Für ganz eilige Leser von Rezis die Kurzfassung: Eines der besten Bücher, das ich je lesen durfte!! Große Literatur!!
Die Geschichte ist alt. Der Plot knapp zu erzählen. Aber, wie bei so vielen Geschichten, die in den Gegenden zwischen Mittelmeer und Euphrat, im Bereich zwischen Sinai und Kaukasus spielen, die Erzählung lebt von der Fabulierlust seines Autors, von Seitenpfaden, von blumigen Ausschmückungen, von den wunderbaren Momenten, in denen wir als Leser mit den Protagonisten nachsinnen dürfen.
Die gesamte Tetralogie erzählt die Geschichte vom wechselhaften Leben Josephs, der als der Sohn der geliebten Frau Jaakobs von seinem Vater geliebt, von seinen Brüdern verhaßt und schließlich als Sklave verkauft wird. Wir lesen von seinen Träumen und davon wie sie wahr werden, wie ihm schließlich „das Haupt erhoben wird“ und wie Joseph schließlich seinen Vater wieder sieht. Klassisch überliefert finden wir die Geschichte bei den Geschichten der Väter im Ersten Teil der Bibel, am Ende des Buches der Genesis (Kap. 27 – 50)
Thomas Mann eröffnet uns die hinter dem Erzählten liegende Welt, er macht sie erzählerisch neu lebendig. Das Erzähltempo ist eher langsam, wir nehmen uns die Zeit, in Ruhe zu schauen, zu betrachten, nachzusinnen und zu genießen. Handwerklich meisterliche und reiche, bildhafte Sprache zeichnen die Bände ebenso aus wie die grandiose Kunst, erzählerisch die Perspektiven genau so zu wählen, wie es dem erzählten Geschehen entspricht. Wir sehen so viel wie die Protagonisten, leiden und sinnieren dadurch mit ihnen. Auffällig ist, wie Mann quasi kongenial in die orientalische Erzähl- und Sprachwelt eintaucht und somit auch in dieser Hinsicht ganz eng am Stoff schreibt.
Bevor wir in die eigentliche Erzählung einsteigen dürfen, bevor wir uns als stille Begleiter mit den Protagonisten auf ihren Weg begeben dürfen, bevor wir die - nur der Literatur möglichen – wunderbare Reise in die vergangene Welt antreten dürfen um von da aus das zu erzählende als Zukunft zu empfinden, rüsten wir uns aus und genießen in einer Art Ouverture die Reisevorbereitungen. Thomas Mann gibt sich und uns Leseren in dem Vorspiel, er nennt es „Höllenfahrt“, Rechenschaft über das, was er tut. Wir begegnen einer andern Zeit, einer anderen Kultur, einer anderen Wahrheit. Wir schauen in den Brunnen der Vergangenheit, loten seine Tiefe aus, verorten uns in dieser Ebene, fragen nach Quellen, Erzählungen, Originalen, Haftpunkten für die die zeitliche Verortung. Wir norden uns ein, und lernen mit des Erzählers Blick auf vergangene Zukünftige zu blicken. Gleichzeitig zeigt uns Mann in diesem Prolog hilfreiche Denkwege auf, wie wir mit den biblischen Texten heute umgehen können. Wie sie uns als historische, als wichtige Texte, als religiöse Texte begegnen können: ein Meisterstück an Hermeneutik: würdigend, ohne vereinnahmen zu wollen (höchstens für die Geschichten als solche).
Die Geschichten, die wir im ersten Roman miterleben dürfen, sind die Geschichten Jaakobs, des Vaters. Thomas Mann begnügt sich nicht damit, kurz und bündig zu erklären, warum Joseph ein besonderes Verhältnis zu ihm hat, Mann erzählt es, er läßt es uns so vertraut werden, daß es uns völlig selbstverständlich erscheint: es kann gar nicht anders sein. Wir erlebenden Weg Jaakobs, wie er wurde, der er war, welche Unbill er auf dem Weg zu leiden hatte, wie ihm 13 Kinder geboren wurden, von denen doch nur einer der rechte war.
Es ist brillant, wie Mann diese Geschichte sowohl individuell als auch archetypisch zu erzählen vermag. Er greift damit erneut ein Stilmittel auf, daß sich vom Gegenstand der Erzählung her nahelegt: Jeder Lebensweg der Stammväter hat seine individuellen Züge, er hat aber auch immer die überindividuellen, typischen Züge, nach denen es irrelevant wird, ob nun Jaakob selbst etwas erlebte, oder ob es ihm Erlebnisse anderer typischer Weise zugeschrieben werden. So folgt Mann offenbar sehr bewußt dem Erzählstil der biblischen und außerbiblischen Vorlagen, denen dieser Stil immer wieder zueigen ist.
Facit: eine grandiose Reise in eine wunderbare, vergangene und doch immer wieder lebendige Welt.