht) sind unwiderstehlich komisch. Sie werden nur noch übertroffen durch die Auftritte Marias, die es mit ihren angedichteten Zauber - und Verkleidungskünsten leicht mit nicht wenigen modernen Fantasy-Romanheldinnen aufnehmen kann.


    Die Geschichten waren beim Publikum und bei der Kritik mit wenigen Ausnahmen sehr erfolgreich und der Auslöser für die ‚zweite’ Karriere Kellers als Schriftsteller.
    Einer der Kritiker, der sich gegen die Geschichten aussprach, recht heftig, im übrigen, war Fontane. Das lag zum einen an den Standards, die er selbst fürs Schreiben setzte, also an seiner eigenen Poetik und Ästhetik, zum anderen an seiner Erwartungshaltung. Er scheint mit Satiren gerechnet zu haben.
    Das aber sind die Legenden Kellers entschieden nicht. Was er tut, ist, die Liebe der Heiligen zu Gott zu verweltlichen. An die Stelle Gottes setzt er die Liebe zwischen den Menschen, schafft den Himmel also auf Erden bzw. in einem Bereich zwischen den Liebenden. Die Verweltlichung, die Betonung des Materiellen entsprach durchaus zeitgenössischen Vorstellungen.


    Für LeserInnen heute ist es ein höchst unterhaltsames Spielen, die alte Legendenform mit neuen Inhalten zu präsentieren, ein Spiel, das trotz der etwas altertümlichen Sprache echtes Lesevergnügen bringen kann.


    Die Titel der Legenden im einzelnen:


    Eugenia
    Die Jungfrau und der Teufel
    Die Jungfrau als Ritter
    Die Jungfrau und die Nonne
    Der schlimm-heilige Vitalis
    Dorotheas Blumenkörbchen
    Das Tanzlegendchen


    Ein wenig schade ist es, daß die Geschichten nur als Reclam-Bändchen lieferbar sind.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus