Die kalten Wände, aus Stein erbaut, warfen das grelle Licht des Vollmondes nur schwach zurück. Tiefe Schatten durchzogen das Zwielicht mit Düsternis. Das ganze Schloss schien fest zu schlafen. Nur die hallenden Schritte des alten Herren waren leise zu hören. Er fand zielstrebig seinen Weg durch das unendliche Labyrinth des alten Gemäuers. Denn Turm im Osten hinauf, zum großen Balkon, wo er einst stand und die Schönheit seines Landes bewunderte. Die Sicht reichte weit hinweg übers Land bis zum weiten Meer.
Vor der klaren Glastür, die zum Balkon hinaus führte, blieb er noch einmal stehen. In der Scheibe spiegelte sich sein Gesicht wieder. Er war alt geworden, und sah noch älter aus. Sein einst Sonnengebräuntes Gesicht war Aschfahl geworden. Die Haut hing ihm nur noch wie altes Leder auf den glatten mageren Knochen. Die Wangenknochen drohten sich bereit langsam durch das faule Fleisch zu bohren. Zwei kränklich gerötete Augen lagen tief in den Höhlen und starrten ihn Mitleidig und Verachtend an. Nicht einmal er selbst konnte seinen Blick lange standhalten, und öffnete die Glastür mit einem kräftigen ruck.
Ein Wind heulte um ihn herum und zehrte an seinen Kleidern. Langsam, als würde er als großer König zum Thron schreiten, schlürfte er zur Brüstung. Der Vollmond kroch hinter einer kleinen Wolke hervor und erhellte den Platz wo er stand.
Mit denn schwachen Augen fixierte er die helle leuchtende Scheibe. Wie oft hatte er sich schon gewünscht, wie ein Vogel fliegen zu können. Denn Mond zu erreichen, dass er ihm gehöre.
Vorsichtig setzte er das eine Knie auf die niedrige Steinbrüstung, bevor er sich ganz hinauf zog. Schwankend, wie auf einem Schiff auf hoher See, stand er dort und starrte hinauf. Der Wind zehrte immer kräftiger an ihm, und wollte ihn in die Tiefe stürzen.
Aus der Dunkelheit des Schosses trat eine riesenhafte, dürre Gestallt. Ein pechschwarzer Umhang verhüllte ihr Antlitz. Nur die Schritte des Fremden waren zu vernehmen. Sie klangen wie Knochen auf nacktem Stein. Erschreckt über diesen plötzlichen Besuch drehte sich der alte Herr um. Doch als er ihn erkannte, wunderte es ihn nicht, dass ER gekommen war. Das Ende Allens Seins. Ihm war es gleich, denn er wusste dass er gerufen wurde. Er empfand weder Angst noch Verzweiflung. So gut fühlte er sich schon lange nicht mehr.
Mit einem seltsam beruhigten Gefühl, das er nicht alleine war, drehte er sich wieder zur klaren Scheibe des Mondes um. Er glaubte sogar dass der Mond noch heller schien wie zuvor. Es wurde Zeit.
"So schön." murmelte der Alte und streckte gierig die Hand nach dem Mond aus. Er wollte ihn Berühren, sich zu ihm hinauf ziehen. Doch war er zu weit entfernt.
Die Fremde Gestallt griff unter seinem Umhang und holte eine kleine Standuhr hervor. Doch war dies keine gewöhnliche, denn sie zeigte an wie lang ein Mensch noch zu leben hatte. Der Sand in der Oberen hälfte war fast vollständig hindurch gelaufen.
"Der Mond, er ruft mich." schallte die Stimme des alten Herrn durch das Gemäuer. "Ich komme." schrie er laut. Wie in einer Art Tross machte er einen Schritt nach vorn, zum Vollmond hin. Doch war dort kein halt mehr für ihn, sondern nur die unendliche Finsternis der Tiefe. Zu spät erkannte er seinen Fehler und stürzte mit wild um sich schlagenden Armen in die Tiefe. Wie ein Vogel wollte er fliegen, doch war er noch nicht flügge und stürze mit einem lautem schrei. Der dumpfe Aufprall seines Körpers war das letzte was zu hören war.
Die knochigen hallenden Schritte des Fremden schalten noch tief in den leeren Gängen des Schlosses nach. Seine Aufgabe war erledigt. Hier gab es, im Moment, nichts mehr für ihn zu tun.
(19.3.04)