Kim Edwards - Die Tochter des Fotografen

  • OT: The Memory Keeper's Daughter


    Über den Autor
    Kim Edwards ist die Autorin einer Kurzgeschichtensammlung, The Secrets of a Fire King, die 1998 für den PEN/Hemingway Award nominiert war und die sowohl mit dem Whiting Award als auch dem Nelson Algren Award ausgezeichnet wurde. Als Absolventin des Iowa Writers' Workshops unterrichtet Kim Edwards derzeit Kreatives Schreiben an der University of Kentucky.


    Klappentext
    Lexington, Kentucky, 1964: In einer stürmischen Winternacht entbindet der Arzt David Henry seine hochschwangere Frau. Zuerst bringt sie einen kerngesunden Sohn auf die Welt. Doch dann setzen die Wehen erneut ein, und dem Jungen folgt seine Zwillingsschwester nach. Dieses Kind ist behindert. In Sekundenschnelle trifft David eine Entscheidung: Während seine Frau Norah in Narkose liegt, bittet er die Krankenschwester Caroline, den Säugling stillschweigend in ein Heim zu bringen. Aber Caroline flieht mit dem Mädchen und zieht es allein groß. - So beginnt eine tief bewegende Geschichte, die ein Vierteljahrhundert umspannt. Erst am Schluß treffen alle Lebenswege wieder zusammen, die in jener verschneiten Nacht so grausam getrennt wurden.


    Meine Meinung
    Es ist eine stürmische Winternacht im Jahre 1964,als Norah Henry ihr erstes Kind zur Welt bringt. Ein Sohn, Paul. Doch während sie noch in Narkose liegt, setzen die Wehen erneut ein und sie bringt eine Tochter zur Welt, Phoebe.


    Doch Phoebe hat das Down-Syndrom. In Sekundenschnelle trifft ihr Mann David, der entbindende Arzt, eine Entscheidung: Um seine Frau zu schützen bittet er die Krankenschwester, das Kind fortzubringen und in einem Heim unterzubringen. Seiner Frau erzählt er, als sie aus der Narkose erwacht, ihre Tochter sei bei der Geburt gestorben.


    Dies ist der Einstieg in eine Dreiecksgeschichte der besonderen Art.


    Wir erfahren über die Jahre hinweg immer aus den einzelnen Perspektiven, wie das Leben weitergeht:


    Norah trauert der Tochter, die sie niemals sehen durfte, hinterher. Man hat den Eindruck, sie kommt mit dem Leben nicht zurecht und hat schreckliche Angst davor, daß auch ihrem Sohn etwas zustoßen könnte. Verloren erscheint sie einem und man spürt, daß sie eine Aufgabe braucht, daß sie noch nach dem Sinn des Lebens und ihrem Platz darin sucht.


    David, dessen spontane Entscheidung doch eigentlich zum Besten seiner Frau sein sollte (wobei ich ganz stark vermute, daß ER – auch aus seiner eigenen Vergangenheit heraus, über die ich jetzt natürlich nichts vorwegnehmen möchte - eher Angst vor dem Leben mit einem behinderten Kind hatte), spürt immer mehr, welche Konsequenzen diese vorschnell getroffene Entscheidung hat. Doch er kann nicht mehr zurück, selbst dann, als seine Frau auf eigene Faust einen Gedenkgottesdienst für die angeblich bei der Geburt verstorbene Tochter organisiert, kann er sein Schweigen nicht brechen. Doch er bekommt von Zeit zu Zeit ein Lebenszeichen zugesandt...


    ... von Caroline, der Krankenschwester, die bei der Geburt dabei war. Sie hatte er damit beauftragt, seine Tochter in ein Behindertenheim zu geben. Sie fährt auch zur angegebenen Stelle, bringt es dann aber nicht übers Herz, das niedliche Baby in dieser kalten und unfreundlichen Institution abzugeben. So beginnt sie weit entfernt ein neues Leben mit Phoebe, Davids Kind, das ihrem Leben endlich einen Sinn und Inhalt gibt.


    Über Jahre hinweg begleiten wir die Protagonisten durch ihr Leben. Leicht haben sie es allesamt nicht. Sei es die unfaßbare Einstellung zu Behinderungen in jener Zeit, seien es die Schwierigkeiten, die David Henry in und mit seiner Familie hat.... aber eines fernen Tages kommt es letztendlich doch noch zur Aufdeckung der Wahrheit.


    Doch wie es dazu kommt, das müßt ihr schön fein selbst nachlesen. :grin


    Ich kann Euch das Buch nur ans Herz legen. Es ist einfach wunderschön geschrieben, unbedingt lesenswert und hinreißend traurig, obwohl es einen nicht mit einem unguten Gefühl zurückläßt. Im Gegenteil.


    Ich habe erst vor ein paar Tagen damit gelesen und habe heute in einem Rutsch mehr als die Hälfte auf einmal geschmökert. Ich konnte einfach nicht mehr damit aufhören, viel zu sehr haben mich die Verwicklungen, Geheimnisse und Mißverständnisse in den Bann gezogen.


    Aber.... lest das doch einfach selbst nach. :-]


    :bruell Geli, das solltest Du unbedingt als nächstes lesen

    Lieben Gruß,


    Batcat


    Ein Buch ist wie ein Garten, den man in der Tasche trägt (aus Arabien)

  • "Die Tochter des Fotografen" gehört jetzt schon zu meinen Lieblingsbüchern des Jahres 2007! :-]


    Durch eine Lüge wird das Leben von vielen Menschen sehr beeinflußt, was aus wechselnden Perspektiven sehr schön beschrieben wird. Trauer, Schuldgefühle, Glück und Unglück liegen so nah bei einander, doch helfen können sich alle gegenseitig nicht. Erst nach ca. 25 Jahren klärt sich, was in der verhängnisvollen Nacht passiert ist und nun müssen alle mit den neuen Umständen umgehen lernen. Ein grandioses Buch!

  • @ Batty: hab es als nächstes gelesen


    Und hier meine Meinung:


    Diese Geschichte beginnt in den 60er Jahren und das hat die Autorin auch immer wieder gut dargestellt, Norah, Davids Frau, ist doch ziemlich abhängig von ihm, wagt es nicht aufzubegehren, und die Idee mit dem Trauergottesdienst für ihre tote Tochter Phoebe kommt von ihrer Schwester Bree, die ihr damit Frieden geben möchte.


    Doch Frieden hat Norah all die Jahre nicht, sie spürt die Anwesenheit ihrer Tochter, als wäre sie nur kurz fortgegangen. Und das, wo sie sie nicht einmal anfassen oder betrachten durfte.


    Paul, der übrig gebliebene Sohn der Familie Henry, leidet sehr unter der Spannung, die ständig vorherrscht. Durch seine Musik versucht er, Harmonie in die Familie zu bringen, aber auch das führt zu Differenzen.


    Und auf der anderen Seite Phoebe, die einfach nur ist, wie sie ist. Die für ihre "Mutter" Caroline das Leben lebenswert, aber auch schwierig macht. In den 60er Jahren wurden "zurückgebliebene" Kinder nicht zur Schule geschickt, die Lebenserwartung wurde niedrig eingeschätzt. Und niemand hätte Caroline oder die Henrys verurteilt, wenn sie ihr Kind "abgeschoben" hätten. Doch Caroline kämpft, unermüdlich, für das Glück ihrer Tochter.


    Die Schreibweise der Autorin hat mich an Ann Tyler erinnert, eine langsame und genaue Beschreibung der Gefühle und der Geschehnisse, ein Genuß zu Lesen. Dabei wird sie nicht langweillig, sondern schildert eindringlich, wie die Protagonisten ihrer Geschichte sich entwickeln und mit ihrem Leben fertig werden.


    Sehr berührend und oft traurig, aber auch fröhlich und hoffnungsvoll, wie diese Geschichte von der Geburt der Kinder im M ärz 1964 bis ins Jahr 1989 erzählt wird. Absolut lesenswert.


    Das gibt 10 von 10 Punkten.

  • Auch mir hat die Geschichte im Großen und Ganzen gut gefallen, wenngleich mir einige Passagen zu langatmig waren oder mir manchmal auch gewisse Informationen gefehlt haben.


    Im ersten Teil erfahren wir viel über den Verlust des Kindes, über die Trauerbewältigung der Mutter, über den Vater, der seiner Frau den Tod eines Kindes vortäuscht und über die Frau, die sich des behinderten Kindes annimmt. Das alles ist sehr emotional und rührend verpackt, keineswegs kitschig oder platt. Nach den ersten 100 Seiten jedoch hätte es mir persönlich ausgereicht vom Leid der Mutter zu lesen. Danach wirkte es auf mich stellenweise langatmig, da nichts weiter geschah.


    Im weiteren Verlauf darf man sowohl das (schwierige) Aufwachsen Phoebe's als auch das mit unterdrückter Trauer geführte Leben von Norah, ihrem Mann David und Paul verfolgen. Caroline, als Mutter eines Kindes mit Down-Syndrom, muss lernen sich gegen alle Widrigkeiten - die es zu dieser Zeit insbesondere gegenüber behinderten Menschen gab - zu wehren, um ihrer Ziehtochter ein normales und weitestgehend selbstständiges Leben zu ermöglichen und sie nicht als Behinderte einfach untergehen zu lassen.


    Spannung habe ich nur selten verspürt bei dieser Geschichte. Ich glaube, das lag vor allem auch daran, dass entscheidende Wendepunkte des Geschehens immer in Rückblicken ausgehend von einer Hauptfigur berichtet werden. So erhält die Geschichte eine ruhige und nervenschonende Basis, für meinen Geschmack manchmal fast schon zu ruhig. Ich hatte nicht das Gefühl, dass es der Autorin daran lag, viel Unerwartetes oder bezeichndende Höhepunkte einzubauen. Eher, glaube ich, stand im Vordergrund die Befindlichkeiten eines jeden mit seiner jeweils schwierigen Situation herauszustellen und den Leser eingehend damit zu konfrontieren.


    Mir persönlich war "Die Tochter des Fotografen" eine klitzekleine Spur zu vorhersehbar, zu geradlinig und - ausser zum Anfang und zum Ende hin - zu langatmig. Für meinen Geschmack hätten noch kleinere A-Ha Erlebnisse hinzugefügt werden können und auch noch ein paar mehr Informationen über das Down-Syndrom selbst, hätten mich gefreut. Letzteres ist natürlich kein ernstzunehmender Kritikpunkt an der Geschichte selbst, denn zum einen gab es zur damaligen Zeit noch nicht die entsprechenden Informationen und zum anderen stand dieser Aspekt durchaus nicht im Vordergrund.


    EDIT: 6 von 10 Punkten


    Eine Sache rumort mir noch im Kopf herum, die ich lieber aber mal als Frage an die, die das Buch gelesen haben, in einen Spoiler verpacke

  • Zu Deiner Frage, SueTown. Ich hab es so verstanden:


  • Ich sehe das anders als geli.



    Er gab vor, es seiner Frau nicht zumuten zu wollen, weil er mitbekommen hatte, wie es mit seiner Schwester war. Aber ich hatte immer das Gefühl, ER wolle sich das in erster Linie nicht zumuten.

    Denn wenn man mitbekommt, wie sehr und wie lange Norah trauert... ich dachte mir immer: Norah hätte das gepackt. Aber ER nicht.

    Lieben Gruß,


    Batcat


    Ein Buch ist wie ein Garten, den man in der Tasche trägt (aus Arabien)

  • @geli Batcat :
    Und genau das ist es, was mir gefehlt hat. Hier hat es die Autorin meiner Meinung nach verpasst, die Beweggründe klarer darzustellen bzw. David anstatt Norah auch mal in den Vordergrund zu rücken.


    @Geli:

  • @ Sue Town


    Lieben Gruß,


    Batcat


    Ein Buch ist wie ein Garten, den man in der Tasche trägt (aus Arabien)


  • Hm... es sind doch noch einige Fragen für mich offen geblieben...


  • Letztendlich können wir aber nicht wissen, ob diese Gedanken und Gefühle nicht nach der ersten Freude doch noch kommen, dieses WARUM hat er mir das nur angetan. Und dann könnte selbst Jahre nach seinem Tod noch der Hass kommen.


    Letztendlich fand ich an diesem Buch so traurig, daß es eigentlich auch eine Art Bericht über verschenktes Leben war - "verschenktes Leben" in mehr als nur einer Hinsicht und auf mehr als nur einen Protagonisten bezogen.

    Lieben Gruß,


    Batcat


    Ein Buch ist wie ein Garten, den man in der Tasche trägt (aus Arabien)

  • Zitat

    Original von Idgie
    Das klingt, als müsste ich dieses Buch auch lesen. *seufz* Mein Tag braucht mehr Stunden!


    Idgie, das Buch könnte Dir wirklich gut gefallen. :-]


    Mehr Stunden könnte mein Tag im übrigen auch brauchen. *mitseufz*

    Lieben Gruß,


    Batcat


    Ein Buch ist wie ein Garten, den man in der Tasche trägt (aus Arabien)

  • @ Batcat: Ja, deinem ersten Spoiler kann ich zustimmen, das wird wohl der Heuptgrund gewesen sein und meine Vermutung nur das, was er sich selbst eingeredet hat, um sein Gewissen zu entlasten.


    Aber was ich mich frage, hat man wirklich immer das Gefühl, dass das Kind fehlt? Dass man eine dermaßen tiefe Trauer empfindet und eine Art Phantomschmerz? Ich hätte vermutet, dass es hin und wieder noch schmerzt, aber eben nicht über Jahre dermaßen intensiv, als wäre ihre Tochter erst letzte Woche verstorben. :gruebel Für das Buch war es ja nicht anders möglich, aber es kommt mir zu dick aufgetragen vor. Allerdings habe ich auch noch kein Kind verloren.