Kahn & Engelmann - Hans Eichner

  • Eine Familien-Saga lautet der Untertitel dieses Romans, um Familie geht es auch und um eine Kultur, die völlig verschwunden ist. Der Autor wurde 1921 in einer aus Ungarn stammenden und in Wien lebenden jüdischen Familie geboren, lebt seit 1950 in Kanada und war einer der wichtigsten Germanisten dieses Landes. Das hier ist die Geschichte seiner Familie und zugleich die Geschichte der ungarischen Juden.


    Dem Ich-Erzähler sind wenig Dokumente seiner Familie geblieben, darunter ein Photo seiner Urgroßmutter und seiner Großmutter als junges Mädchen. Mit der Großmutter beginnt die Geschichte. Sidonie Róth ist die Tochter eines gut situierten jüdischen Gutsbesitzers in Tapolca, einem Städtchen nicht weit vom Plattensee. Gegen den Willen ihrer Eltern erzwingt sie eine Heirat mit einem armen Schuhmacher. Der berüchtigte Ritualmordprozesses von Tiszezlaer 1883, als Juden beschuldigt wurden, ein christliches Mädchen getötet zu haben, um ihr Blut bei einer Feier zu verwenden, hat zur Folge, daß Sidonie mit ihrer kleinen Familie nach Wien geht - das ist wörtlich zu nehmen, Geld für Fahrkarten hatten sie nicht - wo die Familie im Tuch - und Textilienhandel ihren Aufschwung erlebt. Wir folgen der Geschichte der Kinder und Enkel von Sidonie in Wien und in Ungarn bis 1938.


    Auch Sidonies Tochter Gisa heiratet gegen den Willen ihrer Eltern, überhaupt setzen in diesem Buch die Frauen ihren Kopf durch, wenn man sich beim Lesen auch so allmählich fragt, warum eigentlich. Diese Frage taucht ebenfalls auf, wenn man sich durch den Bruderstreit in der Enkelgeneration liest, durch Familiendiskussionen und die Vielzahl von Anekdoten.
    Fiktives und Autobiographisches vermischen sich, man ist sich beim Lesen nicht mehr sicher, ob nun eine Handlung abläuft oder man nicht vielmehr am Kaffeetisch neben einem Onkel sitzt, der zum wiederholten Mal erzählt, wie es damals war, als Tante Susi als kleines Mädchen in den Kuhfladen trat. Es gibt keine Pointe, weil man die Geschichte schon zigmal, im Wortlaut, gehört hat. Wenig hilfreich erweisen sich auch die vielen Einschübe, Reflexionen, Assoziationen über jüdisches Brauchtum, Witze und Bonmots. Abschweifung über Abschweifung. Ist es nun eine Geschichte oder ‚nur’ Gerede?


    Dem Roman ist immer wieder seine ‚Authentizität’ bescheinigt worden, ein seltsames Lob, wenn man bedenkt, daß die Kultur, von der er spricht, verloren ist und wir niemanden mehr haben, der bezeugen kann, daß es wirklich so war. Was wir bezeugen können, ist zum einen unsere eigene Erfahrung mit den Geschichten der Alten und zum zweiten die Kraft der Bilder, die es über das ‚jüdische’ Leben gibt. Denn es ist das ‚Jüdische’, das der Autor immer wieder betont, geradezu herbeibeschwört, um eine eigene Vergangenheit zu konstruieren, die ihm brutal geraubt wurde.


    Das Ende des Buchs ist folgerichtig eine recht präzise und grausige Beschreibung der Deportation und Ermordung der Juden aus Ungarn. Sie ist um keinen Deut weniger schrecklich, weil man das alles schon oft gelesen und gehört hat, trägt aber auch nicht dazu bei, zu entscheiden, ob man diese Roman - Autobiographie nun lesen soll oder nicht.


    Wer gern den verschachtelten, mäandernden Reden alter Leuten zuhört und einen langen Atem hat, kann das Buch durchaus mit Gewinn lesen. An die ungarischen Namen gewohnt man sich schnell, für die hebräisch-jiddischen Begriffe gibt es ein Glossar.
    Wer eine richtige Geschichte lesen will, die/der fasse Mut und greife zum doppelt so dicken Melnitz

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Gelesen habe ich die Taschenbuchausgabe.


    Wer sie sich mal anschauen will, sage bitte per PN Bescheid, ich schicke sie gern auf Reisen.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Eine sehr interessante Rezi, liebe magali :anbet ... allerdings hört sich das Buch recht sperrig an und nicht so wirklich lesenswert. Oder irre ich mich in meiner Vermutung?

    Lieben Gruß,


    Batcat


    Ein Buch ist wie ein Garten, den man in der Tasche trägt (aus Arabien)

  • Interessant ist es.
    Bloß kein Roman.


    Scheinbar unerschöpfliches Erinnerungskästchen? Mit romanhaften Einsprengseln?


    Mir ist zu oft der Geduldsfaden gerissen. Ich habe es mehrfach angefangen und wieder weggelegt in den letzten Monaten und jetzt einfach durchgezogen.


    Vielleicht war es zu dicht an Melnitz. Da ist der Zugang auch schwierig, aber ab einem gewissen Punkt läuft die Geschichte.
    Bei Kahn&Engelmann läuft vor allem das Mundwerk. Seufz.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus