Schöne Verhältnisse - Edward St Aubyn

  • Originaltitel: Never Mind (1992)
    Deutschsprachige Erstausgabe: 2007
    Seiten:188
    Verlag: DuMont Literatur und Kunst


    Inhalt
    Ein strahlender Septembermorgen in einer Villa in Südfrankreich: Der Hausherr ertränkt mit Hilfe des Gartenschlauchs ganze Ameisenvölker, seine alkohol-süchtige Frau versucht unbemerkt an ihren ersten Brandy zu gelangen, während der fünfjährige Sohn auf dem Brunnenrand mit seinem Leben spielt – willkommen im Leben der Familie Melrose.
    Paare, Passanten geben sich bei ihnen die Klinke in die Hand, man ist amüsant, gebildet, witzig, stinkreich und unbeschreiblich herzlos. Der böse Zauberer im Zentrum dieses bunten Treibens ist der Aristokrat David "eine sensationell giftige Kreatur". Und hinter all dem geistreichen Zynismus zeichnet sich eine Tragödie ab.


    Der Autor
    Edward St Aubyn wurde 1960 als Sprössling einer Familie des englischen Hochadels geboren und wuchs in England und Südfrankreich auf. Er studierte in Oxford. Seit 1992 hat er sechs Romane veröffentlicht. Edward St Aubyn ist Vater zweier Kinder und ebt in Notting Hill, London.


    Meine Meinung
    Dies ist die tragische Geschichte von Patrick Melrose, Edward St Aubyns Alter Ego.
    Angesichts der autobiografischen Züge der Geschichte um die Familie Melrose ist der Roman eine einzige Katastrophe. Und zwar dahingegend, dass es unmöglich zu verstehen erscheint, was dort, in dieser reichen, kalten und niederträchtigen Gesellschaft, vor sich geht. Der Autor verarbeitet mit seiner auf eine Trilogie ausgelegten Familiengeschichte die Hölle, die er als Kind durchlaufen hat und die zum völligen Heroinabsturz führte. Er selbst sagt aus, dass das Schreiben dieses Buches seine letzte Chance war, sein Leben in den Griff zu bekommen und damit auch zu retten.


    1 Tag, 188 Seiten lang, dürfen wir in diesem feudalen und wenig erfreulichen Umkreis verbringen. Hauptfigur und das größte Ekel, das mir in letzter Zeit unter die Seiten gekommen ist, ist David Melrose, das 60-jährige alles in einen rabenschwarzen Schatten stellendene Familienoberhaupt, Vater des 5-jährigen Sohnes Patrick und Ehemann der wohlhabendenden, aus königlichem Hause kommenden und trinksüchtigen Elanore. Daneben erscheinen die Besucher der Familie als graue Mäuschen, was sie bei weitem aber nicht sind. Doch deren Versuche es ihm in irgendeiner Weise gleich zu tun, andere zu erniedrigen, scheitern kläglich in seinem Beisein. Sie sind lediglich Mitläufer.


    Auf jeder einzelnen Seite des Romans springt uns die völlig hemmunglose Entlarvung der Figuren ins Gesicht. Brodelnder Zynismus, beißender Spott, schlimmste Erniedrigungen und Perversionen... ich finde es schwer auch nur annähernd zu beschreiben, mit welchem Gefühl der Ungeheuerlichkeit ich dieses Buch gelesen und beendet habe. Hinzu kommen ausdauernde psychologische Tiefgänge, denen ich nicht selten nicht mehr folgen konnte und wollte. Es reichte mir zu verstehen, was hinter diesen dicken Wänden der Aristokratie vor sich geht. Sicherlich werden jedoch psychologisch versiertere Menschen als ich noch voller auf ihre Kosten kommen bei dieser Lektüre.


    Das sich hinter dieser makaber schwarzen Potraitierung der Gesellschaft auch noch eine Tragödie abspielen wird, konnte ich zu Beginn nur erahnen. Was dann jedoch folgt, was Patrick, der Sohn von Eleanore und David, in dieser Familie und nur an diesem Tag alleine erleiden muss, ist schier unvorstellbar. Umso erstaunlicher, dass der Autor seinen Weg aus der Drogenabhängigkeit gefunden hat und heut ein nahezu normales Leben führt.


    Hoch anspruchsvoll zeichnet Edward St Aubyn seine Figuren und deren Leben. Wüsste ich es nicht besser, würde ich ihnen allen jedoch - ausser zwei Personen - ob der unglaublich menschenverachtenden Verhaltens- und Denkweisen jegliche Authenzität absprechen. Auf gerade mal 188 Seiten schafft es der Autor mithilfe diverser und auch rasanter Perspektivenwechsel extrem tiefe Einsichten in das Gedankengut der Familie und Besucher zu vermitteln. Dies ist zum Teil sehr anstrengend und forderte zumindest mir eine Menge Konzentration ab. Nicht weniger anspruchsvoll ist der gesamte Stil. Fast im "Vorbeilesen" und zwischen den Zeilen der makaberen Dialoge werden existenzielle Motive und Geisteszustände mit auf den Weg gegeben. Manches Mal musste ich zurückblättern und nochmals lesen um überhaupt zu verstehen, was genau der Autor vermitteln wollte. Wahrscheinlich habe ich viele andere Male die Pointe verpasst und weiß nichts von meinem Pech... Nichtsdestotrotz, hat man die Geschichte einmal begonnen, ist es fast krankhaft umöglich sich der Faszination und dem Sog der Wörter zu entziehen.


    Übrigens ist der deutsche Titel, meiner Meinung nach, wesentlich passender als der der Originalausgabe. In diesen zwei Wörtern versteckt sich die gesamte bittere Ironie des Buches.


    Als Fazit bleibt, dass es mir durchaus nachvollziehbar erscheint, warum dieser autobiografische Roman als "ganz große Literatur" bezeichnet wird. Und trotzdem wird der bittere Nachgeschmack noch lange anhalten was mich höchstwahrscheinlich auch davon abhalten wird die Fortsetzungen in die Hand zu nehmen. Zuviel von solchen Geschichten und ich würde selbst Gefahr laufen in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen zu werden...
    Sicherlich eine große Leseerfahrung, die ich nicht missen möchte, aber von der ich keine zweite benötige.

  • @ SueTown


    Danke für Deine klasse Rezension.


    Hm, das ist ein Buch, das man gelesen haben sollte - aber keinesfalls immer lesen kann. Sehe ich das richtig?

    Lieben Gruß,


    Batcat


    Ein Buch ist wie ein Garten, den man in der Tasche trägt (aus Arabien)

  • Vielen Dank ihr beiden :knuddel1.


    Zitat

    Original von Batcat
    Hm, das ist ein Buch, das man gelesen haben sollte - aber keinesfalls immer lesen kann. Sehe ich das richtig?


    Aus meiner Sicht völlig richtig, ja.


    Eventuell war meine Erwartungshaltung auch einfach zu naiv. Ich rechnete mit großartigem schwarzen Humor (was es natürlich auch beinhaltet), aber sicher nicht mit dieser tieftraurigen Tragödie. Es schadet in diesem Fall durchaus nicht zu wissen worauf man sich einlässt, um das Buch als auch das zu begreifen was es ist: die Geschichte eines Menschen, der uns die Hölle, wie er sie erlebt hat, äußerst präzise und ohne Rücksicht auf Verluste - und in seinem Fall auch noch ohne Rücksicht auf die entsprechenden gesellschaftlichen Konventionen :grin - nahebringt.

  • Ist das Broschur oder Hc, könnte das noch als TB erscheinen? 188 Seiten zu 17,90 € ergibt doch ein ungünstiges PLV, wen ich das mit meinen letzten HC´s vergleiche.

  • Ich habe es jetzt auch gelesen (danke SueTown :kiss) und kann mich deiner Meinung eigentlich nur anschließen:


    Meine Meinung:


    Ein einziger Tag im Leben der dreiköpfigen Familie Melrose, beschrieben auf nicht mal 200 Seiten, birgt so viel Elend, Schmerz und Ekel, dass es locker für 20 Großfamilien und mehrere dicke Wälzer reichen würde. Die alkoholsüchtige Mutter traut sich aus Angst und Unterwerfung ihrem despotischen und sadistischen Ehemann gegenüber nicht, ihrem verschüchterten fünfjährigen Sohn die Liebe und Zuneigung entgegenzubringen, nach der sich dieser so sehnt. Nachbarn, Bekannte und Freunde, die sich zum Stelldichein einfinden, versuchen eher dem Hausherrn nachzueifern und sich bei ihm einzuschmeicheln anstatt dem menschenverachtenden Treiben ein Ende zu setzen (mit einer Ausnahme). Die Gespräche zwischen den Figuren bestehen aus verachtenden und gehässigen Bemerkungen über nicht-anwesende Dritte und pseudo-intellektuellen Überlegungen, die letztendlich keinerlei Relevanz besitzen. Der Leser verfolgt die Ereignisse abwechselnd aus dem Blickwinkel der verschiedenen Figuren und nimmt so an ihren Gedanken teil, was die Tragik der Geschichte noch verstärkt. Der an manchen Stellen aufkommende schwarze Humor und bitterböse Zynismus wird überdeckt von den Perversionen, die an diesem Tag zum Vorschein kommen, und das vorsichtig aufkeimende Lachen bleibt dem Leser im Halse stecken.


    Eine tragische Geschichte einer traumatisierten und pervertierten Familie, die mit ihrer klaren Sprache so viel Gewalt ausdrückt, dass bei dem Leser nur Fassungslosigkeit und grenzenlose Wut zurückbleibt. Um nach dieser Lektüre einigermaßen gut schlafen zu können, bedarf es einiger Anstrengung, aber darauf muss man sich wohl einstellen, denn bis zur letzten Seite kann man sich dem Sog der Geschichte und der (naiven) Überzeugung nicht entziehen, dass es irgendwo in diesem Wahnsinn doch einen „normalen“ Menschen geben muss.


    Anders als du werde ich die Folgebände allerdings auf jeden Fall lesen - und sei es nur, weil ich hoffe, dass sich alles irgendwann rächt :fetch Obwohl ich selbst David manchmal bemitleidet habe - aber nur ganz kurz und nur bis zu einem bestimmten Ereignis - ab da kannte ich auch keine Gnade (du weißt bestimmt, was ich meine...)

  • Es erleichtert mich zu wissen, dass es dir beim lesen ähnlich erging wie mir, milla.


    Zitat

    Original von milla
    Um nach dieser Lektüre einigermaßen gut schlafen zu können, bedarf es einiger Anstrengung, aber darauf muss man sich wohl einstellen, denn bis zur letzten Seite kann man sich dem Sog der Geschichte und der (naiven) Überzeugung nicht entziehen, dass es irgendwo in diesem Wahnsinn doch einen „normalen“ Menschen geben muss.


    Ja, wahrscheinlich war es genau das, worauf ich die ganze Zeit gewartet hatte. Doch die einzig normale ist und bleibt die Haushälterin (aber vielleicht war sie es auch nicht und ich habe nur nicht verstanden welche Perversionen sie abgelassen hat, weil sie Französisch sprach... :grin)


    Zitat

    Original von milla
    Anders als du werde ich die Folgebände allerdings auf jeden Fall lesen - und sei es nur, weil ich hoffe, dass sich alles irgendwann rächt :fetch


    Irgendwo habe ich gelesen, dass der nächste Teil mit einem älteren Patrick weitergeht und dieser eine Reise nach New York unternimmt und dabei immerzu "high" sei. Ich befürchte, einem unter Drogen stehenden Patrick werde ich nicht mehr folgen können. :lache

  • Zitat

    Original von SueTown
    Ja, wahrscheinlich war es genau das, worauf ich die ganze Zeit gewartet hatte. Doch die einzig normale ist und bleibt die Haushälterin (aber vielleicht war sie es auch nicht und ich habe nur nicht verstanden welche Perversionen sie abgelassen hat, weil sie Französisch sprach... :grin)


    Oh die hab ich ganz vergessen! Ich fand Anne ziemlich normal und als einzige sonst irgendwie menschlich.


    Zitat


    Irgendwo habe ich gelesen, dass der nächste Teil mit einem älteren Patrick weitergeht und dieser eine Reise nach New York unternimmt und dabei immerzu "high" sei. Ich befürchte, einem unter Drogen stehenden Patrick werde ich nicht mehr folgen können. :lache


    Oha! Komisch, das zu hören, wenn man aus diesem Buch hier nur den 5jährigen kennt... Wundert mich allerdings wirklich nicht...

  • Ich hatte ja nun auch die Möglichkeit dieses Buch zu lesen. :-]


    Zuerst einmal möchte ich anmerken, dass der deutsche Titel wirklich absolut passend ist: "Schöne Verhältnisse" trifft es ganz genau.


    Die Familie Melrose ist so was von kaputt, Vater wie Mutter, jeder zerstört sich auf seine eigene Art und Weise. Dass der Sohn Patrick hierbei nicht ungeschoren davon kommen kann, ist mMn unvermeidlich.


    Das Buch hat es wirklich in sich, beinahe beiläufig werden Abartigkeiten, Quälereien und Perversionen mit eingebaut.........


    Ich werde die Nachfolgeromane auf jeden Fall noch lesen; dass Patrick erst noch sehr tief fallen wird, bevor er sein Leben einigermassen in den Griff bekommt, ist wohl unvermeidlich.


    Übrigens bin ich der Meinung, dass man solche "Schönen Verhältnisse" in jeder Gesellschaftsschicht finden kann, nicht nur im Hochadel. Nur die Vorgehensweise ist wahrscheinlich anders - das Ergebnis ist dasselbe. :-(


    Das Buch bekommt von mir 9 Punkte.

  • Zitat

    Original von Rosenstolz
    Übrigens bin ich der Meinung, dass man solche "Schönen Verhältnisse" in jeder Gesellschaftsschicht finden kann, nicht nur im Hochadel. Nur die Vorgehensweise ist wahrscheinlich anders - das Ergebnis ist dasselbe. :-(


    Ja, damit hast du wahrscheinlich recht. Es wird nur wenige Menschen geben, die das Ergebnis in SO einer unvergleichlichen Form zu Papier bringen wie Edward St Aubyn, wobei auch das nichts mit seinem Adelsstand zu tun hat.

  • Zur Info


    Die Fortsetzung Schlechte Neuigkeiten ist als Neuerscheinung im August angekündigt.


    Geschäfts- oder Vergnügungsreise?«, fragte die Angestellte der US-Einwanderungsbehörde. »Weder noch, ich bin hier, um die Leiche meines Vaters abzuholen.«»Schlechte Neuigkeiten« ist der zweite Bericht aus dem Leben des Patrick Melrose. Der mittlerweile 21-Jährige fliegt mit sehr gemischten Gefühlen nach New York, um die Asche seines Vaters zu überführen. Als er schließlich dessen sterbliche Überreste in einer braunen Papiertüte die Madison Avenue entlang trägt, fällt ihm auf, dass dies die angenehmsten zehn Minuten sind, die er je in Gesellschaft seines Vaters verbracht hat. Aber wie triumphiert man über einen Toten? Und dann ist da noch das Versorgungsproblem: Eigentlich wollte Junkie Patrick das Ableben seines Vaters damit begehen, dass er den Selbstmord auf Raten aussetzt und clean wird. Aber so leicht wird man liebgewordene schlechte Angewohnheiten nicht los, und Patricks Tage in New York geraten zu einem wahren Höllentrip.