OT: L’ombre chinoise
Dieser kurze Krimi - die ‚Maigrets’ sind mit ca. 160 Seiten meist unzeitgemäß kurz - stammt von 1932 und das merkt man tatsächlich kaum.
Es ist zehn Uhr abends, eine regnerische Novembernacht. Kommissar Maigret wird alarmiert, weil der Besitzer einer kleinen Firma von der Hauswartsfrau in seinem Büro tot aufgefunden wurde. Zudem sind Lohngelder aus dem Tresor verschwunden, ein Raubmord also, das scheint klar. Das Büro aber befindet sich im Hintergebäude eines großen Mietshauses. Ist ein fremder Täter von außen eingedrungen oder ist der Mörder von M. Couchet unter den Mietern des Hauses zu suchen? Schließlich wohnen dort nicht nur Couchets derzeitige Ehefrau, sondern auch seine geschiedene erste mit ihrem neuen Mann. Der Sohn aus erster Ehe kommt häufig zu Besuch und ist zugleich bekannt mit Couchets junger Geliebten Nina. Im Testament sind alle drei Frauen bedacht.
Aber auch die übrigen Mieter verhalten sich merkwürdig. Der vornehme Diplomat aus der Bel Etage wirkt übermäßig unruhig, die alte Mathilde, die zusammen mit ihrer geisteskranken Schwester in einer winzigen Ein-Zimmer-Wohnung haust, mehr als unfreundlich. Und dann ist da noch die Schattengestalt am Fenster gegenüber dem Büro, die offenbar gesehen hat, was sich in der Mordnacht abspielte.
Knapp, präzise und sehr pessimistisch schildert Simenon hier die Entdeckungsreise seines Helden in das Seelenleben eines Menschen, der am Ende zum Mörder wird und zwar an jemandem, der es im Leben eigentlich nur gutmeinte. Liebe, Geldgier, vertane Chancen, große Erwartungen und enttäuschte Hoffnungen wirken zusammen. Das Ende scheint unvermeidlich, das Leben ausweglos. Die traurig-kalte November-Atmosphäre, die jedes Licht zu schlucken scheint, paßt zum Thema.
Einer meiner Lieblinge unter den Maigrets.
Die ältere deutsche Übersetzung erschien unter dem Titel: Maigret und der Schatten am Fenster