Originaltitel: The Speed of Dark (2002)
auf Deutsch erschienen: 2007
Verlag: dtv
Seiten: 456
Inhalt:
Dieser authentische und einfühlsame Roman nimmt Sie mit in die Seele eines jungen Autisten: Lou Arrendale bekommt die Möglichkeit, seinen Autismus "heilen" zu lassen und seine Persönlichkeit damit völlig zu verändern. Aber soll er das wirklich tun?
Mehr zum Inhalt unter "Meine Meinung".
Über die Autorin:
Elizabeth Moon ist eine starke Frau. Sie wurde 1945 in Texas geboren. Sie studierte Geschichte an der Rice University, diente drei Jahre im Marine Corps, studierte anschließend Biologie an der University of Texas in Austin und lebt heute in Florence, Texas. Sie ist die Mutter eines adoptierten, autistischen Kindes, und die Liebe zu ihrem Sohn spürt man in jeder Zeile dieses Romans.
Meine Meinung:
Auch wenn es nicht eindeutig scheint, in welche Schublade diese Geschichte zu stecken ist, ist sie zweifelsohne faszinierend. Zum einen ist sie spannend. Hinzu kommen utopische Elemente, die angesichts des medizinischen Fortschritts so utopisch wiederum gar nicht sind. Zum anderen ist es letztlich ein Roman über das Denken und Handeln eines autistischen Mannes, der sich seines 'Anderseins' - seiner Krankheit - sehr bewusst ist, damit zu kämpfen hat aber auch die Liebe zu sich selbst entdeckt.
Lou Arrendale ist um die 40 Jahre alt und ein Autist. Doch für ihn stellt dies kein allzu großes Problem mehr dar. Lou durfte während seiner Kindheit als eines der ersten autistischen Kindern an Behandlungsverfahren teilnehmen, die es ihm ermöglichen mit der Erkrankung so normal als möglich zu leben. Dies bedeutet nicht, dass er aufgrund dieser Schulungen und Lernprozesse nicht mehr autistisch ist, sondern, dass er frühzeitig gelernt hat sich anzupassen und zu deuten. Es bereitet ihm große Schwierigkeiten aus den Gesichtern und Gestiken der Menschen abzuleiten, was darin vorgeht, aber er kann es und ist anderen Autisten schon klar im Vorteil. Andererseits ist ihm dadurch jedoch auch schmerzlich bewusst, nicht so funktionieren zu können wie 'normale' Menschen, die beispielsweise ohne Probleme durch eine Polizeikontrolle am Flughafen kommen ohne in Panik auszubrechen und die Sprache zu verlieren.
Lou arbeitet in einem Forschungszentrum, in dem weitere autistische aber hoch begabte Menschen arbeiten, deren Gruppe eine eigene Abteilung bildet, mit der Aufgabe, komplizierte technische Muster zu erkennen und im Sinne des Unternehmens anzuwenden. Um den Autisten eine gerechte Arbeitsatmosphäre zu schaffen benötigen sie jedoch auch spezielle Einrichtungen wie eine Turnhalle zum Austoben, eine Küche oder auch eine Stereoanlage um sich bei Bedarf mit Musik zu beruhigen.
Als eines Tages ein neuer Vorgesetzter die Führung übernimmt und dieser keineswegs mit der Sonderbehandlung der autistischen Abteilung einverstanden ist, beginnt für Lou und seine Kollegen eine herausfordernde und schwierige Zeit. Denn Mr. Crenshaw möchte, dass alle Autisten sich einer Gehirnbehandlung unterziehen um 'normal' zu werden unter normalen Arbeitsbedingungen gleichbleibende Arbeitsqualität abzuliefern.
Romane um und mit Autisten sind für gewöhnlich amüsant und darauf angesetzt der Leserschaft die Welt eines solchen Menschen zu erklären. Nicht so hier. Diese Geschichte geht wesentlich weiter - sowohl zeitlich als auch qualitativ - und fordert eine Unmenge an Konzentration in besonderen Abschnitten. So ist es nicht immer 1:1 nachvollziehbar, wie Lou von der Geschwindikeit des Lichts auf die Geschwindigkeit des Dunkels kommt, oder inwiefern das menschliche Gehirn funktioniert. Interessant allemal, aber für Laien nicht immer auf Anhieb verständlich. Lous geniales Denken in Mustern aber, ist jederzeit ein- und erleuchtend!
Sehr detailiert und faszinierend jedoch ist die Gedankenwelt eines Autisten beschrieben. Wie schwer es solchen Menschen fällt zwischen - für uns eindeutig - gut und schlecht zu unterscheiden, warum sie nicht verstehen, dass sich normale Menschen ständig gegenseitig ausfragen anstatt zu sagen, was sie wollen und es sich somit unnötig kompliziert machen; warum Lou als Kind immer eingebläut bekommen hat, andere Menschen zu unterbrechen sei unhöflich und muss daher unterlassen werden, aber normale Menschen (die es doch besser wissen müssten, sind es doch schließlich ihre Regeln) ihn unterbrechen ohne es unhöflich zu finden; wie wichtig es für Autisten ist, einen geregelten Tages-, Wochen- und Jahresablauf zu haben, damit sie nicht aus der Bahn geworfen werden. Das alles ist sicherlich nicht neu, aber unglaublich lebensnah und tiefsinnig in eine Geschichte verpackt, die zum Nachdenken anregt und Verständnis schafft. Nicht selten stellt sich die Frage "Ja, warum eigentlich?". Nicht weniger selten erscheint es sinnvoller, so zu handeln, wie es ein Autist aus Selbstverständlichkeit heraus machen würde. Überaus gut ist es der Autorin auch gelungen, die Welt der Autisten untereinander darzustellen: sich nicht ansehen können, kein unnötiger Austausch von Höflichkeitsfloskeln oder sonstigen Worten, die Neigung eines jeden Autisten Symmetrien zu erstellen etc...
Weniger erfreulich ist die eher schwache Kritik, die die Autorin gegenüber der Thematik Forschung und Ethik anbringt. Ethische Zweifel normaler Menschen sind zwar spürbar vorhanden, in aller Deutlichkeit zur Sprache gebracht und ausgearbeitet werden sie nicht. In gewisser Weise bleibt letztlich eine unaufgeklärte und verwaschene Story übrig, die unbefriedigend abschließt. Natürlich mag dies völlig im Sinne der Autorin geschehen sein, für meinen persönlichen Geschmack aber ist sie schlichtweg zu unkritisch. Einzig die Hauptfigur selbst setzt sich sehr gründlich mit dem ethischen Problem (s)einer Behandlung auseinander und verdeutlicht, was Elizabeth Moon mit ihrer Geschichte und deren Verlauf bewirken möchte. Spannend ist die Entwicklung in der Tat, aber die Gefühlsebene in punto Forschungszwecke und die damit einhergende Auseinandersetzung mit der Frage der ethischen Verantwortung werden nur im geringen Maße erreicht. In dem Fall bedient sich die Autorin an klassischen Schubladenszenen (z.B. an deutlich machtgierigen Ärzten und Helden, die diesen Einhalt gebieten).
Trotz der "kritischen Schwäche" ist Die Geschwindigkeit des Dunkels ein überaus informativer, faszinierender und liebevoller Roman über die Welt eines Autisten, dessen Alltag und Gedankengänge in einem völlig neuen und klarem Licht dargestellt werden und somit tiefe Einsicht in selbige gewähren.
An viele Worte und Gedanken, wie beispielsweise:
ZitatSeite 410
"Fürchte die Veränderung und sie wird dich zerstören; heiße sie willkommen, und sie wird dich bereichern."
werde ich gerne zurück denken.
Zum Schluß bleibt die kleine Erleuchtung, dass alle Menschen ein bisschen autistisch sind bzw. vielleicht sind es nicht die Autisten, die nicht normal sind. Denn wer kann schon behaupten zu wissen, was normal eigentlich ist...