Wenn ein Reisender in einer Winternacht - Italo Calvino

  • OT: Se una notte d'inverno un viaggiatore


    Kurzbeschreibung:
    Calvinos Roman ist ein raffiniertes literarisches Verwirrspiel. In ihm kauft sich ein Leser einen Roman des Autors Italo Calvino, der den Titel trägt "Wenn ein Reisender in einer Winternacht". Er beginnt ihn zu lesen, kommt aber nicht über die ersten Seiten hinaus. Ab Seite 17 wiederholt sich der Text, der Leser ist überzeugt, dass das Buch falsch gebunden sein muss. Er bringt es zurück in die Buchhandlung, um es umzutauschen. Dabei erfährt er, dass der Roman beim Binden mit dem Text eines polnischen Schriftstellers verwechselt worden ist. Was er gelesen habe, stamme nicht von Calvino, sondern von diesem osteuropäischen Autor. Der Leser nimmt dessen Roman mit nach Hause, nur um bald schon neue Fehler und Verwirrungen festzustellen. Erneut geht er zurück in die Buchhandlung, und kehrt mit einem neuen Roman zurück. Wird er diesmal endlich eine ganze Geschichte lesen können?


    Über den Autor:
    Der italienische Schriftsteller Italo Calvino (1923-1985) verbrachte seine Jugend in San Remo. Während des Zweiten Weltkriegs trat er dem italienischen Widerstand gegen die Faschisten bei und ließ sich nach dem Krieg in Turin nieder. Dort studierte er Literaturwissenschaften und schrieb für die kommunistische Zeitschrift "L'Unità". Von 1959 bis 1966 gab er das linksorientierte Literaturmagazin "Il Menabó di letteratura" heraus. Seine frühen neorealistischen Werke waren durch seine Erfahrungen im italienischen Widerstand geprägt. In den 50er Jahren wandte er sich zunehmend den phantastischen und allegorischen Themen zu, mit denen er schließlich bekannt wurde. Seine späteren Romane wie "Die unsichtbaren Städte" (1972) und "Wenn ein Reisender in einer Winternacht" (1979) sind fesselnde Geschichten, die bis an die Grenzen der Imagination vordringen.


    Meine Meinung:
    „Wenn ein Reisender in einer Winternacht“ ist sicher einer der ungewöhnlichsten Romane, die ich bislang gelesen habe, denn das Stilmittel der parallelen Erzählebenen wird hier bis zum äußersten betrieben. Die Geschichte beginnt eigentlich ganz harmlos, ein Leser stellt plötzlich fest, dass der soeben erworbene Roman ein Fehldruck ist und er nicht weiterlesen kann. Aufgebracht will er den Roman in der Buchhandlung umtauschen, erhält ein neues Exemplar, doch dieses hat mit dem bisher Gelesenen nicht das Geringste zu tun. Gerade an der spannendsten Stelle gibt es wieder ein Problem mit dem Druck und erneut muss er das Lesen unterbrechen und sich auf den Weg machen, ein vollständiges Exemplar zu erhalten. Das Besondere an dieser Geschichte ist nicht die soeben erzählte Rahmenhandlung, sondern vielmehr die Tatsache, dass der Leser ebenfalls alle Romananfänge zu lesen bekommt und so Empörung und Frustration der namenlosen Hauptfigur (die einfach nur „der Leser“ genannt wird) teilt. In den Abschnitten über den Leser wird die Grenze zwischen Realität und Imagination noch weiter verwischt, denn durch die wechselnde Erzählweise in der dritten Person (eben der Leser) oder der zweiten Person („du“) und dem Spiel mit den eigenen Erfahrungen kann sich der echte Leser nur allzu gut mit der Romanfigur identifizieren, was von Calvino auch deutlich beabsichtigt ist. Während die Suche des Lesers nach einem vollständigen Buch immer absurdere Ausmaße annimmt, da er dabei in die merkwürdigsten Situationen gerät, liest er die Romananfänge zehn unterschiedlicher Romane, die alle irgendwie miteinander zusammenzuhängen scheinen und doch nichts miteinander zu tun haben.
    Sprachlich erinnert mich Calvinos hintergründiges und an vielen Stellen fast absurd-komisches Verwirrspiel etwas an Kundera, genügend Konzentration und ein Augenzwinkern sind die Voraussetzungen, die nötig sind, um mit dem Reisenden in einer Winternacht vergnügliche Lesestunden zu erlangen. Wer sich darauf einlässt, bekommt dann aber genau das geboten – inkl. vieler allzu wahrer Aussagen über Leser und Bücher, einer grotesken Verschwörung sowie einem gewissen (aber angenehmen!) Grad an Verwirrung und der Schlussfolgerung, dass Realität und Imagination manchmal eben nur schwer zu trennen sind.

  • Ich habe mir das Buch soeben aus der Bibliothek geholt und schon etwas reingelesen.
    Schon das erste Kapitel mit den Beschreibungen der akribischen Lesevorbereitung ist sehr witzig. Den vorwurfsvollen Blick der vielen ungelesenen Bücher im Regal, wenn man sich schon wieder ein neues Buch besorgt hat, kenne ich auch. :lache
    Die Diskussionen zwischen dem Leser und seiner Leidensgenossin, die Leserin sind auch amüsant.
    Die beiden könnten auch Büchereulen sein. :grin

  • Danke für die Blumen! :unschuld


    Ich hoffe, ich habe jetzt nicht zuviel versprochen, weil es ist nicht zum mal-eben-weglesen, aber macht ja nix ;-)


    @ Herr Palomar
    Ja, gell, das habe ich auch gedacht - die beiden würden sich hier pudel äh eulenwohl fühlen :grin

  • Zitat

    Original von Herr Palomar
    Den vorwurfsvollen Blick der vielen ungelesenen Bücher im Regal, wenn man sich schon wieder ein neues Buch besorgt hat, kenne ich auch. :lache


    Danke, daß Du mir den ultimativen Grund geliefert hast, das Buch nicht sofort zu kaufen! :grin


    @ milla


    Tolle Rezi :anbet

  • Ich bin rein zufällig über die schöne Rezi von Milla hier gestolpert und habe daraufhin gleich das Buch aus dem SUB (ziemlich weit unten) befreit.


    Ein wenig zwiegespalten sitze ich nun hier. Hat es mir gefallen oder hat es mich genervt?
    Den Anfang jedenfalls fand ich schon einmal wunderbar. Wem von uns geht es nicht so, wenn man einen Buchladen betritt? ;-) Und das ist nicht die einzige Stelle, an der ich mich als Leser wiederfand.


    Etwas gebremst hat mich allerdings die Tatsache, dass ich dann merkte, dass man als Leser tatsächlich auch immer nur die Anfänge der Romane zu lesen bekam. Da ich schon Kurzgeschichten überhaupt nicht mag - eben weil die Geschichte dann immer zu Ende ist, wenn man sich gerade schön eingelesen hat - war das für mich natürlich ein fortwährendes Ärgernis, immer nur die Romananfänge lesen zu können. Nicht bei allen, aber bei vielen, hätte ich zu gerne weitergelesen. Man könnte auch sagen, bei mir hat der Roman funktioniert: ich konnte die Wut des Lesers und seinen Drang nach der Suche der Fortsetzung bestens nachvollziehen.


    Dass die Erzählweise sich ab und zu änderte und die Episoden immer skuriler wurden, hat mir auch gut gefallen. Allerdings war da in der Tat ein wenig Konzentration nötig, um dem Ganzen noch halbwegs folgen zu können.


    Wenn ich davon absehe, dass mich die Romananfänge immer wieder etwas ratlos sitzen gelassen haben, hat mir das Buch gut gefallen und bekommt von mir auf alle Fälle die Bewertung "lesenswert".


    Viele Grüße
    Shirat

    Viele Grüße
    Shirat


    Ich habe eiserne Prinzipien. Wenn sie Ihnen nicht gefallen, habe ich auch noch andere. (Groucho Marx)

  • Wir lesen es zur Zeit und ich bin von Seite zu Seite hingerissener.
    Abschließende Rezi folgt, aber da müßte jetzt schon grober Unfug passieren, daß sich meine grandiose Meinung noch negativ wandeln würde:


    Italo Calvino Wenn ein Reisender in einer Winternacht


    Ich habe es jetzt beendet....


    Wirklich ein ganz außergewöhnliches Buch. Es saugt den Leser in sich auf, zieht ihn in die Geschichte rein und immer wieder fühlt man sich ertappt und erkannt. Ich würde mich als bibliophil bezeichnen und gerade die Menschen werden sich wohl das ein oder andere Mal beim Lesen dieses Buches überrascht fühlen oder mit einem Laut des Staunens den Mund aufreißen und dümmlich gucken.
    Seien es die ungelesenen Bücher, die einen böse ansehen, wenn man mal wieder neue ungelesene Bücher anschleppt oder das Gefühl des Schutzes, den man hinter einem Buch verspürt, wenn man sich in der Bahn oder sonst wo ganz dahinter zurück ziehen und von der Welt nicht belästigt werden will.
    Grandios fängt Calvino all diese geheimen Gedanken der leidenschaftlich lesenden Bevölkerung ein und strickt daraus eine fantastische schräge Geschichte. Seine im Buch verbastelten Romananfänge enden alle mit einem Knall und lassen einen doch ein wenig unbefriedigt aber neugierig zurück... Man liest weiter, man wird angefixt, man will wissen und dreht sich doch im Kreis und das ist das einzige Manko des Buches, für mich drehte man sich ein paar Mal zu viel. Irgendwann driftet es ins langweilig Banale ab und vermochte nicht mehr mich so zu fesseln, wie zu Beginn. Die fantastischen letzten Zeilen hauen diese Langeweile und zu arge Turbulenz oder Überfrachtung des letzten Viertels wieder raus. Daher bin ich begeistert, aber diese Begeisterung wurde ein wenig getrübt.... dennoch eine ganz besondere Leseerfahrung, die ich nicht missen möchte.

  • Hallo,


    ich hatte das Buch in einem Seminar. Zu Beginn fand ich den ganzen Stil richtig interessant und das Lesen hat echt Spaß gemacht. Aber bei Hälfte des Buches habe ich dann aufgegeben! Ich habe diesen Stil nicht mehr ausgehalten, immer wieder Ansätze und nix Konkretes - das hat mich irgendwann einfach nur noch genervt. Interessant war dann aber, wie die anderen aus dem Seminar darauf reagiert haben. Eine Schlucht trennte die Gemüter: Entweder man war restlos begeistert oder man hat es gehasst. Sehr polarisierend dieses Buch. Ich selbst habe übrigends null Motivation die zweite Hälfte irgendwann zu lesen. *g*

  • Das Buch stand bei mir auf der Pflichtlektürenliste für einen Unikurs.
    Nachdem ich mich durch die anderen Bücher auf der Liste gequält hab (Das Treffen in Telgte *schnarch*...) kam dieses hier dran: Und ich war absolut begeistert!


    Dieses Buch ist ein Kunstwerk! Es ist voll von genialen Gedanken und originellen Ideen.
    Keine Sekunde lang hab ich mich gelangweilt.
    Grade hier in einem Forum vollder Büchernarren gibt es sicher viele, die daran Gefallen finden würden.
    Anhand der Rahmenhandlung werden verschiedene Zugänge zum Buch dargestellt: Rezipienten (Leser, Leserin/Ludmilla), der Autor selbst (Flannery), der analytische Zugang (etwas zugespitzt - Lotaria), ...



    Ich fands nur ein bisschen schade - so wie der Leser, der Protagonist :D - dass die verschiedenen Buchanfänge wirklich nirgends wieder aufgenommen werden, die waren alle an sich schon total interessant.

  • Anfangs war ich hingerissen von der Idee und dem Erzählstil. In der Mitte war ich ein wenig genervt von den vielen angefangenen Geschichten (die ich gern weitergelesen hätte). Am Ende war es mir etwas zu verwirrend.


    Ich habe es zu Ende gelesen. Stellenweise auch mit großem Vergnügen, aber so richtig warm werden konnte ich mit diesem Buch nicht.


    Bewertet habe ich es mit einer 6.

  • Auch wenn ich diesen Thread wieder aus der Versenkung hole: dieses Buch ist eines meiner absoluten Lieblingslektüren - europäische Postmoderne pur! Literatur ist Kunst und Lesen ein Spiel, das wird einem hierbei wieder einmal mehr als deutlich...