Der Autor
Charles Lewinsky, geboren 1946, lebt in Zürich und Frankreich. Er arbeitet als Dramaturg, Regisseur und Redaktor, seit 1980 als freier Autor. Er schreibt Romane und Theaterstücke und ist der Autor vieler erfolgreicher Fernsehsendungen. Für seinen Roman Johannistag (2002) erhielt er den Preis der Schweizerischen Schillerstiftung. Zuletzt erschien das Drehbuch zum Kinofilm Ein ganz gewöhnlicher Jude (2005)
Die Geschichte (Klappentext)
1871 ist im Judendorf Endingen die Welt für die Familie Meijer klein, aber heil. Bis Janki auftaucht, aus der französischen Armee entflohen und fest zum Erfolg entschlossen. Ein Jahr später hat er eine Braut und einen Stoffladen in Baden - beides nicht ohne Widerstand erobert.
1893 zwingt der Kampf um das Schächtverbot die Schweizer Judenschaft in eine Außenseiterrolle und kostet den Metzger Pinchas seinen Beruf. Auch der dritten Generation erfüllt selbst die Taufe noch nicht den Traum von der Akzeptanz und vom schönsten Warenhaus der Stadt Zürich. Nicht einmal eine große Liebe bringt den Meijers das lang ersehnte Glück, denn 1914 erinnert sie der Weltkrieg schmerzhaft daran, dass sie immer noch keinen Schweizer Pass besitzen. Und 1937, als die jüdische Welt aus den Fugen gerät, lebt einer von ihnen in Deutschland und meint, dort auch bleiben zu können. Dabei haben sie doch Glück gehabt, die Meijers, das Glück, Schweizer Juden zu sein. Nur glücklich hat man sie nicht werden lassen.
Meine Meinung
Ich habe die Club-Ausgabe gelesen, die durch den Treue-Preis doch deutlich preiswerter war als die Buchhandelsausgabe. Die eigentliche Geschichte wird ergänzt durch einen Stammbaum und ein jiddisch-deutsches Glossar.
Der Einstieg in den 774-Seiten-Wälzer gestaltete sich für mich recht schwierig.
Immer, wenn er gestorben war, kam er wieder zurück. So eigenartig, wie dieser erste Satz anmutet, fängt die Geschichte an. Sie beginnt mit einer Beerdigung und macht den Leser mit Onkel Melnitz, dem Namensgeber des Romans, bekannt. Wer dieser Melnitz eigentlich ist, verrät Lewinsky erst am Ende der Geschichte.
Lässt man diese merkwürdige Einleitung hinter sich, beginnt die eigentliche Familiensaga.
Das Buch ist in fünf Abschnitte eingeteilt, die jeweils ein Schlaglicht auf ein Jahr setzen: 1871, 1893, 1913, 1937 und 1945.
Geschrieben ist der Roman als Sammlung von Episoden aus dem Leben der Meijer-Sippe, die mal mehr, mal weniger interessant sind.
So gibt es interessante Einblicke in die jüdische Gedankenwelt und die jüdischen Traditionen zu erfahren. Diesen Einblicken ist abzuspüren, dass sie authentisch sind und nicht irgendwo angelesen. Man fühlt sich fast als Teil der Sippe und leidet und freut sich mit ihnen mit.
Zwischendurch gibt es fast philosophisch anmutende Gedanken, z.B. als ein (ehemaliger) Rabbi den Fleischer Pinkas von der vermeintlichen Nicht-Existenz Gottes überzeugen will.
Auch die zynisch-sachlich getroffene Entscheidung von Francois, zum Christentum zu konvertieren, regt zum Nachdenken an, wenn man sich darauf einlassen will.
Leider gibt es phasenweise Längen, die den Spass am Lesen verderben. Eine Kürzung hätte dem Roman gut getan.
Auf die (Beschreibung der ) Liebschaft zwischen Alfred und Désirée hätte ich verzichten können. Das gleiche gilt für die homoerotischen Erfahrungen von Arthur, die mich regelrecht geärgert haben, weil sie weder in ihrer Entstehung begründet wurden, noch Folgen für die weitere Entwicklung der Figur hatten.
Die vielfach gelobte, blumige Sprache fand ich stellenweise anstrengend. Die vielen Metaphern haben manchmal den Lesefluss arg gehemmt, vor allem, wenn sie haarscharf danebengingen ("Er spürte die Kälte wie ein Brandeisen").
Stellenweise ist der Roman sehr emotional. Als Alfred gestorben ist, bittet sein mit ihm zusammen zum Christentum konvertierter Vater am Grab seinen Onkel, das Kaddisch, das jüdische Totengebet, zu sprechen. Diese Szene war für mich der traurige Höhepunkt des ganzen Kapitels und hat mich fast zu Tränen gerührt.
Und dann schafft es Lewinsky, noch einen draufzusetzen. Wenn der Leser sowieso schon einen emotionalen Tiefpunkt erreicht hat, muss er gleich zu Beginn des nächsten Kapitels (über 20 Jahre später) die ehemals starke Chanele als senile, Alzheimer-geplagte Insassin eines jüdischen Altersheims erleben. Vielleicht berührt einen diese Szene auch nur so, weil man sich selbst unwillkürlich fragt, ob man auch so enden wird. Und so melancholisch geht es dann weiter.
Die letzte Epoche - 1945 - wird kurz und knapp auf 10 Seiten von Melnitz geschildert, oder besser gesagt assoziiert. Das letzte Kapitel wirkt irgendwie deplaciert und passt nicht nur stilistisch überhaupt nicht zu den vorhergehenden.
Wer ist dieser Melnitz nun? Ein Symbol für den Tod? Für das Böse? Ein Stellvertreter aller jemals umgebrachten Juden? Es hat sich mir nicht erschlossen.
Mein Fazit
Obwohl ich mich das Judentum als Kultur und Religion interessieren, war ich manchmal überfordert. Vielleicht hat Lewinsky einfach zu viel in seine Geschichte hineingepackt. So musste der Besuch eines (christlichen) Mitschülers bei der jüdischen Familie seines Kommilitonen als Rahmen dafür herhalten, dem Leser auch noch den „Peel-Plan“ näherzubringen. Das war mir ein bisschen viel.
Schade ist auch der Bruch beim letzten Kapitel. Es hinterlässt einen verwirrten Leser und diese Verwirrung lässt leicht die guten Teile davor übersehen. Auch die Figur des Melnitz hätte Lewinsky sich sparen können, sie bereichert den Roman nicht, sondern gibt ihm eher die Fiktion des phantastischen, märchenhaften. Das hat die erzählte Geschichte aber nicht verdient!
Sieht man über die phasenweisen Längen hinweg und hält bis zum Ende durch, ist man durch das Buch bereichert. Ich gebe zu, dass ich den Roman nach zwei Dritteln zur Seite legen wollte.
Ich bin froh, dass ich es nicht getan habe.
Grüsse
Depardieu