Inhalt:
Dies ist eine ordentliche Familie - hier spricht man nicht miteinander.
In ihrem beeindruckenden Debüt erzählt Harriet Köhler von vier Menschen, die ihre Familie am liebsten loswerden würden. Aber es bleiben die Wut, das Unverständnis, die Angst vor dem Altwerden und die Sehnsucht nach Anerkennung und Anteilnahme.
Heiner war immer nur klug, früher einmal Professor für Insektenkunde. Jetzt sitzt er zu Hause vor dem Discovery Channel und versucht vergeblich zu verbergen, dass das Ende bereits angefangen hat. Er beobachtet erste Anzeichen einer Demenz an sich. Eine Katastrophe für jemanden, der sich hinter seiner Klugheit immer bestens verstecken konnte - vor dem Leben und den Ansprüchen, die eine Familie stellt.
Ulla war immer nur schön. Sie war das, was man eine perfekte Professoren-Gattin nennt. Gekonnt richtete sie das Leben für sich und ihre Familie ein - mit Tipps aus »Feinschmecker« und »Elle Bistro«. Seit Heiner den ganzen Tag zu Hause ist, kostet sie das immer mehr Kraft - ihre gelegentlichen Affären sind da nur ein billiger Trost. Aber zu Ostern, wenn die Kinder nach Hause kommen, soll noch einmal alles perfekt sein.
Linda hatte immer schon viel Talent. Sie ist erfolgreiche Kolumnistin. Von ihrer Familie will sie nicht viel wissen, sie war ihr immer schon peinlich. Auch ihrem kleinen Bruder Ferdinand geht sie lieber aus dem Weg. Ferdinand, der gerade wieder bei einer Frau rausfliegt oder ein Studium schmeißt, treibt durch Berlin - bis die Nacht ihn vor die Füße einer Ex-Freundin spült. Maria nimmt ihn mit, und als sie ihm am nächsten Morgen alte Post übergibt, ist da ein Brief von seiner Schwester Friederike. Friederike, die bei einem Unfall tödlich verunglückt ist.
Meine Meinung:
Ich kann den wohlwollenden Kritiken für dieses Debüt nur zustimmen: absolut lesenswert!
Erinnert es inhaltlich leicht an Franzens Korrekturen stellt man aber sehr schnell fest: dieses Buch ist viel, viel bitterer: es ist, als würde jemand seine Familiengeschichte regelrecht auskotzen, so heftig kommt es sprachlich manchmal rüber. Kurze, starke Sätze. Das Buch ist in drei Haupt-Kapitel unterteilt, wobei in jedem Kapitel abwechselnd eine der 4 Hauptpersonen über einige Seiten zu Wort kommt. Der Vater: durch Glück angesehener Professor geworden, muß feststellen, daß er seine Rentenzeit nicht genießen kann und außerdem vermutlich dement wird, wie schon sein eigener Vater. Die Gattin ist frustriert, weil sie ja eh nur "die Putze für alle ist" und macht sich vor, sie wäre noch attraktiv genug für ihr Alter, weil sie immerhin die "Magerste in ihrem Fitnessclub" ist und außerdem zwei Affären hat. Die Tochter, erfolgreiche Kolumnistin, sucht nach Liebe und macht sich ansonsten vor, sie wäre in der Szene angesagt wie eine Diva. Und dann noch der Sohn, der nie eins seiner angefangenen Studien erfolgreich beendet hat und von einer Frau zur nächsten zieht.
Sie alle leben mit dem Schatten des Todes einer weiteren Tochter: die labile, ab einem gewissen Alter stets depressive Friede, die angeblich bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist. Doch Mutter und Sohn wissen es besser. Und dieses Wissen will der Sohn beim diesjährigen Osterbrunch an die Oberfläche zerren, will nicht mehr am Schweigen in der Familie ersticken.
Genug thematischer Sprengstoff also, um es so richtig krachen zu lassen. Bis zur Mitte des Buches hat man wirklich das Gefühl, die Spannung läßt sich nur durch eine Explosion lösen, aber entgegen aller Erwartung bleibt genau diese Explosion eigentlich aus. Normalerweise gefällt mir sowas nicht so gut, aber hier muß ich sagen, schafft Köhler eine absolut realistische Variante, die den Leser leicht erstaunt, aber nicht unzufrieden zurückläßt. Ein hartes, spannendes Buch, daß ich allen empfehle, die mal wieder eine frische Stimme unter den deutschen AutorInnen entdecken wollen!